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Und dann brach Bankdirektor Konsul Hagbart Wävers fünfzigster Geburtstag an ...

Vorher aber geschah etwas, das berichtet werden muss.

Das Korn war in die Scheuer gefahren. Die Stoppelfelder lagen gelb und schimmernd da. Die Dreschmaschinen brummten fern und nah.

Es war herrlich, den Ulmensteig entlang zu gehen, der quer durch die Löwenholmer Felder führte. Er schlängelte sich über Hügel und durch Täler und durch mit Röhricht bestandene Sümpfe. Und in seiner ganzen Länge war er zu beiden Seiten mit hochstämmigen Ulmen eingefasst, deren rauhes Laub jetzt in dem hereinbrechenden Herbst gelblichbraun in der Sonne schimmerte ...

Knagsted kam eines Vormittags des Weges, sein Rad vor sich her schiebend. Er hatte eine Morgenfahrt in den Löwenholmer Wald gemacht und befand sich jetzt auf dem Heimwege.

Ringsumher auf den Wiesen und den abgeernteten Feldern weideten die rotbunten Kühe des Gutes frei und unangepflöckt, nur bewacht von einem kleinen lebensfrohen Hirtenjungen, der zum Himmel hinaufsang und ungezähmt mit einer alten gichtbrüchigen Peitsche knallte ...

Aber plötzlich ertönte ein gellender Frauenschrei. Und als der Zöllner eiligst um eine Ecke des Weges bog, sah er die Bürgermeisterin Rosenbaum voller Entsetzen über die Felder daherfliegen, verfolgt von Löwenholms grossem Preisstier, der auf irgendeine Weise aus dem Stall ausgebrochen war.

Hinter dem Stier her lief der Hirtenjunge, rufend, schreiend, knallend.

Eine Sekunde lang zuckte der Gedanke durch Knagsteds Gehirn: Möge er sie nur ruhig aufspiessen! Aber schon im nächsten Augenblick stellte er sein Rad hin und stürzte davon, um der Dame Beistand zu leisten.

Da sah er sie plötzlich haltmachen, sich schnell vornüber beugen, Kleid und Röcke über den Kopf schlagen, die Beinkleider abstreifen und ihr pfriemenförmiges nacktes Hinterteil dem Feind entgegenstrecken. Knagsted blieb stehen: – Gott du Allmächtiger!

Wohl hatte er in seiner Kindheit die Knechte und Mägde von Abildtorpegaard erzählen hören, dass dies das beste Mittel sei, einen wütenden Stier zu lähmen; nie aber hatte er sich vorgestellt, dass dies Manöver in Wirklichkeit ausgeführt werden könne.

– Und nun stand die Bürgermeisterin da. – Gott du Allmächtiger!

Da sieht er den Stier plötzlich mitten in seinem Lauf innehalten, erstarrt, hypnotisiert, die Beine nach allen Seiten ausgestreckt, mit blutunterlaufenen Augen, von diesem Anblick geblendet ...

Im selben Augenblick springt der Hirtenjunge herzu, ergreift das Tau, das von dem Nasenring herabhängt, und ruft mit lauter Stimme:

»Nu können Frau Bürgermeisterin gern fallen lassen! Nu hab' ich ihm!«

Worauf er die Bestie resolut umwendet und mit ihr nach dem Hofe zurückzieht ...

Knagsted war diskret hinter einen Busch geschlüpft. Und von hier aus sah er »die Bettlade« eiligst ihre Kleider ordnen und in schnellem Lauf der Stadt zueilen ...

Dies war der Bericht.

 

Herr Zollkontrolleur Knagsted
wird gebeten
Frau Bürgermeister Rosenbaum
zu Tische zu führen.

Der Zöllner hatte im Wohnzimmer der Konsulin die Karte vor die Nase gehalten:

»Sie wissen ja doch, dass ich die Person nicht ausstehen kann!«

»Ja ... Und sie kann Sie auch nicht leiden!« hatte die Konsulin lachend geantwortet und war zwischen den Gästen verschwunden.

 

In dem grossen, weisslackierten Speisesaal war für fünfzig gedeckt; ein Gast für ein jedes der entschwundenen Jahre des Konsuls.

Er selbst sass oben an der Tafel, gross, elegant, unnahbar, englisch, die Priorin des adeligen Fräuleinklosters, Emely von der Seele, an seiner Seite.

Kammerherr Löwenfeldt führte die Konsulin. Bürgermeister Rosenbaum (ein ganz winzig kleiner Mann) seine Tochter Michaela; Folketingsabgeordneter Hansen Hochrippe (in Veranlassung des Tages aus der Hauptstadt verschrieben) Frau Etatsrat Abrahamson, Lykkesgrave usw. usw. ...

Das grösste Aufsehen in der Gesellschaft erregte jedoch Förster Treschau. Er war noch nie dort im Hause gewesen: Sollte wirklich etwas an den Gerüchten sein ...!

