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10.

Nun waren sie drei Wochen hier, Wochen, die lang waren und doch kurz. Lang, weil die Tage äußerlich still verstrichen, einer dem anderen gleich, ohne Hasten, ohne Aufregung – kurz, weil die Natur immer Neues bot, mit jeder aufziehenden Wolke, mit jedem Windhauch, mit dem Auf- und Niedergang der Gestirne, mit jeder sich erschließenden Knospe.

Als sei ihr alles neu geschenkt, so sah Elisabeth sich um. Wo war sie denn solange gewesen? Im Dunklen. »Ja, im Dunklen«, sagte sie sich; erst jetzt sah sie wieder.

Langsam, schwer nur hatten sich die müden Lider geöffnet, aber nun war der Blick wieder klar. Wenn sie am Morgen durch den Wald schritt – noch war jedes Gräschen versilbert, die blauen Glockenblumen zwischen den Farnen senkten sich taubeschwert, über das Moos huschten verschämte Sonnenstrahlen, leise stimmten die Vögel an, um lauter, immer lauter sich auszujauchzen – dann war es ihr, als müsse sie aufschreien, aber nicht in Schmerz, nein, in erlösender, befreiender Empfindung.

Ohne daß sie es wußte, begann sie zu summen, zu singen; zaghaft mischte sich ihre Stimme in das Jubilieren der Vögel. Ihre schweren Schritte wurden leichter, elastisch gab das Moos nach. So war sie als Kind gelaufen, als Mädchen – liebe Erinnerungen auf Schritt und Tritt. Sie warf sich zu Boden wie damals, die breiten Fächer des Farnkrautes nickten als Schirm über ihr Gesicht; wohlig streckte sie die Glieder, so lang, so faul. Da ging alles zur Ruh'.

Elisabeth hatte Berlin nicht vergessen, aber das Schaudern, mit dem sie anfangs zurückgedacht hatte, wurde schwächer; die Bitterkeit verlor sich. Sie konnte jetzt über das Vergangene sprechen, ohne eine erzwungene Ruhe zu heucheln; sie suchte sogar das Gespräch, jedesmal sprach sie sich freier. Der Stachel war herausgezogen, die Wunde hatte sich geschlossen; sie fühlte sich wie ein Genesender, der weiß, daß er krank gewesen ist. Und wie der dankbar des Arztes gedenkt, so mußte sie immer an ihren Mann denken.

»Ich glaube an dich!« – – Als alle sie verließen, hatte er ihr das gesagt. Und wieder sah sie den festen Blick seiner hellen Augen in jener dunklen Nacht. Sein Vertrauen, war das nicht ihr einziger Halt gewesen?

Jahr um Jahr ging sie zurück, vier lange Jahre – viel Ringen, viel Enttäuschung, viel Pein. Er hatte mit ihr gehofft, und als sie selbst nicht mehr hoffte, hatte er geglaubt – und sie immer geliebt.

Sie sah sich am Schreibtisch, im Theater, am Bett des Kindes – in ihren tiefsten Nöten. Und aus dem dunklen Wirrsal der Vergangenheit hob sich sein Bild klar ab, immer schärfer wurden die Umrisse, je länger sie hinsah; sein Bild wuchs und wuchs, es wurde zusehends groß vor ihren Augen.

Oft sah sie nach ihm hin mit einer gewissen Schüchternheit. Ob er es merkte, daß sie manchmal in seinen Anblick versank? Früher hatte sie ihn auch oft so traumverloren angeblickt, aber da war es nur Zerstreutheit gewesen, ihre Gedanken waren weit weg. Jetzt waren sie bei ihm.

Ob er es merkte, daß sie ihn suchte? Sie war nicht mehr gern allein; früher hatte sie wohl auch seine Gegenwart gewünscht und sein Nachhausekommen herbeigesehnt, aber nur, um sich vor der angstvollen Unruhe, die sie umhertrieb, zu einem Menschen zu retten. Jetzt war es ein anderes Gefühl.

Sie wurde sich selbst fremd; wie ein neues Ich wachte es in ihr auf, sie mußte sich erst daran gewöhnen. Verwundert hielt sie Umschau. Eine warme Empfindung durchflutete sie – Empfindung über Empfindung –, ach, wer all den Empfindungen Ausdruck verleihen könnte! Die waren zu zart, um in Worte gekleidet zu werden, zu tief innerlich, zu hoch, zu heilig – ja, heilig!

