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I

Und wir hier in der Stadt,
die wir so rein sind!

Die Stadt Söby liegt im Fürstentum Flachland und ist die grösste Stadt auf der Insel Sejrö.

Woher diese Insel ihren Namen bekommen hat, weiss man nicht mit Bestimmtheit. Vielleicht von den vielen siegreichen Kämpfen (Sejr = Sieg), die sie der Überlieferung zufolge in einer grauen Vorzeit mit ihren Nachbarn geführt haben soll.

Aus der Jetztzeit stammt der Name auf alle Fälle nicht ...

Flachland ist ein schönes Land: Hügel und Täler wechseln malerisch mit Wäldern, Heiden, kleinen Bächen und kornreichen Fluren ab.

Mitten im Lande liegt eine ungeheure Anhöhe, »der Mondberg« genannt, 465 Fuss über der Meeresfläche.

Hier oben sollen im Altertum Siegesfeuer angezündet worden sein, wenn die Flachländer eine Schlacht gewonnen und einen Feind zum Krebsgang gezwungen hatten.

Heutzutage wird die Anhöhe benutzt, um sich dort zu zanken und zum Abbrennen von Johannisfeuern.

Man hat vom Gipfel des Hügels eine imponierende Aussicht auf sechsundfünfzig Gotteshäuser, vier Irrenhäuser und fünf Zuchthäuser. Ein Wald erstreckt sich hinter dem andern, in bunter Abwechslung mit meilenweiten Heiden, wogenden Kornfeldern, Molkereigenossenschaften, Konsumvereinen, Schweineschlachtereien, Prämienhengsten, Städten und Dörfern, und weit hinten am Horizont schimmert das ewig wechselnde, weichende und wogende Meer.

Sejrö war in entschwundenen Zeiten, ehe das Reich noch geeint war, ein selbständiges Bistum, das mit seiner Sippschaft auf den benachbarten Inseln in unaufhörlichem Handgemenge lag.

Denn die Flachländer hatten nie Frieden halten können.

Und können es, was das anbetrifft, auch jetzt noch nicht.

Bald sind es politische, bald religiöse, bald literarische, bald eheliche Streitigkeiten, die das Land verheeren.

Die Einwohner leben hauptsächlich von Ackerbau, Viehzucht, Fischerei und Kassenbetrug.

An der Spitze gehen die Minister.

Die Regierungsform ist beschränkt monarchisch. Die Verfassung ist frei. Vor dem Gesetz sind alle gleich.

Aber die ausübende Macht liegt bei der ewig wechselnden, weichenden und wogenden Mehrzahl, die jedoch immer stark national gefärbt ist, und deren erblicher Wahlspruch lautet: Alles für das Vaterland oder: Après nous le déluge.

Dies nennt man Parlamentarismus.

 

Es war einer dieser seltenen Sommer, die für eine kurze Stunde den Menschen den ewigen Göttern versöhnlich gegenüberstellen – einer von diesen klaren, wonnevollen Sommern mit Sonne über den Dächern und hin und wieder einem milden und fruchtbaren Regenschauer ...

Zollkontrolleur Knagsted stand im Schatten der Bärenapotheke an der Ecke des Kirchenplatzes und der Süderstrasse und keuchte vor Wärme. Den Hut hielt er in der Hand, und er fuhr sich unermüdlich mit dem Taschentuch über das Gesicht ...

Es war an einem Sonntagvormittag während der Kirchzeit. Söby lag öde und leer da. Die Hälfte der Bevölkerung hörte Pastor Sörensen. Die andere Hälfte kochte das Mittagessen ...

Knagsteds Hand mit dem Taschentuch sank plötzlich von seinem Gesicht herab; er kniff blinzelnd die Augen zusammen und starrte die Strasse hinauf.

Zwei splitternackte Kinder, ein Junge und ein Mädchen, von fünf bis sechs Jahren, kamen mitten auf dem sonnenhellen Bürgersteig dahergewandert:

»Aber liebster Himmel, das sind ja Erich und Else!«

Die Kinder plauderten und lachten, so dass es in der öden Süderstrasse schallte. Die Sonne fiel herab auf ihre goldig-braunen Leiber, die sich wie Bernstein schimmernd von den grauen Häusermauern abhoben.

Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen und zeigten eifrig in ein Ladenfenster hinein.

Dann wanderten sie getrost wieder von dannen.

Der Junge war schlank und fein, das Mädchen drall und rundlich.

Beide hatten sie blondes, lockiges Haar, das ihnen bis auf die Schultern reichte.

Sie kamen näher und näher. Jetzt waren sie ganz oben auf dem Platz, gerade vor der Kirche.

Knagsted zog sich unwillkürlich tiefer in den Schatten der Apotheke zurück, um nicht zu stören.

Denn zuweilen tanzten die Kinder geradezu vor Lebensfreude über die Fliesen hin. Bald machte der Junge, bald das Mädchen einen kleinen wonnevollen Sprung vorwärts, so dass die Sandalen an ihren nackten Füssen klatschten. Dann schritten sie wieder gesetzt weiter, bis sich plötzlich abermals ein neuer kleiner Freudensprung auslöste.

Und dann lachten sie in die Luft hinaus und riefen:

»Mirja! Mirja!«

»Tja–a ...!« schallte die heisere Antwort oben vorn Dache herab.

Es war ihr Spielkamerad, eine kleine, schwarzgraue Dohle, die ihnen getreulich folgte, von Haus zu Haus flatternd.

»Mirja! Bist du da?«

»Tja–a ...« schrie der Vogel.

Aber im selben Augenblick setzten die Kirchenglocken mit einem Dröhnen ein, und Mirja floh entsetzt zurück, denselben Weg, den sie gekommen war.

Man sah sie als kleinen, dunklen Punkt hinter dem Schornstein der Bierbrauerei verschwinden.

»So ... nun ist Mirja nach Hause geflogen ...« sagte das Mädchen.

»Sie ist bange vor den Glocken geworden ...« stellte der Junge fest.

Und dann ergoss sich die Gemeinde über sie ...

Gleich einem schwarzen Strom kam sie aus der Kirche gewälzt, die Gesichter bleich vor Eifer, mit den goldschnittigen Gesangbüchern, die in der Sonne blitzten.

Die Kinder drückten sich eingeschüchtert gegen Konditor Halgrens Haustür. Ihre Augen wurden ganz rund aus Angst vor allen den fremden Menschen.

»Gott!« sagte die kleine Konsulin Wäver, geborene Birk, und zeigte. »Sehen Sie doch bloss mal, Frau Blom! Die nackten Rangen des Malers!«

»Aber das ist denn doch ...!« sagte Frau Blom.

»Unmoralisch!« sagte Bürgermeisterin Rosenbaum, auf Grund ihrer dürren Magerkeit »die Bettlade« genannt.

» Mitten auf dem Kirchenplatz!«

»Zur Kirchzeit!«

» Splitternackend!«

» Öffentliches Ärgernis!« ertönte es ringsumher.

Und Fräulein Plockros, die Klavierlehrerin, Schuldfrei hiess sie, griff die kleine Else mit ihren harten Klavierfingern in den Arm und sagte:

»Was für Eltern ihr doch habt!«

Das Mädchen brach in Weinen aus. Der Junge schlang beschützend seine Arme um sie:

»Geh weg ...!« sagte er zu der Plockros.

Aber die Plockros blieb stehen, und das Gedränge wurde immer grösser ...

Bis plötzlich eine Mannsperson die Menge beiseite puffte und sich einen Weg zu den Kindern bahnte.

»Onkel Zöllner! Onkel Zöllner!« riefen sie und stürzten auf ihn zu.

Jetzt weinte auch Erich.

»Nun, nun!« tröstete Knagsted. »Nun, nun! ... Kommt ihr nur mit mir, dann gehen wir nach Hause.«

Und er schob von neuem den Haufen beiseite und schritt aufrecht und rothaarig mit seinen beiden Pilgrimen die Strasse hinab ...