Der Konsul erhob sein Glas und liess den Blick über die Versammlung gleiten:

»Meine Damen und Herren, ich heisse Sie willkommen!«

Vor jedem Kuvert lag ein Halbkreis von sechs prachtvollen Orchideen, direkt aus der Hauptstadt eingetroffen, zusammen mit dem Folketingsabgeordneten. Man sagte, sie hätten eine Krone das Stück gekostet.

Drei fünfzehnarmige elektrische Kronen leuchteten auf den Tisch herab. Und an der Wand entlang sassen zahlreiche Lampetten.

Die Bürgermeisterin war in karmesinrotem Atlas mit schwarzen Spitzen um Brust und Hals, um das Knochengerüst zu verbergen.

»Was sagen Sie dazu!« flüsterte sie Knagsted zu. »Der Förster!«

»Ja, was soll der?« brummte der Zöllner mit dem Zornbüschel auf ganzer Höhe.

»Dass er hier verkehrt

»Warum sollte er das nicht tun, wenn er eingeladen wird? Es ist ja ein sehr nettes Haus. Frau Bürgermeister verkehren hier ja auch!«

»Hm!« sagte die Dame und wandte sich an ihren Nachbar, Stiftspropst Wedel ...

»... Abrahamson ...?« fragte der Folketingsabgeordnete seine Tischdame (er hatte einen kleidsamen Dialekt), »Abrahamson ... war das dieser – Kasper, der dichtete?«

»Ja,« nickte die Etatsrätin gemessen, » Per war es.«

»Und wie geht es denn zu, dass sich gnädige Frau hier in der Gegend niedergelassen haben?«

»Wir haben Lykkesgabe (deutsch Glücksgabe) von einem Onkel meines Mannes geerbt.«

»Dann war das ja ein Gut, das seinem Namen entsprach!«

»Wir stellten den verstorbenen Onkel meines Mannes sehr hoch, Herr Hansen!«

»Hm, ja ... natürlich! ... Haben Sie Kinder?« »Ja, einen Sohn, der das Gut verwaltet.«

»Ist es ein grosses Gut?«

»Fünfhundert Tonnen Land ...«

»Ja, meins ist nur siebzig gross ... Wollen wir den Wein einmal kosten? Prost! War mir ein Vergnügen, Frau Etatsrätins Bekanntschaft zu machen.« Hansen Hochrippe leerte sein Glas bis auf den Boden. Die Etatsrätin nippte an dem ihren.

 

Sechs schwarzgekleidete Mädchen mit weissen Mützen warteten auf. Ihre roten Pfoten waren in weisse baumwollene Handschuhe gesteckt. Und diese zuweilen wieder in die Sauce.

Die Speisenfolge lautete auf zehn Gänge und acht Arten Wein.

»Ich liebe Schildkrötensuppe!« sagte die Stiftspröpstin Wedel zu Kreisarzt Claudius. »Die spendierten die Kinder uns zur goldenen Hochzeit.«

»Ja,« nickte der Kreisarzt, der während der Mahlzeit am liebsten schwieg, »die schmeckt auch gut ...«

Eisenhändler O.W. Fredriksen, Mitglied des Stadtrats, rollte die Nase und meinte, gegen eine kräftige, flachländische Rindfleischbrühe käme doch nichts an.

Obergerichtsrat Ivar Petersen aber (der Topf benamset, weil er nur mit einem Ohr ausgestattet war) hatte einmal in Berlin Känguruhschwanzsuppe gegessen, nur um sie zu kosten, erzählte er Frau Makler Blom; »und die schmeckte, versichere ich Ihnen, delikat!«

» Känguruhschwanzsuppe ...!« wiederholte die Maklerin angewidert. »Ja, dadraussen« (sie meinte ausserhalb Flachlands) »essen sie ja auch Froschschenkel und geröstete Schnecken.«

Ja, Schnecken hatte die Konsulin einmal in Paris bekommen, aber sie hatte sie nicht herunterschlucken können ... »Nicht wahr, Hagbart?« rief sie ihrem Mann zu. »Ich konnte doch die gebratenen Schnecken nicht herunterbringen?«

»Nein!« lachte der Konsul mit seinem Automatenlachen (es war, als werde ein Zehnörestück in ihn hineingesteckt, und dann lachte er trocken und holzig: ha, ha, ha! ohne dass sich eine Muskel in seinem Gesicht bewegte). »Das war ein Anblick, meine Frau zu sehen!« wandte er sich an die Priorin. »Aber versuchen wollte sie es ja doch einmal!«

»Gittigitt ...!« sagte die Priorin.

 

Hansen Hochrippe unterhielt von neuem die Etatsrätin Abrahamson:

» Ich habe auch einmal gedichtet ...« sagte er.

