Johann Karl Wezel
Lebensgeschichte Tobias Knauts
Johann Karl Wezel

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Erster Band

Simia quam similis, turpissima bestia, nobis!
Ennius ap. Cic.

Vorrede

Gewiß ist es freilich nicht, ob diese Schrift dem Leser, wenn er sie durchblättert, ebenso vieles Vergnügen verschaffen wird oder kann, als sie ihrem Verfasser verschaffte, da er sie schrieb; und doch ist sie bloß wegen der Vermutung, daß dieses geschehen könnte, aus einem Manuskripte zu einem Buche geworden. An sich war sie zu einer Ergötzlichkeit bestimmt, die mich, bei einem Sommeraufenthalte auf dem Lande, an regnichten, trüben Tagen, in meinen Erholungsstunden, den Verlust der Gesellschaft und des Spazierengehens nicht fühlen lassen und die Runzeln, die Nachdenken und ernsthafte Beschäftigungen auf der Stirn und im Kopfe versammelten, zerstreuen sollte. Durch eine sehr natürliche Verbindung der Ideen – wenigstens für einen Menschen mit einem kleinen Autortriebe sehr natürliche Verbindung der Ideen – fiel mir ein, daß mehrere ehrliche Leute sich in ähnlichen Umständen befinden, daß in meinem Leben an mehrern Tagen Wolken am Himmel und Runzeln auf der Stirne sein könnten; und so wurde beschlossen, daß dieser erste Band gedruckt werden und nach der größern oder geringern Anzahl meiner regnichten, trüben Stunden bald oder langsam ein zweiter, ein dritter, ein vierter und kein einziger weiter nachfolgen sollte – es müßte denn sonderbarerweise mir zeitiger einfallen, nicht mehr zu schreiben, oder noch sonderbarerweise andre Leute zeitiger aufhören, lesen zu wollen. Läse nun niemand nicht einmal den ersten Band, so wäre das wohl ein wunderlicher Streich, den ich mir mit Hülfe meines ganzen Vorrates von Demut in der Geschwindigkeit nicht gleich erklären könnte; allein ich müßte außerordentlich wenig Anlage zu einem Autor haben, wenn ich die Langeweile und den Überdruß des Publikums in meinem Plane die geringste Veränderung machen ließe. Geschrieben würden alle vier Bände, mit dem einzigen Unterschiede, daß ich sie alsdann allein, und zwar ungedruckt, lesen würde; und noch bin ich nicht gut dafür, ob ich nicht sogar auch diesen Autortrotz fahrenlassen und das ekle Publikum fragen würde, mit was für einem andern Gerichte ich ihm zu seinem größern Nutzen oder größerm Vergnügen dienen könnte. Verlangte man nun alsdann nichts als lauter bloß nützliche Bücher von mir; Bücher, worinnen das Paar Wahrheiten einnehmend vorgetragen würde, die der menschliche Verstand in den Augenblicken eilfertig aufliest, da er sich unter der Sonne in einem Zirkel von einem höchstens fingerlangen Diameter herumdreht; Bücher, die das wenige, was man bei einer so hurtigen Umdrehung, wodurch noch obendrein der Kopf leicht wirblicht und die Aufmerksamkeit gehindert wird, bei einem flüchtigen Umsehen beobachten kann, mit so einer Deutlichkeit und Überredung lehrten, daß mancher Gutmeinende Regeln seines Verhaltens und Ersparung vieler Fehltritte daraus lernen könnte; Bücher, die durch den Wert der Sachen und nicht durchs Kleid reizten, die unmittelbar zu dem Verstande und dem Herzen redeten, ohne die Phantasie zu ihrem Sprecher zu gebrauchen; Bücher, voll Solidität, voll Tiefsinn, Scharfsinn, Empfindung und – ach, wer weiß, was das begehrliche Publikum noch weiter verlangen möchte? – eine solche Foderung würde allerdings für mich so unerwartet als bestürzend sein. Indessen, wenn das Publikum, d. h. der größere Teil der Leser, eine solche Foderung tun könnte – vorausgesetzt, daß meine Kräfte nicht unter den Kräften der übrigen irdischen Autoren wären, vorausgesetzt, daß die ganze Nation solche Bücher lesen würde –, so könnte ich bloß in den regnichten Stunden eines siebzig- oder achtzigjährigen Lebens die sämtlichen Mitglieder dieser Nation zu weisen, vernünftigen und – tugendhaften? – wenigstens nicht lasterhaften Menschen machen; und gut und gern wollte ich auch in diesem Zeitraume alles, was sie dazu machen könnte, doppelt und dreifach gesagt haben. Fielen nun gar in dieser Periode sehr viele nasse Jahre ein wie das vergangene siebzigste und einundsiebzigste – oh, so könnte ich in der einen Hälfte eines solchen Lebens meine Mitbürger zu wahren Menschen schreiben und die andre Hälfte, zur Belohnung meiner Arbeit, unter glücklichen Menschen verleben. Wie feuert ein solcher Gedanke an! und wie sehr wäre es alsdann der Mühe wert, Autor gewesen zu sein!

