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10.

Es war ein Winter ohne Schnee. Nicht einmal Weihnachtsschnee fiel. Mile meinte: »Nee, das is doch nich schön! Gar kein rechtes Weihnachten!« Und Elisabeth gab ihr recht. Sie dachte an ihre Kinderzeit. Da war sie neben dem Onkel in die Christmette gestapft, noch bei finsterer Nacht, aber der Schnee leuchtete hell und weiß; ihre Füße hatten Mühe gehabt, durchzudringen, doch unverzagt hob sie die kleinen Beine. Eine wundersame Fröhlichkeit saß ihr im Herzen, färbte ihr die Wangen röter und ließ sie nicht müde werden. Glänzenden Auges, klopfenden Herzens blickte sie vorwärts; sie hörte das Glöckchen der kleinen Kirche, von ferne schon schauten die Fenster wie warm strahlende Augen hinaus in den Weihnachtsmorgen. Still war's, wie in Andacht versunken; kein Ruf, kein Hahnenschrei. Vom Kiefernwald her wehten Düfte; dem Kinde schienen sie köstlich wie Weihrauch und Myrrhen. So duftete der Wald nur ein einziges Mal im Jahr – er roch nach lauter Weihnachten. Leise knackte der Schnee unter den Tritten, leise fielen die Flocken nieder; sie hüllten alles in ein Festtagsgewand. Sie sah einen funkelnden Stern am Himmel – war es der Stern von Bethlehem? Er leuchtete heller als seine Brüder; klar und groß stand er über den Hütten des Dorfes. Sie jauchzte und lief ihm entgegen in seliger, freudvoller Gewißheit.

»Kein Schnee!« seufzte Elisabeth; sie lag noch im Bett, stützte sich auf den Ellbogen und lugte durchs Fenster. Schwarz, triefend vor Nässe lagen die Dächer da, eine dicke, graue Regenluft verhüllte den Himmel. Kein Weihnachtswetter. Und auch keine Weihnachtsstimmung.

Elisabeth streckte sich lang aus und verschränkte die Arme unter dem Kopf – wo sollte sie heute nicht alles hingehen? Sie hätte sich zerteilen müssen.

Kistemachers bescherten um sechs. »Wir nehmen es dir todübel, wenn du nicht kommst«, hatte Frau Julie gesagt. »Aber pünktlich! Die Kinder bringen mich sonst um.«

»Selbstverständlich bist du bei uns, Liebchen!« Frau Leonore hielt es überhaupt anders gar nicht für möglich. »Wir haben Diner um sechs. Mach' dich recht hübsch, wir haben nette Leute da, sämtliche Junggesellen unserer Bekanntschaft.«

Und Marie Ritter erwartete sie auch. Die hatte gestern so herzliche Zeilen geschrieben: »Sie sollen bei uns eine Heimat finden, liebe Elisabeth, am Weihnachtsabend wird das Herz groß und weit und verlangt nach Liebe.«

Ja, das war's – eine Heimat! Elisabeths Augen blickten träumerisch. Sie mochte nicht aufstehen, es lag ihr schwer in den Gliedern; sie war müde – »faul«, schalt sie sich, hatte gar keine Lust, zu Kistemachers zu gehen, noch weniger zu Mannhardts. Eine wahre Angst ergriff sie, wenn sie daran dachte. Nur heute nicht, gerade heute nicht! Es klingelte draußen. Sie hatte sich ganz nach der Wand gedreht und den Kopf in die Kissen vergraben und wollte nicht sehen, nicht hören.

Eine Heimat, eine Heimat! Eine jähe Sehnsucht überkam sie, sie biß ins Kissen. Oh, wer eine Heimat hat, der sieht den Stern klarer am nächtlichen Himmel, zum Greifen nah. Sie sann und sann. Tiefe Atemzüge hoben ihre Brust, als ob sie ruhig schlummerte, aber sie schlief nicht, sie träumte: nächste Weihnachten? Ihre Hände falteten sich unter der Decke. »Ich möchte eine Heimat haben,« flüsterte sie, »dann werde ich erst werden, was ich werden muß.« Sie schloß die Augen; allerhand Bilder kamen …

»Aber, Fräulein, noch nich aufgestanden?« Mile stand vorm Bett und schlug die Hände zusammen. »Am heiligen Weihnachtsabendmorgen? Zu Hause sind Sie schon um viere 'rausgekrochen.«

»Ja, zu Hause!« Elisabeth drehte sich um und sah die alte Magd mit feuchtschimmernden Augen an.