Elisabeth hätte die Hände falten mögen, sie trat in einen großen Dom; der war nicht aus Steinen, nein, wie aus Waldwipfeln gebaut, das Dach der blaue, der freie, der ewige Himmel. Und in dem ewigen Himmel wohnten Gott und die Kunst und die Liebe; die Menschen unten streckten die Hände aus, die einen gläubig, die anderen aus Gewohnheit, die dritten in unbewußtem Verlangen. Und sie selbst sank auf die Knie unter die Menge, hob wie jene die Hände und betete: »Gott! Kunst! Liebe! Jetzt erkenne ich!« – – –

Ebel sah mit Entzücken die frische Röte auf Elisabeths Gesicht wiederkehren; so hatte sie lange nicht ausgesehen, ihre gespannten Züge wurden wieder rund. »Du siehst aus wie als Mädchen«, sagte er und streichelte ihr die Wangen.

Sie hielt seine Hand fest. Sie saßen miteinander im Wald, die Kiefernwipfel über ihnen säuselten schon im abendlichen Wind; eben war der Knabe noch hier gewesen und hatte Erdbeeren gesucht, jetzt hatte er sich mit Mile hinter den Wacholderbüschen verloren. Sie waren allein. Ein wunderbarer Friede schwebte um sie, über ihnen, so weit das Auge reichte und das Ohr. Nicht einmal ein Holzwagen knarrte, kein Specht klopfte an die Baumrinden, nur ganz in der Ferne tönte wie verlorenes Lachen das Gurren der Waldtaube. Dort in der Lichtung, wo das Gras hochschießt um den kleinen, schilfverwachsenen, wasserrosenbedeckten Tümpel, hoben sich schon langsam weiße Schleier, aber höher, zwischen den fernsten Kiefern, stand noch die Sonne, rund und rötlich, und warf den Heiligenschein um die Natur.

»Oh, wie schön!« rief Ebel rasch. »Sieh hin, wie wunderschön! Und wenn ich denke, daß wir armen Städter das so selten sehen oder nur hinter Mauern und Dunst – wer das beschreiben könnte! Der ist glücklich, der das kann! Präg' dir's ein, Elisabeth, sieh!«

»Ich habe es gesehen«, sagte sie träumerisch und ließ den Blick nicht von seinem Gesicht. »Du hast recht: wer's beschreiben kann! Ja, so aussprechen – das ist eine Erlösung!« Sie sah sich um mit einem tiefen Atemzug. »Hier bin ich durch den Wald gelaufen, so frisch der Wind, so stark der Duft, ich jung und gesund – die Lust war zu groß. Wohin mit allem? Ich mußte schreiben. Und jetzt …« Sie senkte den Kopf, aber dann hob sie ihn wieder, ihr Auge suchte das ihres Mannes. »Ich wünschte, ich könnte all das, was ich empfunden habe, was ich empfinde, ausströmen lassen.«

»Schreib dich frei, schreib dich frei!« bat er hastig, als sie träumerisch verstummte, und drückte fest ihre Hand. »Wirf's von dir, mach' dich frei!«

»Ich glaube, das hat Heider auch gesagt«, sprach sie nachdenklich. »›Wir schreiben uns frei. Gott sei Dank!‹« Sie sprang plötzlich auf, hoch und schlank stand sie unter den Waldbäumen, es leuchtete in ihren Augen. »Ich schreibe mich frei!« Es klang wie ein Jauchzen, sie faßte mit der Hand in ihr Kleid, als wollte sie es über der Brust aufreißen. »Frei, frei! Ach werde mich frei schreiben, und dann … dann …« Sie kniete plötzlich neben ihm nieder und legte den Arm um seinen Hals. »Oh, wie soll ich dir danken? Ich danke dir vieltausendmal!«

Ihre Lippen suchten die seinen, und sie küßte ihn innig und warm. »Ich danke – ich danke dir!«

»Warum dankst du mir?« fragte er, zitternd vor Bewegung. »Danke deiner Kunst, die macht dich frei!«

Lebhaft sprang sie auf. »Dir und der Kunst danke ich, ich kann euch gar nicht voneinander trennen. Siehst du,« sie streckte den Arm aus und wies nach der Seite des Waldes, die schon im Schatten lag, »da war ich, da tappte ich herum, im Dunklen; ich jagte einem Irrlicht nach und glaubte, es wäre mein Stern. Nein,« lächelnd schüttelte sie den Kopf, »das führt in einen Sumpf, darin man langsam, aber unrettbar versinkt, wenn nicht eine Hand da ist, die einen herauszieht, einem wieder auf festen Boden hilft. Du mein guter Mann,« schon kniete sie wieder neben ihm, »das war deine Hand!« Sich dicht neben ihn setzend, lehnte sie den Kopf an seine Schulter. »Jetzt sehe ich wohl den wirklichen Stern, er ist mir noch viel ferner, als ich gedacht hatte, aber«, sie sprach mit der alten, mutigen Energie, »ich werde ihn doch erreichen!«

Er sagte nichts, er küßte sie nur; so lange, so fest drückte er sie an sich, daß ihr der Atem ausging. Es durchschauerte sie seltsam, mit einem unendlichen Wohlgefühl lag sie in seinem Arm.