Aber um dieses erhabene Projekt zu bewerkstelligen, müßte ich vorher die Menschen alle ihre Fehler und Gebrechen lehren und – ye Gods! – sie überzeugen, daß es Fehler sind, daß dieser und jener Sterbliche sie besitzt – mir schwindelt! –, und wenn ich Myriaden Jahre lebte und in diesem ganzen Leben keine Minute Sonnenschein, sondern lauter Regenwetter vom Morgen bis zum Abend wäre – ich bin gewiß, ich wünschte mir am Ende davon noch einmal so viele Myriaden, um doch den leidlichen Anschein von guter Hoffnung, daß meine Bemühungen mit der Zeit etwas fruchten könnten, nicht so ganz vereitelt zu sehn.

Vorderhand lasse ich also das weitläuftige Projekt, zur Besserung der Bewohner des bekannten Erdbodens zu schreiben, ganz und gar fallen und bitte alle diejenigen, die sich gutherzigerweise damit zu befangen gedenken, es gleichfalls fallenzulassen, wenn sie nicht – das Geld zu Unterhaltung ihrer nächtlichen Lampe wegwerfen wollen.

Alles, was ein Mann tun kann, den das Verhängnis unter der Konstellation eines Schriftstellers nun einmal hat geboren werden lassen, ist, daß er mit den Lesern zu spielen scheint und, wie ein weiser Pädagoge, unvermerkt Unterricht in das Spiel mischt. Alles das hat Horaz schon vor achtzehnhundert Jahren, und wie viele haben es nach ihm innerhalb der achtzehnhundert Jahre gesagt! Aber das hat doch keiner unter ihnen gesagt, daß ich diesen Rat in meiner gegenwärtigen Schrift auszuführen versuche.

Keine Rolle scheint sich in dieser Absicht für einen solchen Schriftsteller, der

– admissus circum praecordia ludit,

besser zu schicken als die Rolle eines stillen, gleichgültigen Beobachters, der den größten Teil des polizierten menschlichen Geschlechts als prädestinierte Toren, einen geringern Teil als prädestinierte Dummköpfe und den schwächsten als unglückliche Schlachtopfer des Lasters betrachtet. Die Letzten muß er beklagen und, da er sie nicht bessern kann, ihre Rettung der Zeit und dem Zufalle überlassen; für diese schreibt also ein solcher Autor nicht, und wer weiß, ob irgendeiner, von welcher Art er sei, für sie mit Nutzen schreiben kann? Ebensowenig schreibt er für die Klasse der Dummköpfe: Sie verstehen sein Spiel nicht; und wer sie bessern wollte, müßte – Tiere abzurichten gelernt haben.

Nichts bleibt ihm also übrig als der klügere Teil des menschlichen Geschlechts – die prädestinierten Toren. Für diese schreibe er; spiele lächelnd mit ihnen und stoße heimtückisch ihnen den Pfeil in die Seite, und wenn sie es fühlen, dann hole er gleich den Spiegel her, um sie die Grimassen, die sie dabei machen, sehen zu lassen. Gewiß werden sie doch wenigstens ein wenig rot werden, und so ist immer noch Hoffnung vorhanden, den Grad ihrer Torheit vermindert zu sehn – alles, was ein Autor erwarten kann!

Ein andres Geschäfte für diesen Schriftsteller wäre, von den mehr verschuldeten Torheiten diejenigen abzusondern, die einen näheren Grund in der Unvollkommenheit und Gebrechlichkeit unsrer Natur haben. In dieser Hinsicht würde er den menschlichen Tugenden alle die prächtigen Lumpen abreißen, die ihr Nichts bedecken. Eine gewisse Gattung von Toren, die alle ihre guten Handlungen als Wirkungen ihrer tugendhaften Entschließungen voller Stolz ansehen und das Gute andrer Menschen durch eine zu genaue Zergliederung weit unter das ihrige erniedrigen, könnte daraus lernen, in ihrer Kritik weniger strenge zu sein und über ihren Stolz mehr zu erröten, wenn sie belehrt würden, daß ihre sogenannte Frömmigkeit zuerst sich vor dem Jahre, als sie den großen Fall zur Hintertreppe herunter taten, in ihrem Kopfe angesetzt hat oder daß sie heute ihren Feinden von Herzen vergeben, weil die glücklich wiederhergestellte Öffnung des Leibes sie heute von der großen Unverdaulichkeit befreit hat, in welcher sie ihnen gestern den Tod wünschten. – Eine andre Gattung, die, durch die Strenge unsrer moralischen Taxatoren abgeschreckt, lieber nicht als mühsam tugendhaft sein wollen, könnten bei der Gelegenheit erfahren, daß die menschliche Tugend wie jede Pflanze wächst, daß zu ihrem Anbaue nichts erfodert wird, als daß man Zeit und Witterung bei ihrer Bestellung in acht nimmt, das Ungeziefer zuweilen abliest, sie zuweilen begießt, und daß sie recht gut fortkömmt, wenn der Boden nur nicht toter Leim ist.