»Aber bis halb zehne!« Mile sprach sehr vorwurfsvoll. »Nu is ebend der Herr Heider gekommen, er will Sie durchaus sprechen.«

»Mich?« Elisabeth richtete sich rasch auf. Ein plötzlicher Schreck durchfuhr sie und zugleich eine Freude. Was wollte er? Schon war sie auf den Füßen. »Er soll warten, Mile, rasch, geh, sag' ihm das.«

Als sie den heißen Kopf ins Waschbecken tauchte, kam sie sich sehr lächerlich vor. Warum regte sie sich eigentlich auf? Ihre Hände flogen; eine plötzliche Weihnachtsstimmung war über sie gekommen, die ungewisse Erwartung von etwas Gutem, Schönem, freudig Überraschendem. Aus dem Spiegel sah ihr ein frisches, schönes Gesicht entgegen, betroffen sah sie's an – ja, das war ihr eigenes.

Ihr Herz klopfte; sie lief ins Nebenzimmer, eine Weihnachtsmelodie summte ihr im Kopf.

»Weihnachten!« sagte sie fröhlich, als ihr Heider entgegentrat. »Guten Morgen!« Sie hielt ihm beide Hände hin.

Er drückte ihre Rechte und ließ sie dann rasch wieder fallen. War das nur die graue Morgenbeleuchtung, oder sah er wirklich so blaß aus? Er hatte Schatten unter den Augen. »Gekneipt«, sagte er leichthin auf ihren fragenden Blick. »Ebel und ich haben gestern abend lange zusammengesessen.«

»Ach!« Sie wurde rot, fühlte es und wurde noch röter.

»Ein riesig anständiger Kerl!« Er vermied ihren Blick und sprach hastig, ungeschickt, mit einer gewissen Geschwätzigkeit. »Man kann sich ganz auf ihn verlassen, er ist durch und durch wahr und ehrlich, vornehm von Gesinnung, bescheiden, ruhig, feinfühlig, er …«

»Sie preisen ihn ja an wie ein Ausrufer«, unterbrach sie ihn mit einem kleinen, verlegenen Lachen.

Heiders Lippen zuckten. »Ich bin nur gerecht. Er …«

Was denn nur? Was wollte er sagen? Warum stockte er? Ihr Herz klopfte. Er sollte doch weitersprechen, sie hörte es gern. Aber er sagte nichts, und sie wurde unsicher und beklommen.

Sie schwiegen beide; der Wintermorgen sah ins Zimmer, grau und trüb, ohne Glanz. Auch des Mädchens Gesicht sah bleich aus in dieser Beleuchtung; sie blickte den anderen an mit großen, erwartungsvollen Augen.

Er räusperte sich, schluckte ein paarmal und sagte noch immer nichts.

»Nun …?« Sie fragte es fast ungeduldig. »Warum kamen Sie denn her?«

»Ach so!« Er fuhr sich über die Stirn. »Ich habe Kater – haha –, aber was für einen! Das graue Elend. Sie haben Mutter Maria noch nicht geantwortet, sie will gern wissen, ob Sie kommen?«

»Ach so. Ja, ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll!« Sie stampfte ärgerlich mit dem Fuß. »Ich soll zu Kistemachers und zu Mannhardts kommen, beide rechnen auf mich, und ich …«, sie strich sich rasch mit beiden Händen übers Gesicht, »ich habe so gar keine Lust dazu. Aber ich kann nicht anders, ich darf sie nicht beleidigen.«

»Kommen Sie zu uns«, sagte er dringlich, aber ohne jede Freudigkeit. »Ebel kommt auch.«

Da war's heraus! Das – sie fühlte es deutlich –, das war's, worauf sie gewartet hatte. Der farblos graue Tag erschien ihr auf einmal nicht mehr so kalt beleuchtet. Ja, Ebel würde sich freuen, sie zu sehen. Sie sah sein hübsches Gesicht mit den treuen Augen vor sich. Er lächelte; er lächelte immer, wenn er sie ansah. Sein Lächeln hatte so etwas Liebenswürdiges, Gutes, eine herzgewinnende Freundlichkeit glitt dabei über sein ganzes Gesicht; selbst das Braun der Augen schien einen goldenen Freudenschimmer auszustrahlen. »Ich komme!« sagte sie rasch. Und dann reichte sie Heider die Hand. »Ich bin ja auch bei Ihnen am liebsten!«