»Du wirst wieder schreiben«, flüsterte er glückselig. Sein ganzer Stolz, sein ganzer Glaube an sie lag in den paar Worten. »Meine geliebte Elisabeth, schreibe und«, er machte eine Pause, »liebe mich!«

»Ich liebe dich!« sagte sie laut und feierlich.

Wie entrückt sah sie in die sinkende Sonne. »Da kommen Bilder und Bilder, Gestalten und Gestalten, ich kann sie nicht zurückdrängen, sie kommen immer näher – aber mitten darin bist du. Sie scharen sich um dich – du trägst ein helles Licht, ich sehe sie alle so deutlich, ach, so deutlich durch dich! Ach!« Mit einem Schrei, halb jubelnd, halb schmerzbewegt, entfuhr es ihr: »Ich muß doch wieder schreiben!« Lachend und weinend zugleich sprach sie: »Ich werde auch wieder leiden. Wer hätte wohl etwas geschaffen, ohne zu leiden? Aber ich werde doch glücklich sein, denn«, sie sah ihm mit ruhiger Heiterkeit tief in die Augen, »ich werde frei!« – –

War das ein Abend gewesen! Ebel hatte das Gefühl, als dürfe er den nie vergessen, als sei er ein Merkstein für sein Leben, für das Elisabeths – für ihr gemeinsames Leben. Lange hatten sie noch mit den Förstersleuten vor der Tür gesessen.

Der alte Jung war heute besonders mitteilsam; er erzählte dem jungen Ehemann von »Fräulein Elisabeth«, als die noch klein war. Das Sternenlicht flimmerte über sein schrumpliges Gesicht und zeigte all die behaglichen Schmunzelfalten. »Ja, die war immer 'n besonderes Mädchen,« schloß er, »aber daß sie noch mal so was werden würde, eine, die schreibt …!«

Elisabeth war zusammengefahren, und Ebel blickte rasch auf. »Woher wissen Sie denn das, Vater Jung?!«

»Ei, das wissen sie doch alle im Dorf«, lachte die Frau, und der Alte schmunzelte: »Da is auch nich einer hier herum, der's Buch nicht gelesen hätte, die ›Einfachen Geschichten‹.«

»Die sind schön«, fiel die Frau ein. »Ich habe Sie immer fragen wollen, woher Sie denn das alles wissen, Fräulein Elisabeth? Ich hab' mich nur geniert. ›Du,‹ sag' ich zu meinem Alten, ›als wenn die 'ne Laterne gehabt hätte und hätt' die Herzen abgeleuchtet wie unsereins den Stall.‹ Sie denken wohl, weil wir hier so auf dem Land wohnen, sind wir zu simpel, um so was zu verstehen? Das haben wir doch verstanden. ›Die kennt uns bis ins Geblüt,‹ sagen die Bauern, ›die hat en Herze für uns!‹ Unser Kreisphysikus, der Herr Doktor Mannhardt, der hat's Buch verliehen, wer weiß wie oft.«

»Mein Doktor!« Elisabeth schlug froh die Hände zusammen. »Mein lieber, alter Doktor! Wilhelm,« wandte sie sich lebhaft zu ihrem Mann, »den hätten wir längst besuchen müssen. Wir wollen auf der Rückreise zu ihm, ja?«

»Gern, sehr gern!«

»Oh, Fräulein Elisabeth!« Die alte Frau hatte die Hände der jungen Frau ergriffen. »Sie haben ein rechtes Geschenk vom lieben Gott bekommen. Sie müssen glücklich sein!« – –

Ein rechtes Geschenk vom lieben Gott – glücklich sein! Das ging Elisabeth durch den Kopf, als sie spät abends am Bettchen des Kindes standen. Nie war ihr der Knabe lieblicher erschienen. Sie fühlte sich frei und leicht, das Blut floß rascher durch die Adern mit einem warmen, starken Erguß. »Die kennt uns, die hat ein Herz für uns«, immer wieder tönten ihr diese Worte in den Ohren, und sie fühlte ein freudiges Herzklopfen, eine glückliche Erregung. Sich freuen mit den Fröhlichen, weinen mit den Weinenden, ja, das konnte sie!

