Johann Karl Wezel
Lebensgeschichte Tobias Knauts
Johann Karl Wezel

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1.

Selmann ist tot; der kleine Zirkel von Bekanntschaften, die sein Pflegesohn in  Merkur gemacht hat, ist nicht hinreichend, ihn seinem Glücke einen Fingerbreit näherzubringen; gleichwohl braucht er Unterstützung; was wird also aus ihm werden?

Zum Glücke hat ihn sein Gönner zum allgemeinen Erben seines Vermögens eingesetzt; und zum Glücke hat die Meinung des menschlichen Geschlechts einen so großen Reiz auf Geld und Vermögen gelegt, der wie ein Magnet eine Menge bereitwilliger Diener und Freunde zu ihm hinzog, daß er zeitlebens überflüssig genug gehabt hätte, wenn alle angebotne Dienstleistungen erfüllt worden wären. Sophronius, Emilie und andere, die ihn vorher als einen Verworfnen, als einen unwürdigen Auswuchs der Natur kaum eines Blickes würdigten, sahen ihn itzt mit ganz andern Augen an, machten ihm Platz, sagten ihm Komplimente, erteilten ihm Lobsprüche und sahen in völligem Ernste eine Menge guter Eigenschaften an ihm glänzen, die seine vorige Armut verdunkelt hatte. Wie viel Philosophie gehörte dazu, eine solche Veränderung zu fühlen und sie nicht zu seiner Verschlimmerung zu fühlen!

Unter allen, die sich beeiferten, diesem neuen Günstlinge des Glücks gefällig zu werden, war der junge L. einer der ersten. Kaum hatte er erfahren, daß Selmann, dieser ernste Sittenverbeßrer, gestorben sei, als er sich bei seinem Erben einfand und seine ehmalige Freundschaft fester zu knüpfen suchte. Knaut war nicht sonderlich gemacht, Freundschaften zu erwerben und zu unterhalten; allein die einmal gemachten ließen ein unvergeßliches Andenken in ihm zurück. Der junge L. war also glücklich genug, sein Vertrauen in kurzem zu gewinnen. Er beredete ihn, wenn er zur Besitznehmung seines Vermögens reisen würde, es in seiner Gesellschaft zu tun. Es geschah; die Reise wurde angetreten.

Nicht länger als einen Tag hatten sie miteinander ihren Weg fortgesetzt, als sie des Abends plötzlich von einer gebietrischen Stimme angehalten wurden. Der Fuhrmann befand es für dienlich, sich nicht zum Gehorsame zwingen zu lassen; er hielt, und ohne ein Wort zu wechseln, wurden die beiden Reisenden von ihren Sitzen gehoben, fortgetragen und in eine Höhle gebracht, die einige kleine Lampen kaum so helle machten, daß man die nächsten Gegenstände unterscheiden konnte. Der junge L. stellte sich höchst ungebärdig; aber mein Held ließ sich mit der völligen Kaltblütigkeit eines Stoikers, unbesorgt für den Ausgang dieses Abenteuers, in die Höhle transportieren.

Wenn wir es ruhig abwarten wollten, um zu erfahren, was dies alles bedeuten soll, so müßten wir acht ganze Tage noch in der Ungewißheit bleiben; denn so viel Zeit mußte der arme Knaut gebunden in dem armseligsten Zustande verfließen sehn. Zu Mittage und Abends wurde ihm zwar eine Mahlzeit gereicht, allein sie war so dürftig und so unappetitlich, daß sie einen Missetäter hätte zum Bekenntnisse nötigen können. Dem ungeachtet entfuhr ihm nicht ein Seufzer. – Nur gut, sagte er sich, daß sie mich nicht zu Tode hungern lassen! daß sie mich nicht bei gelindem Feuer braten oder Schlangen und andern giftigen Tieren preisgeben! Nur gut, daß sie mir statt des Brotes nicht Baumrinde, Wurzeln oder noch etwas Ärgeres und zum Tranke faules verunreinigtes Wasser reichen! – Ich bekomme wenig; ist doch meine Bewegung nicht stark und also der Hunger noch weniger. – Vielleicht nimmt mein Appetit, wenn ich in diesem Zustande lange bleibe, so sehr ab, daß ich zuletzt mit dem zehnten Teile dessen, was ich itzt genieße, mein Leben erhalten kann, und man ist immer glücklicher, je weniger Bedürfnisse man hat.– Ich bin gebunden, das ist wahr; ich habe meine Freiheit nicht – aber warum denn nicht? – ich kann ja denken, wenn und was ich will; ich kann wollen, was mir beliebt – aber tun? – freilich nicht! – Zwar wer will mir es denn wehren? Ich habe ja die Fähigkeit, alles zu tun, was ich will! Ist diese nicht die einzige Freiheit? Diese kann mir niemand nehmen; mitten in Ketten und im Gefängnisse bin ich frei; was bin ich also schlimmer als sonst? – Ich bin frei; ich habe keinen Schmerz, keinen Mangel, ich empfinde keine von den Unbequemlichkeiten, die ich vorhin unter den Menschen von allen Seiten auszustehen hatte; ich bin glücklich, denn was gehört zum Glücke mehr als nichts Unangenehmes empfinden? – Ich bin glücklich!

