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Die Frühstücksglocke hatte geschellt. Alle waren im Esszimmer versammelt.

Selbst die Dohle Mirja war zugegen. Sie sass neben ihrem Fressen auf der steinernen Treppe vor der offenen Flügeltür nach dem Garten hinaus ...

»Ist das der Bräutigam?« fragte Knagsted und zeigte auf einen fremden Knaben, der zwischen die Kinder des Hauses am untersten Ende des Tisches placiert war.

Hanne errötete, kicherte und versteckte ihr Gesicht.

»Ja, das ist Knud ...« lächelte Frau Sonja, »er und Hanne gehen in dieselbe Klasse und helfen einander bei den Schularbeiten ...«

»Das heisst, Knud hilft Hanne!« sagte Erich.

»Er ist ja auch ein Junge ...!« nickte die kleine Else.

Hother sagte nichts, lächelte nur abwesend, wenn einer der Erwachsenen ihn ansah. Seine Gedanken schienen anderswo beschäftigt zu sein. Seine Augen waren traurig und müde.

Alle Kinder trugen Anzüge aus Kadettenleinen und Sandalen. Nur Knud war »sittlicher« gekleidet, er trug Schuhe und Strümpfe.

Man war an das Ende der Mahlzeit gelangt. Die Erwachsenen tranken Kaffee, die Kinder Milch und Kakao.

»Sagen Sie mir doch, Herr Knagsted,« fragte die alte Frau Neumann, »warum sieht man Sie und Jochum eigentlich nie zusammen?«

»Weil wir in einem freien Verhältnis leben, liebe gnädige Frau,« sagte der Zöllner. »Wir genieren einander nicht gern; und ausserdem hat Jochum so viele Freunde.«

»Sagen wir lieber Freundinnen!« lachte der Maler.

»Ich sehe ihn oft, wenn ich des Morgens ausfahre, draussen vor der Tür seiner Geliebten sitzen; und wenn ich nach Hause fahre, sitzt er da noch.«

»Ja,« nickte Knagsted, »er ist eine treue Natur so wie sein hoher Namensvetter.«

»Wer ist denn das?«

»Darf ich nicht sagen ... Aber er ist verstorben.«

Frank Neumann lachte:

»Hat er seinen Namen von ...?«

»Ja ... Aber das haben Sie gesagt, mein Herr, nicht ich.«

»Zöllner! Zöllner!« drohte Frau Sonja, »hüten Sie Ihre Zunge.«

»Das tu' ich ja gerade ...« sagte der Zöllner.

Frau Sonja wandte sich lachend an die Kinder, die miteinander plaudernd dagesessen hatten:

»Seid ihr fertig?« fragte sie. »Es fehlen nur noch zehn Minuten. Macht, dass ihr fortkommt!«

Hother, Hanne und Knud standen schnell vom Tische auf. Mit einem »Gesegnete Mahlzeit« eilten sie zur Tür hinaus und die Gartentreppe hinab.

»Mirja! Mirja! Willst du mit?« rief Hanne.

»Tja–a ...« gurgelte die Dohle auf dem Boden ihrer Schüssel.

Die Kinder sprangen auf ihre Räder und jagten durch den Garten davon. Die grossen gingen in die Lateinschule und hatten gerade so viel Zeit, um in der Mittagspause nach Hause zu kommen.

Erich und Else dahingegen waren noch in der »Vorbereitungsklasse«, und heute hatten sie obendrein frei, da »das Fräulein« krank war.

»Mirja! Mirja! Kommst du?« ertönte Hannes Stimme aus der Ferne.

»Tja–a ...!« schrie der Vogel, der beschäftigt war, Fleisch von einem Knochen zu nagen, von dem er sich ungern trennte. Aber dann nahm er schnell entschlossen den Knochen in den Schnabel und flog den Kindern nach.

»Das ist ein schwülstiger Vogel!« sagte Erich und sah ihm bewundernd nach.