Von raschem Impuls getrieben, umschlang sie ihren Mann. »Ich will weiter nichts«, sagte sie hastig. »Und wenn mich auch niemand sonst kennt, ein paar Herzen nur, vor allem dein Herz! Und eine Kunst hab' ich doch auch«, setzte sie hinzu und hob stolz den Kopf. »Ich habe sie doch

Sie standen am Fenster; sie sprachen leise, um das Kind nicht zu stören, es klang wie das Geflüster von Liebenden. »Dein Stern!« Er wies hinauf zum Himmel. Da stand der Abendstern, größer als alle anderen, funkelnd im blauen Licht. »Der steht unwandelbar, der vergeht nicht!«

*

Sommertage, Sonnentage waren dahingegangen. Schon wehen weiße Fäden immer dichter über die leeren Felder, schon sind die Morgen und die Abende kühl, in den Nächten tut es wohl, sich warm aneinanderzuschmiegen. Die Früchte in den Gärten locken; strotzend von Saft, schwellend von Reife, hängen sie an den Bäumen, man braucht nur leise daran zu rühren, so fallen sie einem in den Schoß. Das ist die köstlichste Zeit des Jahres. Kein schmachtendes Frühlingssehnen, keine ermattende Sommerglut, nein, herbstlich gesunde Frische, und doch noch kein Vergehen. Alles ist reif, voll, gesättigt von freudigem Genießen.

»Jetzt verlassen wir all das«, sagte Elisabeth, als sie am letzten Abend über die Heide schritten, Hand in Hand. Mit einem großen Blick sah sie sich weit um; mit geöffnetem Mund, mit zitternden Nasenflügeln sog sie den herben Duft ein, ihr glänzender Blick wurde feucht. »Wie der Wind geht«, murmelte sie. »Wie das riecht, riecht – ha, so köstlich!« Sie breitete die Arme aus und sprang auf die kleine Erhöhung mitten im voll blühenden Heidekraut. Hier sah sie noch weiter hinaus, hier blähte der Wind ihre Kleider und blies sie durch und durch. Sie stieß einen Schrei des Entzückens aus. »Siehst du, Wilhelm, wie schön das alles ist? Man muß es lieben, man kann es gar nicht genug lieben. O du mein Land, du meine Heimat!« Noch weiter breitete sie die Arme aus und drückte sie dann mit einer inbrünstigen Gebärde an die Brust.

Er trat zu ihr, und, ihr in die feuchten Augen sehend, fragte er: »Wird es dir schwer, die Heimat zu verlassen, Elisabeth?«

»Nein. Meine Heimat ist nur bei dir, das fühle ich wohl. Und ich nehme ja alles mit.« Ihre Linke faßte seine Hand, mit der Rechten wies sie weit in die Runde: »Alles!« Sie hatte eingeatmet, so tief, so stark, als sollte die Heimatluft ihr die Brust füllen bis zum Rand, bis zum Überfließen. – –

*

Und nun saßen sie in der Eisenbahn, noch wenige Stunden, und die große Stadt, das ungeheure Häusermeer, das gierige, nicht rastende Ungetüm, das Chaos von Menschen und Schicksalen war erreicht.

Der Abschied war überstanden. Wie bei der Ankunft, so waren auch heute morgen die Leute auf die Dorfstraße geeilt; weinend hatte die Lindnern den prächtigen Asternstrauß in den Wagen gereicht und ein Körbchen rotwangiger Äpfel für ihren Liebling. Immer wieder küßte sie ihn.

»Wir kommen wieder«, hatte Elisabeth gesagt und der Weinenden die Hand gedrückt. »Wir kommen wieder im nächsten Jahr, gewiß. Wir kommen immer, wenn wir müde sind. Das Kind soll dich nicht vergessen, wie ich dich nicht vergessen werde, euch alle nicht – und das alles nicht!«

»Aufs Wiedersehen«, hatten die Leute treuherzig gerufen. »Auf Wiedersehen!« sagte dankbar Elisabeth. Sie war weich und doch froh bewegt, sie fühlte ihr Herz stark und doch gleichmäßig pochen; ihre Wangen waren rot und gebräunt, ihre Gestalt von kräftiger Frauenfülle. Das war wieder der alte, sonore Klang des Organs; das Lachen war nicht mehr so sorglos übermütig, es war zum Lächeln geworden.

