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»Hack, hack!« krächzte Rikke Elster und stakte sich mit Hilfe der Krücke besser auf die Bank hinauf. »Sie ist vorgestern von ihm weggelaufen zu dem Förster in Vestermark ... Ich weiss es von der Roll-Maren.«

»Gott, und so himmlisch, wie er predigt, Pastor Sörensen!«

Madame Svendsen presste keuchend ihre beiden Hände gegen ihren ungeheuren Busen.

Rikke pikste sie kichernd mit dem Mittelfinger in die schwellende Fülle.

»Du solltest ein Schnürleib tragen, Marthe!«

»Ne,« sagte Marthe, »denn würd' ich ja ganz und gar ersticken.«

Die beiden Freundinnen sassen beim Nachmittagskaffee in »Svendsens Schaukel- und Wirtshaus-Garten« unter einem Stück Segeltuch, das zwischen vier Stöcken ausgespannt war und Laube spielte. An den Stöcken hinauf kletterten düsterer Efeu und muntere Prahlbohnen.

Der Garten war von der Grösse eines gutgewachsenen Kaninchenhofes, und die Schaukel hing für den Augenblick leer herab. Aber sie war lebhaft gemalt, in Rot, Gelb und Grün.

»Was hat es denn auf sich mit der Pastorin?« fragte Marthe und legte fürsorglich die Brust aus den Händen auf die Tischplatte nieder.

Rikke steckte ihren Vogelkopf ganz dicht an das Ohr der Freundin:

»Er hat sie verführt ...«

»Wer? Der Förster?«

»Ne, der Pastor, bei Gott

»Ja, aber der is doch ihr Mann!«

»Ja, aber er hat sie verführt, als er selbst noch Pastor studierte und sie nich mehr als dreizehn – vierzehn Jahr alt war.«

»Der Pastor? Unser Pastor Sörensen? Nie in alle Ewigkeit!«

Rikke strich sich beteuernd mit einem Finger über die Kehle:

»Bei dem lebendigen Jesus!« sagte sie. »Du kannst den lebendigen Teufel bitten, dass er zuschlägt! ... Roll-Maren hat es mit eigne Ohren gehört, wie sie es ihn einen Tag draussen in' Garten ins Gesicht geworfen hat.«

»Madame Svendsen ...?« ertönte plötzlich eine heisere Übergangsstimme durch die offene Tür, die zu der Schenkstube führte. »Is Madame Svendsen da?«

»Ja–a ...« schrie Marthe wütend zurück. »Was is denn los?«

Kellner Bernhard erschien auf der Schwelle. Er war dem Aussehen nach ein Kind, ein rotwangiger, gutgewachsener Zwerg mit kleinen, dicken Händen und einem ganz winzig kleinen, blonden Schnurrbart. Er war neunzehn Jahre alt und hätte inwendig in Madame Svendsen stehen können, wenn sie hohl gewesen wäre.

»Kann Hundertundelf einen Schnaps auf Pump kriegen?« fragte er.

»Wieviel hat er auf der Kreide?«

»Eine Krone und fünfundzwanzig.«

»Nein ... dann geht es nich.«

Drinnen im Lokal ertönte ein Schlürfen schwerer Füsse über den Estrich. Hundertundelf erschien hinter Bernhard.

»Ach, was?« bat er. »Ich bin ja so bedürftig.«

»Erst bezahlen Sie, was angeschrieben steht!«

»Nächste Woche soll das Geld hier auf dem Tisch liegen.«

»Ja, das kennen wir; damit kommen Sie bei uns nich weit!«

» Ach, was ... Ich bin so bedürftig ...«

»Nein, sage ich.«

»Dann geht er bloss nach drüben in den ›Nagel‹ ...« meinte Bernhard.

»Das is die Sache von denen da drüben!«

»Ach, liebe Madame Svendsen ... Ich bin so bedürftig ...«

Die Madame schlug mit der Faust auf den Brettertisch:

»Nein, zum Deubel auch, ich hab' es doch gesagt! Und Sie wissen recht gut, Therkildsen, dass meine Brust keine Aufregung vertragen kann ... Schmeiss ihn raus, Bernhard!«

Rikke Elster legte eine sanfte Hand auf die Schulter der Freundin. (Die böse Welt wollte wissen, dass Rikke und Hundertundelf, wenn die Sonne sank, ein Auge aufeinander würfen.)

»Marthe,« bat sie beweglich, »erbarm' dich über ihn in Jesu Namen, wenn der Mensch nu wirklich durstig is!«

Marthe schüttelte sie von sich ab.

»Willst du vielleicht bezahlen, was er hat ankreiden lassen?«

»Hack, hack ...!« krächzte die Elster verlegen.

