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Als das Ehepaar sich entkleidet hatte und im Begriff war, die Nachtgewänder anzulegen, sagte die Bürgermeisterin:

»Du, Theodor, du musst mit niemand über diese Geschichte mit den Orchideen reden; es ist besser, wenn sie je eher, je lieber in Vergessenheit gerät ... Und das ist ja auch für den Zollkontrolleur das beste.«

»Wie du willst ... Gute Nacht!«

»Gute Nacht, lieber Theodor! ... Ich will das Licht schon auslöschen.«

 

Nach einer Weile ertönten draussen auf dem Wege Schritte. Es war der Zöllner Knagsted. Er zog es vor, aus Gesellschaften nach Hause zu gehen ... »das Gequatsche wegtraben« nannte er es.

»Hast du die Anschlagzettel noch nicht gesehen?«

»Nein; ich rühre mich ja in dieser Zeit ungern, wie du weisst. Sind sie schon angekleistert?«

»Ja; und da steht sie mit grossen, roten Buchstaben: Mademoiselle Magei als Gast!«

»Und das ist die Pastorin?«

»Das ist die Pastorin, ja,« nickte die Elster, »so hat ihr Vater geheissen. Und Pastor Sörensen und die Tochter sind, soviel ich weiss, heut morgen ausgeritzt, um sie nicht von Angesicht zu Angesicht zu sehen, wie er selbst sagt.«

Madam Svendsen, oder wie sie jetzt hiess, aber nie genannt wurde: Madam Terkildsen, faltete die Hände über ihrem ungeheuren Bauch (sie war hochschwanger) und sagte: »Wie ich ihm das gönne, diesem Pastor Sörensen; er war ja geradezu unverschämt, als ich und Terkildsen bei ihm waren, um das Aufgebot zu bestellen.«

»Hast du ihm nich seine eigene Geschichte mit der Frau unter die Nase gerieben, als Alvilda unter Kriminell war?«

»Ne ... man soll ja Achtung vor der Geistlichkeit haben ...«

»Ja, und das machen sie sich zunutze.«

Die Damen sassen in einer Ecke des Schenklokals »Das kalte Bein«. Es war jetzt zu herbstlich, um sich im Garten aufzuhalten. Der lag leer und öde da. Die Schaukel war heruntergenommen und weggelegt. Die Prahlbohnen an der Laube waren verwelkt ...

»Morgen wird das Zelt aufgeschlagen,« fuhr Rikke fort. »Und Freitag ist Premiere. Was der Baron für einen Besuch kriegt! All die teuren Plätze sind schon bei Buchhändler Ingerslev ausverkauft, sagen sie.«

»Kannst du mir nich den Strumpf geben, der da auf dem Tisch liegt, Rikke ...«

Rikke hinkte hin und holte den Strumpf:

»Ist der für Bernhard? Ne, was für Puppenfüsse, hack, hack ...«

Madam Svendsen hatte also ihren Pikkolo geheiratet. Sie war gut vierzig Jahre alt; er neunzehn und ein halbes.

Auf irgendeine Weise war sie schwanger geworden, halte ihren Kellner als Vater des Kindes angegeben und ihn geheiratet.

Diese Ehe hatte Eisenhändler Fredriksen und Bierbrauer Sandberg je zweitausend Kronen gekostet.

Aber der Pikkolo ging nach wie vor klein, klug und fürsorglich im Geschäft umher; und es war keine weitere Veränderung in dem Verhältnis zwischen ihm und seiner Herrin zu merken, als dass sie du zueinander sagten und sie ihn Terkildsen nannte.

Machte jemand einen Witz über die Ehe, so lächelte er nur.

»Das ist doch wahrhaftig Vielweiberei, Bernhard,« grinsten die Gäste. »Du solltest einen Teil von ihr zu Schrebergärten vermieten!«

Aber Bernhard liess sie grinsen. Das hatte wohl einmal ein Ende. Er sass solide und geborgen als Wirt im Lokal. Und viele beneideten ihn ...

»Wie geht es mit Hundertundelf?« fragte die Elster.

Madam Marthe sandte ihr einen wütenden Blick zu:

»Gut ... Glaubst du, dass ich ihn sonst hier behielte?«

»Trinkt er noch immer ebenso schlimm?«

»Was schert dich das? Geht dir dadurch was ab?«

»Ne ...«

Es war Madam Svendsens wunder Punkt, dass ihr Knirps von Mann es durchgesetzt hatte, den Grossvater zu sich ins Haus zu nehmen. Dem Alten war eine kleine Hinterkammer eingeräumt, und er erhielt Kost und Reinlichkeit, wofür er Hof und Strasse fegen, tünchen, malen und nach besten Kräften Tischlerarbeit verrichten musste.

Und Hundertundelf war rührend dankbar. Man erzählte sogar, er habe in seiner Freude versucht, das Trinken nachzulassen. Aber das ging wohl über sein Vermögen ...