»Onkel Zöllner,« sagte er dann, »weisst du, was das Fräulein gestern in der Stunde erzählt hat?«

»Nein ...?« »Sie hat uns erzählt, in alten Zeiten hätten die Menschen geglaubt, der Mond und die Sterne wären Löcher im Himmel, durch die das Feuer durchschiene!«

»Ja, aber verhält es sich denn nicht so?« fragte Knagsted höchst unschuldig.

»Nein!« Der Junge sah imponierend wichtig aus. »Es sind ja doch Himmelskörper, die rund im Äther herumschweben! ... Sie sind in alten Zeiten doch schrecklich dumm gewesen!«

Else war auf den Schoss des Zöllners gekrochen:

»Was für schnurrige Haarbüschel da aus deinen Ohren rausgucken, Onkel Zöllner!«

»Darin wische ich meine Federn aus, wenn ich schreibe.«

»Solche hat Vater gar nich!«

»Nein ... aber Vater ist ja auch nur ein Maler!«

»Macht jetzt, dass ihr auf den Spielplatz kommt, Kinder ...!« nickte Frau Sonja.

»Dürfen wir die Kleider abwerfen, dann können wir viel besser spielen.«

»Ja ... aber lasst euch von Olga helfen.«

Erich lief zu der Mutter hin:

»Wollen wir uns nicht erst küssen, Sonja?« fragte er.

»Ja gern! ...« Frau Sonja hob ihn zu sich hinauf und küsste ihn.

»Miro, miro, miro ...« winselte Knagsted, »warum haben Sie mich nicht vorhin draussen im Garten auch so in die Höhe gehoben ... miro, miro, miro ...!« (Dies war Erichs kleine private Art zu weinen, wenn etwas nicht nach seinem Willen ging.)

Der Junge liess sich schnell von dem Schosse der Mutter gleiten und trat mit geballten Händen vor Knagsted hin:

»Willst du dich lustig über mich machen?«

»Miro, miro, miro ...« winselte Knagsted.

»Hilf mir, Else ...!« kommandierte Erich.

Und die Kinder fuhren auf den Zöllner los und droschen auf ihn ein, so dass er fliehen musste.

»Miro, miro, miro ...« weinte er, »ich sag' es an Thorwald, wenn ich nach Hause komme, dass ihr mich geschlagen habt ...!«

Die Rangen lachten, so dass ihre kleinen Bäuche hüpften und ihre Mausezähne blitzten ...

»Und Sie wollen mir einbilden, dass Sie keine Kinder leiden können ...« sagte die alte Dame.

»Ja, ich kann sie nicht ausstehen ...« beteuerte Knagsted.

 

Am 5. August um siebeneinhalb Uhr morgens rollt Jahr für Jahr der vornehmste Landauer der Stadt (der mit den Gummirädern und den Schellen) vor die Tür des jeweiligen Vogelkönigs, um ihn nach dem Festplatz der »Vogelschussgesellschaft von Söby und Umgegend« abzuholen.

Im Wagen sitzt der vieljährige Präsident der Gesellschaft, Schornsteinfegermeister Svarte, in Frack, weissem Schlips, Zylinder und rauchfarbenen Handschuhen.

Se. Majestät der Vogelkönig, ebenfalls in Gala, und mit der Königskette um den Hals, nimmt Platz an seiner Seite.

Auf dem Kirchenplatz schliesst sich eine Reihe von Kremsern dem Landauer an. Dies sind die Schützen. Und mit einem Hornorchester an der Spitze setzt sich der Zug unter heftigen Klängen des Liedes: »Flachland, schönste Flur und Wiese ...« in Bewegung, die Landstrasse entlang bis an den Schiesspavillon im Westermarker Walde.

Es war im vergangenen Jahr der Vorschlag gemacht worden, den Vogelkönig im Automobil abholen zu lassen (die Stadt hat deren drei). Aber dieser Vorschlag war glatt abgelehnt mit allen Stimmen gegen die des Antragenden, die dem pietätlosen Redakteur des radikalen Blattes gehörte.

Auf dem Schützenplatz angelangt, ballert man von neun bis elfeinhalb auf einen geborstenen Papagei los, der auf einer hohen Stange sitzt und spinatgrün in der Morgensonne leuchtet.