Sehr vielerlei Geschäfte könnte ich diesem Autor noch auftragen; allein ich habe noch drei Bände und folglich auch noch drei Vorreden zu schreiben: Für diese werde also das Gute, das ich noch sagen könnte – welches bei jedem Autor immer mehr beträgt als das Gute, das er gesagt hat –, heilig aufbewahrt!

Unterdessen könnten einige Mutwillige aus obiger Theorie den boshaften Schluß ziehen, als wenn der Herr Verfasser für sein Büchelchen keine andre Leser als prädestinierte Toren erwartete oder wünschte, und das wäre doch ein ärgerlicher Mißverstand! –Jeden, der ihn liest, wird er, solange er liest, für den Gescheutesten, den Weisesten etc. halten. Wenn diese Erklärung keine Leser anlockt, so muß er Geld daraufsetzen, daß ihn jemand liest.

Noch ein andrer Mißverstand! Man könnte ihn auch bei dem ersten Anblicke für einen von den Nachtretern des Tristram Shandy ansehen, deren Köpfe mit dem süßen Gefühle der menschlichen Schwachheiten, womit ihr Vorgänger seine Schriften parfümiert hat, wie mit dem süßlichen Geruche eines Räucherpulvers so angefüllt sind, daß sie vor Schwachheit – taumeln. Am meisten ist diese Mißkennung von gewissen Leuten zu besorgen, die kein fremdes Gesicht sehen können, ohne auf der Stelle eine Ähnlichkeit mit einem andern bekannten Menschengesichte ausfündig zu machen, und wenn sie auch nur in einer Blatter oder Narbe bestünde – und in dem gegenwärtigen Falle des Autors kann keine Ähnlichkeit als höchstens die anscheinende Unordnung stichzuhalten scheinen. Er hätte auch sogar nicht daran gedacht, wenn ihm nicht etliche Leute wohlmeinend so eine Vergleichung ins Ohr gesagt hätten.

»Soviel Ehre es für mich sein würde«, sagte die bescheidene +++ zur Frau †††, »Ihrer Tante ähnlich zu sein, so bin ich doch lieber mir ähnlich« – und wenn jemand einen Beweis verlangt, daß ich Ursache habe, auch mit einer so bescheidnen Dreistigkeit zu sprechen, der kann ihn in der Form hören.

Ein ganzes Jahr lang hatte ein Teil dieser Kleinigkeit bald vergessen in meinem Schreibepulte gelegen, als ich Sternen erst aus dem Richterischen Abdrucke seiner Schriften kennenlernte, ohne ihn vorher anders als aus der unvollständigen Beschreibung eines Freundes zu kennen, der die Übersetzung gelesen hatte. Als ich ihn selbst gelesen, so entstund in mir der Einfall, mein Manuskript hervorzusuchen und mich meines Helden, dessen merkwürdiges Leben beinahe unbeschrieben geblieben wäre, von neuem anzunehmen. Die erste Hälfte dieses Buchs und der Plan der ganzen Geschichte ist also gewiß keine Nachahmung, wofern es unmöglich ist, ein ungelesnes Buch nachzuahmen; und wenn ich überhaupt jede Vergleichung mit irgendeinem andern gedruckten Buche verbitten dürfte, so glaubte ich so beurteilt zu werden, wie ich beurteilt zu werden wünschte. Diese Bitte an Rezensenten und Leser habe ich darum für schicklich und nötig geachtet, weil sich bei den meisten Mitgliedern dieser beiden Zünfte ein gewisser vergleichender Ton der Beurteilung eingeschlichen hat, daß man einem ehrlichen Mann nie geradezu sagt, ob seine Nase völlig gerade ist, sondern daß ihr, um Evanders Nase zu sein, nichts fehlt, als daß sie nicht zwischen Evanders Augen steht. Eine von den beiden Nasen muß offenbar zu kurz dabei kommen!