»Wie ist eigentlich das Geburtstagsfest neulich bei Konsuls verlaufen?« fragte Marthe.

»Hm–ja!« krächzte die Elster. »Er, dieser Reichstagsabgeordnete, den sie aus der Hauptstadt hatten herübertransportieren lassen, soll sich ja fürchterlich besoffen haben. Man erzählt, vier Mann hätten ihn in den Wagen tragen und nach dem Hotel fahren müssen ... Acht Stubenmädchen hatten sie zum Aufwarten, mit Handschuhen!«

» Acht...!«

»Sie sagen, zur Belustigung für die Herren.«

»Ja, wenn die Mannsleute erst was in den Gläsern haben, denn ... Sie könnten sich ja übrigens an ihre eigenen halten!«

»Nein, das is nich Mode in den Kreisen ...« Rikke schielte zu der Freundin hinüber. »Eisenhändler Fredriksen und Bierbrauer Sandberg waren auch da.«

»So?« Marthe sah ganz uninteressiert aus. Der Pfeil hatte seine Wirkung verfehlt.

»Er soll ja den Kammerherrn und den Bürgermeister und den Stiftspropst beleidigt haben.«

»Wer?«

»Er, der Reichstagsabgeordnete.«

»Ja, jetzt regieren die Bauern nun einmal; und wozu sollten sie sonst auch wohl ihre Macht gebrauchen. Die Grossen haben sie ja ihrer Zeit genug kujoniert.«

»Hm – ja! Hack, hack! Die Geschichte mit der Bürgermeisterin und dem Stier vom Kammerherrn hast du doch gehört?«

»Ja, ha, ha, ha! Dass er ihr ein Horn reingejagt hat!«

»Und sie quer durch die ganze Stadt und auf den Markt getragen hat! Hack, hack!«

»Ich mein', ich hab' gehört, der Förster wär' dagewesen?« »Ja, nu is die Konsulin ja nach ihm aus.«

»Was sagt sie denn dazu, ›Michaela‹!«

»Ja und die Pastorin, die nu herkommt!«

»Die werden sich wohl in die Haare geraten!«

»Hack, hack! Ja, das werden sie wohl tun!«

Marthe konnte im innersten Innern ihres Fleisches ihre liebe Freundin eigentlich gar nicht ausstehen. Aber es war ihr auch nicht möglich, ohne sie fertig zu werden. Rikke wusste immer so viele herrliche Neuigkeiten ...

Die Tür nach dem Hof wurde geräuschlos ein wenig geöffnet. Hundertundelf guckte herein, die Priemjauche floss ihm dreisträngig über das Kinn herab:

»Ist Bernhard hier?« fragte er.

»Nein!« sagte die Madam kurz.

»Na...«

Die Tür schloss sich lautlos wieder. Hundertundelf verschwand. Rikke sah ihm nach:

»War das ein gut gewachsener Kerl, seinerzeit!« sagte sie.

»Das musst du ja wissen!« höhnte die Freundin.

Die Fabrikpfeifen pfiffen zwölf.

»Jo–se–fi–ne!« rief die Madam. »Ja–h ...« schrie es aus der Küche heraus.

»Die Uhr is zwölf!«

»Das weiss ich selbst!«

»Denn muss ich wohl machen, dass ich wegkomm...!« versuchte die Elster zaghaft, in der Hoffnung, dass eine Einladung zum Mittagessen erfolgen würde.

»Ja, das musst du wohl ... Solltest du Terkildsen zufällig sehen, dann sag ihm, er sollt' sich sputen; nu kommen die Gäste, die hier Mittag essen.«

Rikke nahm die Krücke unter den Arm und stakte sich enttäuscht durch das Lokal von dannen:

»Adieu!«

»Adieu! ... Und vergiss auch nich das mit Terkildsen!«

Marthe wandte nicht einmal die Spitze ihrer Nase nach der Freundin um.

»Die fette Sau ...!« murmelte die Elster und schlug die Glastür klirrend hinter sich zu.

 

Vor dem Zelt hingen zwei milchweisse, elektrische Kuppeln. Die schwankten im Oktobersturm und schimmerten matt; drohten zuweilen ganz zu ersterben, nahmen sich aber dann mit einem Aufflackern zusammen und kehrten ins Leben zurück ...

Das Publikum strömte herein. Das Haus war ausverkauft.

Selbst Madam Svendsen war in ihrem ganzen Umfang erschienen. Gross und schwanger sass sie in der ersten Reihe mitten vor dem Eingang. Und so neckisch hatten die Götter – oder Buchhändler Ingerslev? – es eingerichtet, dass zu ihren beiden Seiten rechts Eisenhändler Fredriksen und links Bierbrauer Sandberg sassen.