Um zwölf Uhr wird Frühstück gegessen, gratis und ohne Damen, weswegen die Beteiligung in der Regel überwältigend ist.

Um zwei Uhr wird wieder losgeballert.

Um siebeneinviertel Uhr wird das Mittagessen eingenommen: Suppe, Fisch, Braten und Kuchen; 2 Kr. 50 das Kuvert; Bier und Wein nicht einbegriffen.

An dieser Mahlzeit nehmen Frauen und konfirmierte Kinder beiderlei Geschlechts teil.

Darauf Tanz im Saal bis zwei Uhr ...

Der Tag des Vogelschiessens war einer der vornehmsten Festtage für Söby.

Oder vielmehr: war es gewesen.

Es galt nämlich nicht mehr für »fein«, Mitglied des Vereins zu sein. Die Honoratioren hatten sich zurückgezogen. Was wahrscheinlich einer der Gründe war, weswegen sich die übriggebliebenen Mitglieder um so besser amüsierten ...

Nur einer von den grössten Steuerzahlern der Stadt war durch alle Jahre hindurch treu geblieben: der alte Kaufmann P. A. Birk.

Wie auch das Wetter sein mochte, und selbst wenn ihn die Gicht noch so sehr plagte, stellte er sich mit Kanone und Haushälterin ein, jedenfalls zum Mittagessen.

Er war das einzige Ehrenmitglied der Gesellschaft und sass als solches am oberen Tischende neben dem Präsidenten.

In seiner frühsten Jugend hatte P. A. Birk an den beiden letzten Kriegen Flachlands teilgenommen, an dem sogenannten glücklichen und dem weniger glücklichen. Der letztere war indessen bei ihm völlig in Vergessenheit geraten; und indem er sich nur des ersten erinnerte, konnte er, während er bei Suppe, Fisch und Braten sass, plötzlich und spontan in eine Kriegs- und Vaterlandshymne aus jenen glorreichen Tagen ausbrechen. Die Stimme hatte er gewissermassen verloren, aber die Begeisterung hatte sich erhalten. Er stimmte mit einem unartikulierten Gebrüll an, das plötzlich jedes Gespräch ringsumher verstummen machte. Aber wenn die Brüder sich besonnen und die Melodie und den Sinn aufgefasst hatten, nahmen sie das Stichwort auf und setzten den Gesang mit Feurigkeit fort.

Und da verklärte sich das Bullenbeissergesicht des alten P. A. wunderbar. Er griff nach seinem Gucker, seinem Löffel, Messer oder Gabel, und während er mit diesem Gerät wild den Takt schlug, leuchtete sein Seh-Auge kriegerisch bei dem Gedanken an die stolze Vergangenheit seines Geburtslandes.

Und nie kam es einem der Brüder in den Sinn, eine Anspielung auf jene weniger siegreiche Angelegenheit zu machen, oder auch nur zu lächeln.

Vielleicht fand man, dass es Unrecht gegen den Alten gewesen wäre – oder vielleicht hatte man selbst auch wirklich in diesem Augenblick dies böse Geschehnis gänzlich vergessen ...

Suppe, Fisch, Braten und Kuchen kann ja zuweilen gleichsam ein Balsam für die Seele sein.

Denn die Götter schlagen wohl, aber sie spenden wahrlich auch Heilung.

 

Heute war das zweihundertjährige Fest der Schützengesellschaft ...

Man sass beim Frühstück: Schüssel mit Gesalzenem und Geräuchertem, Brot und Butter, Käse, Bier, Schnaps und Kaffee.

Der lange, hufeisenförmige Tisch durch den ganzen Saal war gedrängt besetzt mit hungernden Schützenbrüdern.

Rings umher, von den weissgetünchten Wänden leuchteten die gemalten Scheiben herab, die eine Illustration zu der Geschichte Söbys in den zween verflossenen Jahrhunderten bildeten.