Auf der Bahnstation angekommen, war sie unangemeldet in des alten Mannhardt Doktorstube getreten und hatte ihren Mann an der Hand nachgezogen.

»Alle Wetter, Elisabeth!« Der weißhaarige Mann sprang auf, daß der Stuhl hinter ihm umpolterte. »Mädel! Frauchen!« Und dann schloß er sie in die Arme. Das war noch die alte väterliche Freundschaft, gemischt mit einem leisen Respekt. »Was ist aus dir geworden, mein Kind,« sagte er achtungsvoll, »eine Dichterin und«, er sah Ebel mit dem klugen Blick der ungetrübten Augen scharf an, dann schüttelte er ihm herzlich die Hand, »eine glückliche Frau! Ich weiß alles«, sagte er und nickte Elisabeth zu. »Da,« er wies auf ein Bücherregal an der Wand, »da stehen deine Bücher! Ich habe dich immer begleitet. Und jetzt,« er klopfte ihr die Wange, wie er es dem Mädchen so oft getan, »jetzt sehe ich dich, und jetzt freue ich mich!«

Es war eine schöne Stunde gewesen, voll gegenseitiger Freude; als der Doktor Elisabeth ins Abteil half, gab er ihr einen herzhaften Kuß. »Eigentlich müßte ich dir böse sein, daß du dich so lange nicht um mich gekümmert hast, aber, weiß der Kuckuck, ich habe dich doch lieb behalten.«

Die Lokomotive stieß den Dampf aus. »Ab Berlin!« schrie der Schaffner.

Der Alte sprang zurück, riß den Hut vom flatternden weißen Haar und schwenkte ihn kräftig. »Hallo! Mach' deine Sache gut! Lebe wohl, Elisabeth Reinharz!«

Ein schriller Pfiff – fort geht's mit Sausen und Dampf und Funkensprühen. Die blauen Wälder bleiben zurück, die rote Heide und die stillen Felder. Eine Wolke von Rauch stößt der Schornstein aus, die Lokomotive pustet und schnaubt und stöhnt, neue Kohlen wirft der Heizer in die Glut, der Rauch wird dichter, schwarz steigt er in die klare Luft – immer heißer, rascher, immer stürmischer –, fort aus der Stille in die Welt!

Berlin … Berlin …! Da tauchen die Vororte auf, rastlos fliegt der Zug vorbei … da Wasserwerke und Gasrotunden … da Fabriken und Magazine … da Kohlenplätze und Lagerspeicher … da fließt die Spree, beladene Kähne schleppen Holz, Steine, Früchte. Da sind noch Äcker, mit Gemüsen und Kartoffeln bestellt … unzählige Vorposten, ins Feld gerückt, um herbeizuschaffen, um herzustellen, um einzuheimsen für das große, gefräßige Ungeheuer.

Die Geleise werden breiter … hierhin, dorthin … sie sind nicht mehr zu zählen. Eine Riesenstraße führt hinein in den Riesenschlund. Die Wagen rollen rascher, eiliger drehen sich die Räder, die Achsen werden heiß; die Menschen können es kaum mehr erwarten. Sie werden dahingerissen, immer näher.

Schon sinkt die Wolke von Staub und Dunst und Qualm, fahlrötlich, durchschwelt von Laternen und Schloten und Lichtern. Es ist dunkel, aber keine Kühlung weht; da arbeiten Millionen von Lungen und stoßen den Atem aus – kein Feierabend. Da rühren sich noch unzählige Hände. Keine Ruhe, keine Rast – Berlin, Berlin!

Elisabeth stand am Fenster, vom Arm ihres Mannes umschlungen.

»Berlin«, sagte Ebel und wies hinaus. Da streckten sich die ersten Häuserreihen, riesenhoch und riesenlang, Fäden eines ungeheuren Netzes, Arme eines Polypen, der festhält und umklammert.

»Berlin«, sagte sie leiser und lehnte sich fester an ihn.

»Fürchtest du dich?«

»Nein!« In kräftiger Entschlossenheit richtete sie sich hoch auf und drückte seine Hand. »Mein geliebter Mann, warum soll ich mich fürchten? Vor der Welt?« Lächelnd schüttelte sie den Kopf.

»Ich ringe ja nicht mehr nach Erfolg und Ruhm. Jetzt weiß ich's: Befreiung und Frieden – das ist die Kunst!«

*

Druck: Gebr. Mann, Berlin.

 


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