»So? ...«

»Nämlich eine Komödie ... die hiess, wissen Sie, ›Des Königs Handschuh‹ und spielte in der Ritterzeit. Ich habe selbst mitgespielt ... es war in dem alten Theater in Grönby ... vor vierzig Jahren ... Frau Etatsrätin erinnern sich dessen wohl nicht mehr? Sie hat sonst Aufsehen gemacht.«

»Das will ich schon glauben,« sagte die Etatsrätin. »Aber ich erinnere mich dessen nicht ...«

»Ja, denn dem Alter nach könnten Sie sie gesehen haben ... Wir sind wohl ungefähr gleich alt?« sagte der Folketingsabgeordnete und schenkte sich das dritte Glas Sherry zur Suppe ein. Er fing schon an zu glühen ... Er war kein Kostverächter, wenn andere traktierten. Für gewöhnlich, wenn er selbst bezahlen sollte, begnügte er sich mit einem Diner für 1 Krone 25 und einer halben Flasche Dünnbier.

 

Zollkontrolleur Knagsted sass still da und lächelte. Line Meincke hatte den gleichalterigen Sohn und das einzige Kind des Hauses als Tischherrn. Er machte ihr stürmisch den Hof; lag halb über sie hingelehnt und redete auf sie ein.

Line hatte sich so weit wie möglich auf ihren Stuhl zurückgezogen und sah hilflos aus.

»Frejlif ...!« rief die Konsulin mahnend über den Tisch herüber.

Der Sohn richtete sich auf und schwieg; aber nur für einen Augenblick, dann legte er wieder los.

»Das Versuchskaninchen« hiess er im Volksmunde, weil er zu früh zur Welt gekommen war und die ersten acht Wochen seines Lebens in einer Terrine mit lauwarmer Milch hatte zubringen müssen. Er war aus diesem Grunde niemals fertig geworden, hatte keine »Form« bekommen, sah so aus, als wenn er in einem Aquarium gemacht wäre, glich einem rachitischen Frosch, mager, flachgedrückt, mit langen, schlackerigen Armen und Beinen, breitem Mund und vorstehenden Augen. Dessenungeachtet hielt er sich selbst für einen Herzensknicker, war geckenhaft gekleidet, pomadisiert, soigniert und zudringlich. Unbegabt war er jedoch nicht; im Gegenteil. Er konnte oft boshafte und treffende Bemerkungen machen. Leider litt er aber an epileptischen Anfällen, was bewirkte, dass er oft lange Zeit schlaff und willenlos daliegen konnte ...

Line sandte dem Zöllner einen verzweifelten Blick zu.

»Prost!« nickte Knagsted zurück, um sie zu trösten und erhob sein Glas.

»Prost! Prost! Herr Zollkontrolleur!« lachte der junge Wäver geschmeichelt. »Trinken Sie dem Zollkontrolleur doch einmal zu, Fräulein Meincke!« sagte er und legte eine Hand auf ihren entblössten Arm.

Line schauderte und entriss ihm den Arm. Seine Finger waren kalt und dabei feucht wie nasse Handschuhe.

»Prost!« sagte der Zöllner abermals. Und dann tranken sie alle drei.

 

Stiftspropst Wedel hielt die Speisenfolge eine halbe Elle von sich ab:

»Fischfilet à la Orly ...« las er.

»Herr Stiftspropst essen gern gut?« fragte Fräulein von Löwenfeldt.

»Ja, kommen Sie nur erst in mein Alter, liebes gnädiges Fräulein!« nickte er zurück.

Aber das gnädige Fräulein hörte ihn nicht. Ihre grossen, dunklen Augen glitten beständig forschend zu dem Förster hinüber, der seine Tischdame, Frau Obergerichtsrat Ivar Petersen, eifrig unterhielt; und die lachte und lachte: er war auch zu amüsant.

 

»Ja,« erzählte Hansen Hochrippe und leerte das zweite Glas Mosel zum Fisch, »ich bin zweimal bei den beiden hochseligen verstorbenen Fürsten zur Tafel befohlen, wissen Sie; und das muss ich sagen, es ging ohne alle Spur von Firlefanzereien zu, ganz bürgerlich ... Sind Frau Etatsrat bei Hof gewesen?«

»Ja, als mein Mann noch lebte ...«

»Hm ... ja, auf allerlei Vergnügungen muss man natürlich verzichten, wenn man als Witwe zurückbleibt ... Ha, ha, ha!« lachte er plötzlich. »Sehen Sie doch mal bloss, wie fein die Stubenmädchen vom Konsul sind, mit Fausthandschuhen! Die hatten sie nicht mal bei Hof an ... Noch ein Glas Wein?«

»Nein, ich danke, ich danke ...!«

Die Etatsrätin hielt ihre Hand schirmend über das Glas, aber der Folketingsabgeordnete schenkte trotzdem freigebig drauflos, so dass der Wein über die weissen Finger der Dame floss.

»Ha, ha, ha!« lachte er, »den sollen Sie, weiss Gott, haben!«


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