»Ja, da siehst du selbst ... Schmeiss ihn raus, Bernhard!«

Hundertundelf stand demütig und krummgebeugt, gleichsam abwartend, dass die Madam andern Sinnes werden sollte ... Sein Kopf wackelte vor Alter und Trunk, und die Knie hinter den dünn geschlissenen Beinkleidern kehrten sich anrufend nach innen. An den Füssen hatte er Gummizugstiefel ohne Gummizüge. Den verbeulten Hut knüllte er nervös zwischen den Fingern. Sein Haar war weissgrün und bedauerlich dünn. Und aus seinem zahnlosen Mund sickerten über sein Kinn drei parallele Streifen dunkelbrauner Tabakjauche ... daher der Name Hundertundelf. Seit dem Unglück im Winter, als der Treibriemen draussen in Olsens Quetschmaschine ihn zwei, drei Mal von oben nach unten kehrte, war er nicht einmal mehr sein täglich Brot wert und lebte von der Barmherzigkeit christlicher Menschen ...

»Dann geh man, Grossvater! ...« sagte Kellner Bernhard still und drehte den Alten nach der Stube herum in der Richtung auf die Tür zu, die nach der Strasse führte.

Bernhard war ein Enkel von Hundertundelf. Daher der grosse Kredit.

Aber nun hatte also Madam Svendsen die Geduld verloren:

»Schmeiss ihn raus, Bernhard!«

Und Bernhard gehorchte der ihm von Gott eingesetzten Obrigkeit.

 

Svendsens Café und Wirtshausgarten« trug im Volksmunde den Namen »Das kalte Bein«, sintemal sein Begründer, der selige Svendsen, ein hölzernes Bein gehabt hatte ...

Vom Garten hatte man Aussicht auf die Strasse und ein kleines Stück von der Vestermarker Landstrasse. Und sass man in der Schaukel, während eine kräftige Person gut anzog, so konnte man von dem höchsten Punkt über die niedrigen Häuser am »Tor« hinweg und vorbei an dem Schornstein des Maschinenhauses von Olsens Schotterfabrik bis weit ins Land hinein sehen.

Den Lärm und das Gedröhn des Quetschwerks vernahm man deutlich. Es war wie das Getöse von rollenden Kanonen:

»Hol' der Teufel diesen Olsen!« sagten die Gäste, wenn sie bei ihrem guten Bier sassen.

Aber Olsen und sein Quetschwerk liessen sich nicht aus der Fassung bringen ...

Rikke Elster machte plötzlich einen langen Hals:

»Da kommt er mit ihr!«

Marthe fuhr mit einem Schwupp in die Höhe:

»Wer?«

»Der Pastor! Er is in Vestermark gewesen und hat die Frau geholt ... Und die Gemeinde is auch mit dabei! ... Da sind zwei Wagen!«

Madam Svendsen stemmte die Hände gegen die Tischplatte und erhob sich, um besser zu sehen:

»Herr du meines Lebens ...!« sagte sie.

Die Wagen rollten näher heran:

In dem ersten, einem Jagdwagen, sassen auf dem hinteren Sitz Pastor Sörensen und Frau; und auf dem Bock bei dem Kutscher schwamm ein quabbeliger Bauer mit einer Zigarre im Munde.

In dem zweiten Wagen, einem Kremser, waren ein Dutzend steifer, dunkelgekleideter Männer und Frauen. Sie sprachen nicht, starrten nur gerade vor sich hin und in die Luft hinaus.

Der Pastor ragte lang und drohend neben seiner Frau auf. Er hatte seinen Arm gleichsam als Stütze hinter ihren Rücken gelegt. Die Augen der Pastorin waren geschlossen. Sie hielt sich unbeweglich; ihr kleines, feines Junge-Mädchen-Gesicht war bleich und starr. Aber ihr Hut mit dem gewaltigen Rand und den weissen, wogenden Straussenfedern winkte und wehte.

»Er hält sie fest!« meldete Rikke. »Kannst du wohl sehen, er hält sie fest, wie die Polizei einen Dieb.«

»Sie hat ja auch seine Ehre gestohlen!« nickte Marthe pathetisch.

Der Wagen bog von dem Landwege in die Strasse ein. Das Dröhnen der Schotterfabrik ertrank für einen Augenblick in dem Gerummel der Räder auf dem Pflaster.

Plötzlich machte die Pastorin eine Bewegung, als wolle sie sich aus dem Fuhrwerk herausstürzen. Aber ihr Mann packte sie und verhinderte sie daran. Sie setzte sich zur Wehr, wollte hinaus, wollte fort. Sie rangen. Der Hut der Pastorin wurde abgerissen und fiel auf die Strasse.

Dann verschwand der Wagen um die Ecke.

»Der Hut!« schrie Madam Svendsen unwillkürlich.

»Der Hut!« rief Rikke Elster. »Der Hut, Leute! Der Hut!«

Der Kremser machte halt. Ein Bauer plumpste herunter und sammelte den Hut auf, betrachtete ihn genau, schüttelte ihn, so dass der Staub flog, und kletterte dann mit seiner Beute wieder hinauf.

Niemand im Wagen hatte ein Wort gesprochen, sie hielten sich nur noch steifer ...

Dann bog auch der Kremser um die Ecke.

»Ich muss nach dem Pfarrhause hinauf!« sagte Rikke und steckte geschwind die Krücke unter den linken Arm.

»Du kommst doch wohl wieder hierher zurück, wenn du sie gesehen hast?«

»Natürlich ...!«

Und Rikke stängelte sich eiligst zum Garten hinaus und weiter in der Richtung auf das Pfarrhaus zu.


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