Wer sollte wohl glauben, daß dieses Selbstgespräch eine Reihe von Gedanken ansponn, aus welchen der ganze Faden seiner künftigen Denkungsart und seines Betragens entstund? – Eigentlich war es nur ein Stück von der Gedankenreihe, deren erstes Ende die Mutter Natur zu spinnen angefangen hatte; die Leiden seiner ersten Jugend härteten sein Gefühl zu Beschwerlichkeiten ab; ein mindrer Grad von Elend war ihm also schon Glückseligkeit; das Schicksal hielt ihn von jeder Art der Freude entfernt; da er sie in der Folge genießen sah, war seine Empfindung schon stumpf, um sie mitzugenießen; seine Mutter hatte ihm durch ihre Härte einen unauslöschlichen Haß gegen alles, was sich weiblich nennt, eingeflößt; also war ihm auch von dieser Seite her der Weg versperrt, an einem frohen Leben Geschmack finden zu lernen; Selmann gab ihm den seltsamen Schwung der Gedanken, jede Sache von einer eignen Seite anzusehen, die Grundsätze, in jeder Situation des Lebens sich glücklich zu dünken, daß man, um glücklich zu sein, nur die Vorstellung brauche, daß man es sei, und andre von ähnlichem Schlage; durch Selmanns Toleranz wurde seine natürliche Kaltblütigkeit vermehrt, und auf der andern Seite bekam seine Empfindung in dem Maße, wie sie sich durch das Beispiel ebendesselben Mannes verstärkte, zugleich eine romanhafte Richtung: Er empfand nicht anders als außer dem gewöhnlichen Gleise, das heißt, bei keiner Sache das, was man ordentlicherweise dabei fühlt; die letzte trübe Periode seines Patrons, wo er mit der Welt und allen ihren Herrlichkeiten ganz uneinig wurde, gab meinem Helden, wo nicht Verachtung, doch wenigstens Gleichgültigkeit gegen alles Blendende des menschlichen Lebens, das künftig zu seiner Kenntnis gelangen konnte, verminderte zum voraus den Eindruck desselben, wenn es ihm gegenwärtig war, und erleichterte ihm die Verachtung desselben, wenn er es entbehren mußte; alle diese Ingredienzen – eine solche Natur, solche Schicksale, solche Beispiele – werfe man in eines Menschen Leben zusammen, und ich bin gut dafür, daß nichts anders aus diesen Elementen entstehn wird als so eine stoische Karikatur wie Tobias Knaut. Ähnliche Materialien waren es, aus welchen das Leben seiner Vorgänger, der alten Stoiker, bestand und aus denen ihre stoische Denkungsart und ihr stoisches Betragen aufwuchsen; ähnliche innere und äußere Veranlassungen lenkten ihre Ruhmbegierde auf ein trauriges ernstes System und zwangen sie, auf düstern öden Wegen zur Bewundrung zu gelangen, so wie andre durch entgegengesetzte Ursachen auf sanften Blumenpfaden dazu geführt wurden.

Mag doch Posidon mitten unter den brennenden Schmerzen der Gicht noch so gelehrt beweisen, daß der Schmerz kein Übel ist! Viel weniger ist das, als in einer dunklen Höhle, in Fesseln bei dem kümmerlichsten Leben, in der traurigsten Ungewißheit wegen der Zukunft ruhig bleiben – ja, sich gar für glücklich halten!

Den zweiten Tag rückte Knauts System schon um etliche Schritte weiter: Wenn ich in Banden, in einem Zustande, den andre Menschen höchst elend nennen, glücklich bin, so kann ich es in jedem Zustande des Lebens sein. Mein Glück hängt also von mir und nicht von den äußern Dingen ab. Ich trage es in mir; ich bin mir selber genug. – Andre Menschen sind bald glücklich, bald unglücklich, warum? – Weil ihr Glück von den äußern Dingen abhängt; weil sie sich gewisse Sachen als ein Glück vorstellen – ihr Mangel muß sie also elend machen. – Sonach käme es ja bloß auf meine Vorstellung an, ob Sachen außer mir ein Glück sein sollen? – Es ist nicht in meiner Gewalt, König, reich, geehrt zu sein – ich will mir vorstellen, es sei kein Glück; und so ist es auch keins für mich. Hab ich diese Vorteile nicht – gut, ich entbehre nichts! – Ich stelle mir vor, daß ich ohne sie glücklich bin, und ich bin es.

Wenn ich nichts außer mir für ein Glück halten will, sagte er sich bei einer dritten Revision seiner Gedanken, so muß ich meine Augen und alle Sinne verschließen, daß sie mir nicht die Wirkung aufdringen, wodurch sie andre Menschen verführen. Ich muß gegen alles unempfindlich sein; dadurch bringe ich's dahin, daß ich nie etwas entbehre und folglich beständig glücklich bin.

Keine Philosophie, als die gegenwärtige, war für seinen Zustand heilsamer, und mich deucht, das sind für jeden Menschen die besten und für ihn die richtigsten Grundsätze, die ihm seine Umstände erträglich oder angenehm machen, mag er sie doch aus dem Alkoran oder den Schriften des Trismegistus gelernt haben.


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