Im übrigen war die »ganze Stadt« anwesend, um ihre ehemalige Pastorin zu Pferde auftreten zu sehen. Den Skandal wollte man sich doch nicht entgehen lassen. So ein Unterhaltungsstoff!

Selbst der alte P.A. Birk mit Kanone und Haushälterin hatte sich eingefunden ...

»Du grosser Gott!« sagte die Maklerin Blom. »Du grosser Gott!«

»Dass der Bürgermeister das nicht verboten hat!« sagte die Konsulin Wäver.

»Mein Mann wollte es verbieten!« erklärte Bürgermeisterin Rosenbaum. » Aber er konnte es nicht. Es gibt keinen Paragraphen!«

»Nein!« sagte die Spiel-Plockros, »etwas so Undenkbares ist noch nie vorgesehen worden!«

Die Musik stimmte an. Horn und Trommel.

Die erste Nummer war der Baron-Direktor, der die Hohe Schule ritt. Lang, klapperdürr – eine Knochensammlung in schwarz und weiss – sass er bleich und gepudert auf seinem kostbaren Ross. Aber er ritt vorzüglich. Sass wie eine Statue im Sattel und leitete den Tanz des Pferdes durch unsichtbare Bewegungen von Hand und Knie.

»Bravo! Bravo!« wurde gerufen. »Bravo! Bravo!« ... Und man klatschte.

Und er beugte vornehm den adeligen Rassekopf, während er mit der spielenden Reitpeitsche unter dem brausenden Beifall des Publikums sein Pferd in die Knie zwang.

Die nächste Nummer: » Der beflügelte Reiter« wurde von den beiden weltberühmten Clowns, Gustav und Leopold, ausgeführt. Leopold trug, an den Schultern befestigt, zween weisse, silberschimmernde Pappflügel. Er kletterte auf Gustavs Rücken und ritt feierlich mehrmals in der Manege herum, während er mit grosser Fingergeschicklichkeit seines Lehrmeisters (und vieler anderer) Tricks und Volten nachahmte. – Bis schliesslich Gustav des Spiels überdrüssig wurde und hinten ausschlug, so dass Leopold abfiel und die Flügel brach ...

Wir lassen ihn liegen ...

Die dritte Nummer waren einige japanische Jongleure (in Vejle geboren), die sich selbst wie auch das Publikum zu langweilen schienen ...

Man wartete ungeduldig auf den Clou des Abends:

Die Flucht der Sylphide.
Geritten von
Mademoiselle Magei als Gast.

So gespannt war man auf die Begebenheit, dass Nummer vier, zwei ältere Damen und ein jüngerer Herr am Trapez, beinahe ausgezischt wären.

Endlich war der Augenblick da.

Es wurde totenstill in der Versammlung. Die Musik spielte einen träumerischen, ruhigen Walzer. Der Vorhang vor dem Künstlereingang wurde zurückgezogen, und die Pastorin ritt herein, in fleischfarbigem Trikot und paillettenbesetzten Florröcken, auf einem milchweissen Passgänger unbestimmbaren Alters. Sie stand auf einem breiten, goldgestickten Sattel und hielt sich krampfhaft fest an einem Paar stark verschossener Purpurzügel.

Keine Hand rührte sich unter den Zuschauern, stumm sassen sie da, boshaft, abwartend ...

Mademoiselle Magei neigte grüssend den Kopf und lächelte hilflos, als flehe sie um Schonung. Das Haar, das hell champagnergelb gefärbt war, umwogte zwanglos die entblössten Schultern; und um ihre Stirn lag ein Kranz von rosa Stoffrosen. Gemalt und geschminkt war sie zum Übermass. Aber so rührend sah sie aus in ihrer Verzagtheit, dass die männlichen Zuschauer ringsumher auf ihren Plätzen gern applaudiert und Bravo gerufen hätten, wenn sie es vor ihren Bräuten und Frauen gewagt hätten.

»Und sie hat in unsern Stuben verkehrt!« flüsterte die Bürgermeisterin.

»Sie hat sehr verloren!« bemerkte die Plockros mit Wonne.

»Still!« sagte die Konsulin. »Jetzt soll sie tanzen!«

Die Musik wurde lebhafter. Der Baron trat vor und knallte mit seiner langen Peitsche. Es klang wie Pistolenschüsse. Der Milchweisse ging in einen hinkenden, gichtschwachen Galopp über. Und Frau Alvilda Sörensen, geb. Magei, hub an zu tanzen ...

Unter den Zuschauern aber war ein Mann, der halbverborgen auf einer der hintersten Reihen gesessen hatte, der stand auf und schlich hinaus.

Es war der Zollkontrolleur Knagsted ...

Und doch sollte Mademoiselle noch über blumengeschmückte Girlanden und durch brennende Tonnenreifen springen ... um dann schliesslich von dem Jockei Monsieur Alfredo eingefangen zu werden.


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