Die Erfüllung dieser Bitte wird zugleich verhüten, daß man mein Buch nicht aus einem falschen Gesichtspunkte ansieht. Mag doch immerhin niemand so erzählt haben oder gewöhnlich so erzählen! gewöhnlich niemand den Plan seiner Erzählung mit so schwachen Fäden, oft nur mit einem Menschenhaare, zusammenhängen! – Ich weiß es, der meiste Teil der Leser fodert eine fest zusammengeknüpfte, nie unterbrochne, in gleicher Linie fortgehende Reihe der Begebenheiten, und ich für meinen Teil finde nichts Einschläferndes als solche Erzählungen in gerader Linie. Lieber mache ich mir selbst zuweilen mit meinen Gedanken einen kleinen Ausweg, wenn ich sie lese, und der Erzähler, der mich immer bei der Hand hält und nicht einen Fingerbreit vom geraden Wege weglassen will – von dem reiße ich mich gewiß los, ehe wir sechs Schritte miteinander gegangen sind.

Mein Plan sollte dem Plane der wirklichen Begebenheiten ähnlich sein: alles ohne Ordnung scheinen und nichts ohne Endzweck sein.

Oder auch: Man betrachte mein Buch als einen langen Spaziergang, wo man nicht mit einer so festgesetzten Marschroute als bei einer Reise nach Paris ausgeht. Der Ort, wohin wir wollen, ist bestimmt, selbst der Weg, der uns dahin bringen soll; aber unterweges lockt uns eine schöne Blume auf der nahen Wiese – sollten wir denn nicht ein paar Schritte vom Wege abgehn und sie pflücken? – Es reizt uns ein Wasserfall; es ist eine Anhöhe in der Nähe, auf welcher eine vortreffliche Aussicht sein soll – wir wollen sie besteigen! – Zuweilen kehren wir wohl gar bei einem Freunde ein, und nach einem kurzen Aufenthalte kommen wir wieder auf unsern Weg zurück. So eine Einkehr ohngefähr ist in diesem Bande die Geschichte des wiedergefundenen Sohns. – Allerdings gibt es Leute, die es als eine Tändelei ansehn, wenn man um einer Blume, um einer Aussicht willen vom Wege geht; aber gewiß liegt die Schuld daran, weil sie den Schnupfen oder ein blödes Gesicht haben.

Auf diesem Wege, müssen meine Leser denken, fände sich eine treuherzige, ehrliche Menschenfigur zu ihnen, netto drei Ellen hoch und anderthalben in der größten Breite, auf der rechten Seite des Gesichts voller Simplizität und Gutherzigkeit und auf der linken voller tückischen Schalkhaftigkeit. Das gute Geschöpf – wofür sie ihn halten wollten, käme bloß darauf an, auf welcher Seite sie ihn gehen ließen – erzählte ihnen bald ein Anekdotchen von der Madam  ♀, der gnädigen Frau  Jupiter, dem Herrn von  ♂ und zu  Saturn, und andern; bald erzählte er unter veränderten Namen ihnen ihre eigne Geschichte; bald ließ er ein paar Anmerkungen aus seiner Studierstube mit unterfallen, und was er allenfalls weiter noch tun könnte; und dieser Gesellschafter, der neben ihnen herschlendert, ist niemand – als der Herr Autor.

Sollte man übrigens sich bereden können, daß mutmaßlicherweise dieser Mann mit der Zeit auch kleinere und größere erträgliche, ernsthafte Werkchen schreiben könnte, so wäre er nicht ungeneigt, etliche dergleichen, die teils in seinem Kopfe, teils in seinen Papieren vergraben liegen, hervorzuziehen und ihnen die Gestalt eines Buchs zu geben; aber so bald nicht. – Einer meiner Ureltern aß keinen Bissen, ohne ihn vorher durchs Mikroskop betrachtet und das, was seiner Meinung nach schädlich war, abgelesen zu haben. Freilich ging es so langsam zu, daß er vom Mittagessen aufstand, wenn andre Leute sich zur Abendmahlzeit niedersetzten; aber sein Leben wurde dadurch außerordentlich nüchtern, jeden Tag ersparte er eine Mahlzeit, und – der Mann ist fünfundneunzig Jahre geworden!

Wäre auch mein Autorleben nur die Hälfte so lang – ohne Mikroskop könnte ich doch nicht schreiben.

Aber wahrhaftig, ich verschwöre es, in meinem Leben wieder eine Vorrede zu schreiben! Indem ich meine durchlese, so steht doch auf jeder halben Seite – der Herr Verfasser und sein Buch! Wer mich darüber tadelt, dem gebe ich es als eine Preisaufgabe auf, eine Vorrede zu schreiben und nicht mit einer Silbe an sein wertes, kleines Ich zu denken. Zur Büßung dafür will ich, mir selbst zum Trotze, hier dem ganzen Geschwätze ein Ende machen, ohne mit einem Worte an meinen Namen zu denken.

W.


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