Aber die Gemeinde bekreuzigte sich und lachte hämisch hinter seinem Rücken.

Und die »Bettlade« sagte:

»Häh,« sagte sie, »das konnte man sich ja denken, nach den Verhältnissen, in denen er mit seiner Haushälterin lebt!«

»Verhältnisse ...?« fragte Konsulin Wäver.

»Ja, wissen Sie das nicht ...« begann die Klavierlehrerin Plockros ...

Und dann machte man sich daran, das Privatleben des Zöllners zu lüften. – –

Die »Malers-Villa« lag südlich von der Stadt in einem grossen Garten, der mit einem schmalen Landstreif bis an den Sund hinabging.

Das Grundstück hatte früher einer wunderlichen alten, menschenscheuen Dame, einem Fräulein Alfrede Schönheiter gehört, von der die merkwürdigsten Sachen im Umlauf waren.

Sie starb vor ungefähr drei Jahren, und die Villa hatte seitdem leer gestanden. Niemand konnte darin wohnen. Das Fräulein »spukte«.

Sowohl Konsul Wäver als auch Eisenkrämer O. W. Fredriksen hatten sie selbst dadrinnen rumoren hören ...

Aber dann kamen an einem sonnenhellen Frühlingsmorgen der Maler Frank Neumann und seine Frau nach der Stadt geradelt, hörten von dem Hause erzählen, kauften es und zogen hinein.

Und augenblicklich verhielt sich Fräulein Alfrede ruhig unter ihrem Grabhügel oben auf dem Friedhof.

Der Spuk hatte ein Ende ...

»Hack – hack!« krächzte Rikke Elster tief aus ihrer ausgedörrten Brust heraus, während sie sich über die Brücke vorlehnte; »hack, hack. Hab' ich es nicht immer gesagt! Es waren die Ratten!«

Eine von Fräulein Schönheiters Passionen waren nämlich Ratten gewesen. Den ganzen Rattenbestand der Nachbarschaft wusste sie durch ein eigenartiges Pfeifen zwischen ihren goldplombierten Vorderzähnen an sich zu locken. Die Tiere kamen aus allen Löchern und Winkeln gewimmelt. Sie fütterte sie des Morgens und des Abends, sie huschten zärtlich um sie herum, sobald sie sich auf dem Hofe blicken liess.

»Ist man gut gegen Tiere,« sagte sie, »so werden sie liebenswürdig! ... Ist man gut gegen Menschen, so werden sie unverschämt!«

Dann starb sie. Der Maler zog ein. Und die Ratten wurden landflüchtig.

Aber jetzt fing die Stadt an, Lärm zu schlagen und zu zetern, weil das Grundstück an einen Fremden übergegangen war:

»Und, Gott steh' mir bei! für einen wahren Katzendreck hat er es bekommen, Herr Konsul!« sagte der Eisenkrämer O. W. und rollte seine Gumminase viermal in der Hand herum.

»Aber Sie sind doch selbst herumgegangen und haben erzählt, dass die Schönheiter spukte ...« sagte der Konsul, ein steifer, »englischer«, im übrigen sehr beherrschter Herr.

»Das haben Sie ja auch getan!«

»Freilich, denn ich hatte meine Gründe.«

»Die hatt' ich, verdammt und verflucht, auch! ... Glauben Sie vielleicht an die Spukgeschichte?«

»Nei–ein!«

»Ich auch nich! Ich wartete bloss darauf, dass das Grundstück fallen sollt'.«

»Hatten Sie denn daran gedacht, es zu kaufen?« fragte der Konsul mit dunkelroten Ohren.

»Aber natürlich!«

»Ja, ich auch!«

»Sie Gauner!«

»Sie Fuchs!«

Und die beiden Herren stürzten zornbebend die Strasse hinab, ein jeder nach seiner Seite.

»Hack – hack!« krächzte Rikke Elster abermals. Zwei Grandanois zanken sich um einen Knochen, und dann kommt da ein Windspiel und schnappt ihn ihnen weg!


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