Der diesjährige Vogelkönig, Schneidermeister Bügel, setzte sich bleich nieder, nachdem er an den kürzlich verstorbenen Landesvater, Jochum den Achtzehnten, erinnert und ein warmes Hoch auf den jungen hoffnungsvollen Fürsten Jochum den Neunzehnten ausgebracht hatte.

Ein neunfältiges Hurra mit Fanfare und Hörnern auf dem Balkon und dem dumpfen Dröhnen der »Katzenköpfe« auf dem Schiessplatz versetzte Gläser, Herzen und die gemalten Scheiben in Vibration.

Worauf man von neuem Kraft aus der Schüssel mit Gesalzenem und Geräuchertem suchte.

Darauf brachte der Präsident ein Hoch auf die Gesellschaft aus, deren Geburtstag man feierte – und Uhrmacher Winge liess die Frauen leben.

Dies war der ernstere Teil des Festes.

Bald darauf wurde unter Gekicher und Gepuff mit den Ellenbogen von Seiten der Älteren und Erfahrenen ein Lied mit dem vielverheissenden Titel »Ins Schwarze zu treffen« verteilt.

Die Hörner rasten die Melodie einmal durch; die Brüder schüttelten sich vor Lachen und stimmten an. Das Lied war alt und wohlbekannt und erfreute alle durch sein Gewimmel von erotischen Andeutungen und geschlechtlichen Anspielungen auf Kugeln, Pulver und Ladestöcke.

Und es erregte einen Tornado von Jubel.

Selbst die Hörner auf dem Balkon klatschten, während Uhrmacher Winge so lachte, dass man ihm den Rücken klopfen musste, und Drechsler Eriksen »Dcabo« rief.

»Das ist das schweinemässigste Produkt, das ich jemals schwarz auf weiss gesehen habe!« flüsterte Frank Neumann empört Zöllner Knagsted zu. »Ich stehe auf und erhebe Widerspruch!«

Der Zöllner packte ihn beim Arm:

»Sind Sie verrückt, Mensch; das Ganze ist ja doch Scherz!«

»Scherz ...! Und das sind dieselben Menschen, die sich ›Fürsprecher des Altars, des Thrones und der Ehe‹ nennen! Sie, die bei den Vigiliaversammlungen das grosse Wort führen und Adressen gegen die ›unsittliche‹ Literatur aufsetzen!«

»Ja, aber lieber Maler!« sagte Knagsted kopfschüttelnd über soviel Unverstand, »dann ist es ja Ernst

»Das ist ein verteufelt drolliges Lied, Kunstmaler ... das heisst, wenn keine Damen dabei sind!« rief Bäckermeister Krummback, der ihnen gegenübersass.

»Ich finde es grundgemein!« entfuhr es dem Maler.

Krummback lachte, so dass es schallte:

»Grundgemein! Hört ihr, was er sagt!« schrie er. »Und dabei rennt er selbst mit Frau und Kindern splitternackend herum! ... Da kann er 'ne Prämie aufnehmen!«

 

Um ein Uhr ging man wieder auf den Papagei los, und um sechseinhalb fiel die Brustplatte: Gerbermeister Igel war der Zweihundertjährige Vogelkönig geworden durch Schmiedemeister Jensens Schuss ...

Die Wagen rollten vor, die Damen stellten sich zum Mittagessen ein.

Die Frau des radikalen Redakteurs kam demonstrativ im Automobil angefahren.

Das grösste Aufsehen aber erregte Michaela von Löwenfeldt, die mit Förster Treschau in der Löwenholmer Kutsche gefahren kam.

Dass sie das wagten, so bald nach der Geschichte mit der Pastorin Sörensen!

Dass sich der Kammerherr darin fand!

Dass das Fräulein sich nicht schämte!

Das Fräulein aber schritt ruhig lächelnd am Arm des Försters durch den ganzen summenden Schwarm.

Und dann war sie obendrein in weissem Atlas und er in Frack und weisser Weste – wie ein Brautpaar!

»Hack, hack!« krächzte Rikke Elster, die vornean in der Schar der Zuschauer draussen auf dem Rasenplatz stand. »Hat das Schloss nun wieder angefangen, in den Wald zu rennen ...!«


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