Er sah sie scharf an. »Ich hoffe, das Fest wird für Sie ein glückliches werden. Glücklich wie die ganze Zukunft!«

»Und das sagen Sie so trübselig? Pfui, Sie Böser!« Sie lachte übermütig, plötzlich froh geworden. »Heute ist Weihnachten!« Sie faßte ihn am Ärmel und schüttelte ihn leicht. »Heute muß jeder ein frohes Gesicht machen. Was haben Sie denn nur?«

»Ich …?« Er schluckte. »Erdmann macht mir Sorge, er ist krank,« sagte er kummervoll, »hustet und fiebert. Ich habe vor ein paar Tagen den Arzt kommen lassen, der zuckte die Achseln; viel gesagt hat er nicht.«

»Oh!« Ihre Stimme klang bedauernd. Aber, Heider hörte es wohl, ihr Herz war nicht recht dabei; sie war so ganz von ihren eigenen Ideen befangen. »Was fehlt ihm denn?«

»Der Erfolg.«

»Der ist freilich schön, das weiß ich … und wenn er nicht kommt …?« Sie sann nach, ein besonderer Ausdruck kam in ihr offenes Gesicht, halb Mitleid, halb Ungläubigkeit. Mit einem leichten Seufzer sagte sie: »Armer Erdmann!«

Er sprach nicht weiter mit ihr darüber, sondern empfahl sich bald. Er war heute anders als sonst, stiller, gedrückt; Mile hörte seine lustige Stimme nicht in der Küche, er machte heute keinen seiner Späße. An der Tür hielt er Elisabeths Hand einen Augenblick in der seinen und sah in ihr Gesicht, seine Augen saugten sich daran fest, er öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Er wurde rot und blaß und schien etwas Besonderes auf dem Herzen zu haben, doch sagte er nur: »Donnerwetter, Erdmann! Ich muß nach Haus!«

Elisabeth war von einer unheimlichen Geschäftigkeit. Sie lief hin und her; ihr Wesen hatte etwas Aufgeregtes. Für die anderen hatte sie längst kleine Gaben, aber nun mußte sie doch für Ebel auch etwas haben. Sie ging in ein paar Läden. Der Regen strömte; sie patschte durch, stand still und studierte die Schaufenster. Aber da war nichts, gar nichts, was sie ihm hätte schenken mögen. Es war ihr alles nicht gut genug; sie wollte ihm doch eine wirkliche Freude machen. Ihr Herz war heute weit offen, die ganze Weihnachtsfröhlichkeit stand in der Tür.

Sie kam nach Hause ohne Geschenk; sie hatte nichts gefunden. Immer noch überlegend, sprang sie die vier Treppen hinauf. Oben trat ihr Mile in höchster Erregung entgegen.

»So was! So was! Kommen Sie 'rein, Fräulein!«

Da brannte eine Lampe, viel zu kostbar für die bescheidene Umgebung. Ein schöner Genius trug die Vase, ein seidener Schirm hing wie ein rosiger Himmel darüber und auf dem rosenfarbenen Schirm goldene Sternchen und über dem Scheitel des Genius ein großer, zitternder, funkelnder Stern, in dem sich das Lampenlicht in schimmernden Strahlen und Reflexen brach. Ein entzückendes Kunstwerk.

»Den Stern des Ruhms
und tausend andere Lichter im Leben!«

schrieb Leonore Mannhardt.

 

»Geliebtes kleines Genie! Mögest Du beim Schein dieser bescheidenen Arbeitslampe Großes schaffen! Wir alle begleiten Deinen Flug mit Bewunderung und Freude. Auf Wiedersehen heute abend!

Immer Deine Leonore.«

 

Elisabeth stand betroffen; nichts von Freude war in ihrem Gesicht zu sehen. Sie hatte Mannhardts vergessen gehabt.

Und Kistemachers?

Halt, war das nicht Frau Kistemachers Stimme? Richtig, sie sprach draußen mit Mile, und nun stürzte sie herein.

