Johann Karl Wezel
Lebensgeschichte Tobias Knauts
Johann Karl Wezel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2.

Unbegreiflich ist es allerdings, warum er, als der Wagen aus dem Loche gerettet war, seine Erklärung nicht ruhig fortsetzte oder wieder von vorne anfing – aber nur unbegreiflich für den, der ihn nicht kennt.

Ob er gleich in seinem Leben oft gefahren war, täglich fuhr und niemals ein Unglück erlitten hatte, so war er doch so äußerst furchtsam, daß die geringste anscheinende Gefahr seine Aufmerksamkeit und Empfindung ganz auf sich zog. Er sprang daher bei dem gegenwärtigen Vorfalle sogleich mitten in dem Laufe des Gesprächs aus dem Wagen; er setzte sich zwar nach vielen Flüchen und Beteuerungen des Kutschers wieder hinein, allein wenn einmal seine Lebensgeister von der Furcht in die Flucht gejagt waren, wie er sich einstmals selbst ausdrückte, so brauchte es eine lange Zeit, um sie wieder zu einem sanftem Schritte zu bringen. Was Wunder also, daß wir seine scharfsinnige Erklärung entbehren müssen?

Seine Fassung ist noch immer nicht wieder da, und der Bediente geht doch schon, ihn anzumelden. – Selmann, Selmann! was wird aus deinen Beobachtungen werden?

Der Besuch, so spät er ist, wird angenommen, und unsre beiden Ankommenden finden – man gebe acht! – einen Mann von mittlern Jahren, bei dessen erstem Anblicke sogleich der Argwohn verschwand, daß er, wie Selmann war überredet worden, ein großes Genie sei. – Es gibt eine gewisse Miene, einen gewissen Blick, der gleichsam sagt: Hier sucht alles, nur nicht Feinheit des Kopfs! – Diese Miene hatte die Natur auf sein kupfrichtes eiförmiges Gesichte gemalt. Zum Ersatze hatte sie aber einen so starken Pinselstrich von Ehrlichkeit und Gutherzigkeit darauf gesetzt, daß man ihn augenblicklich für einen ehrlichen gutherzigen Mann bei sich erkennen mußte. Er empfing seine ihm ganz fremden Gäste in dem äußersten Negligé: in einem bunten Brustlatze, in schwarzen unzugeknöpften Beinkleidern, niederhängenden weißen Strümpfen und Pantoffeln. Er wartete schon in der Haustür, als Selmann und Tobias ausstiegen, und zog sehr freundlich ein weißes Mützchen von dem glatt beschornen Kopfe, als sie sich ihm näherten. Er bewillkommnete sie höflich, hörte mit keinem einzigen Ohre auf Selmanns Entschuldigungen, daß er unbekannt so spät sich bei ihm eindrang, und nötigte unter unaufhörlichen, fiebermäßigen Bücken seine beiden Gäste, sich in die Wohnstube zu begeben.

Es geschah. Man sprach über verschiedene gleichgültige Sachen, und Selmann war nicht wenig erstaunt, an dem H. v. R. nicht den geringsten Grad von Verrückung, nicht einen Funken von Genie, sondern einen ganz alltäglichen höchst gewöhnlichen Menschen zu finden, der mit jedem Worte, mit jeder Bewegung deutlich zu verstehen gab, daß er auf dem Lande geboren, erzogen, gebildet worden war.

Vielleicht steht er itzt in seiner guten Periode, dachte Selmann, und indem er dies und etwas Ähnliches dachte, trat aus einer Nebentüre – die Frau vom Hause. Sie hatte bei der unvermuteten Anmeldung ihrer Gäste aus großer Liebe zur Ordnung oder, wie andre Leute in ähnlichen Fällen vielleicht richtiger mutmaßten, aus Eitelkeit ihre gewöhnliche, ganz erträgliche Kleidung hurtig abgeworfen und sich in einen Putz gesetzt, wie er nach ihren Einsichten Zeit, Ort und den übrigen Umständen angemessen schien. Wirklich verkroch sich hinter dem Vorwande, ihre Gäste durch ihren Anzug zu ehren, jedesmal die Begierde, ihnen zu gefallen; allein was ist dabei Sonderbares? – Sie war erst achtunddreißig Jahr alt, etwas häßlich und also völlig entschuldigt, wenn sie sich putzte. In ganz Deutschland – vielleicht dürfte ich sagen, in ganz Europa – war sie das Muster deutscher Komplimente und Zerimonien; ihr Hereintritt war so feierlich, so steif, daß vor zweihundert Jahren ein römischer Kaiser auf einem Reichstage nicht feierlicher hat erscheinen können. Dabei lispelte sie eine Menge Bewillkommungskomplimente her, daß Selmann ganz verlegen dastund und nicht wußte, was er mit dieser zierlichen Dame anfangen sollte.

Nachdem sie ihr gelerntes Formular von Komplimenten hergebetet und die bestimmte Anzahl Verbeugungen dazu gemacht hatte – alles fein hübsch nach Stand und Würden, wie ihre hochselige Mama sie hierzu angehalten hatte! –, nachdem, sage ich, dieser erste Artikel des Zerimoniells verrichtet war, so schritt sie zu dem andern und nötigte Selmannen, die oberste Stelle auf dem Kanapee neben ihr einzunehmen. Dieser gute Philosoph, der allen Zwang und besonders die unnatürlichen Grimassen, die man fälschlich hin und wieder noch für Lebensart ansieht, unversöhnlich haßte, nahm ohne Bedenken den angebotenen Platz ein. Dieser Streich verrückte den Gang ihres Zerimoniells. Nach ihrer Regel sollte er sich weigern, sie hätte sich gleichfalls geweigert, bis nach langem Weigern Selmann mit Gewalt sich in die unterste Stelle eingedrungen hätte. Inzwischen faßte sie sich und fing die Unterhaltung an, die in nichts Geringerm bestund, als daß sie ihm mit dem wichtigsten Tone von der Welt erzählte, wohin gestern der Herr von – und der Herr von – mit ihren respektive vier Braunen gefahren sein könnten.

Wenn sie gewußt hätte, daß ihr Zuhörer mit ganz andern Gedanken beschäftigt war, so hätte sie ihrer Lunge wenigstens die Hälfte der Arbeit ersparen können; aber so hielt sie Selmanns unbewegliches Nachdenken für Aufmerksamkeit und verdoppelte in dieser Überredung die Wichtigkeit des Inhalts und des Tons.

Warum war aber auch Selmann gerade itzt nachdenkend? Pfui! neben einer Dame nachzudenken!

Ich gestehe es, ich kann ihn hierüber nicht rechtfertigen; allein wenn ein Philosoph auf Beobachtungen an einem verrückten Gehirne ausgeht, keine einzige Gelegenheit findet, seinen Beobachtungsgeist zu weiden, und alltägliche Märchen anhören soll – wenn ein solcher alsdenn nicht nachdenkend wird, so muß ich mich so sehr wundern, als Sempronia sich wundert, daß man bei ihrem Gespräche es allemal wird.


 << zurück weiter >>