»Nur einen Augenblick, Elisabethchen! Mein Mann sagt, er hat so was Kostbares hier herauftragen sehen. Der Diener von Mannhardts ist ihm auf der Treppe begegnet. Nein, sind die nobel! Da können wir freilich mit unserm Federhalter nicht konkurrieren, wenn er auch vergoldet ist. Aber die Liebe gibt ja dem Geschenk den Hauptwert; da können wir's auch schon aufnehmen. Wirklich prachtvoll!« Sie unterzog die Lampe einer eingehenden Musterung. »Echte Bronze!« Sie war schon wieder an der Tür. »Also recht pünktlich! Um sechs! Und zum Abendbrot bleibst du doch natürlich da?«

»Das kann ich nicht«, sprach Elisabeth verlegen. »Ich komme um sechs und sehe bei euch den Baum brennen, aber dann – sei nicht böse!« Sie faßte Frau Julie um die Taille. »Ich möchte heute abend woanders hingehen.«

»Woanders …?« Frau Kistemacher war zuerst sprachlos, dann ging ihre Zunge mit unheimlicher Schnelligkeit. »Natürlich zu Mannhardts, die werden uns ja immer vorgezogen. Freilich, so großartige Diners geben wir nicht, wir sind keine Protzen, aber wir haben wirkliche Freundschaft für dich, und es ist sehr unrecht von dir, uns so hintenan zu setzen.« Sie fing an zu weinen.

»Sei nicht empfindlich!« sagte Elisabeth. Es tat ihr leid, daß Frau Kistemacher weinte, und doch brachte sie nichts Herzliches über die Lippen.

»Natürlich zu Mannhardts – zu Mannhardts!«

»Auch zu Mannhardts nicht. Ich mag am Weihnachtsabend nicht unter lauter fremden Menschen sein. Wenn ich nicht anders kann,« der Gedanke fiel Elisabeth schwer wie ein Stein auf das Herz, »so gehe ich später noch auf eine Stunde hin.«

»So?« Frau Kistemacher beruhigte sich schnell. »Ja, heute mag man auch nicht unter Fremden sein. Aber wirst du denn ganz allein bleiben? Ach, du wirst schon zu uns kommen!« Sie blinzelte und nickte dem Mädchen zu.

»Nein, ich kann nicht!«

»Ja, um alles in der Welt, wo gehst du denn hin?« Frau Julie regte sich schon wieder auf.

»Zu Marie Ritter«, sagte Elisabeth ruhig. Es stieg wie Trotz in ihr auf: mußte sie sich denn immer kontrollieren lassen?

» Zu der …?« Eine Flut von Vorwürfen strömte auf Elisabeth nieder. Frau Kistemacher kannte sich selbst nicht mehr, sie wurde in ihrer Heftigkeit ausfällig im höchsten Grade. Als Elisabeth auch noch etwas sagen wollte, schnitt sie ihr das Wort ab und schrie: »Wenn du heute nicht zu uns kommst, wenn du uns das antust, brauchst du überhaupt nicht mehr zu kommen!«

Ohne Adieu rannte sie zur Tür hinaus. Wie betäubt stand Elisabeth; mit einem Ausdruck des Ekels hielt sie sich die Ohren zu. Oh, wie häßlich diese Stimme schrillte! Und da stand die Lampe! Aufdringlich pflanzte sie sich mit ihrem Gold vor die Augen.

In des Mädchens Seele drehte sich etwas um und um. Sie pustete die Lampe aus und rückte sie in eine Ecke. –

Es wurde heute früh dunkel; schon um drei Uhr. Elisabeth hatte nach dem Mittagessen, das sie kaum berührte, zu arbeiten versucht. Sie hatte vor einigen Wochen ihren ersten Roman begonnen; Maier hatte ihr den sozusagen zur Pflicht gemacht: »Sie müssen den Roman herausbringen, so bald als möglich. Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«

Sie hatte bis dahin flott gearbeitet; heute ging es nicht. Sie war so zerfahren und konnte die Gedanken nicht konzentrieren. Die Arbeit widerte sie an und ebenso Frau Kistemacher, Leonore, die ganze Welt. Sie warf die Feder hin und lief unruhig im Zimmer auf und nieder. Ihre ganze Weihnachtsfröhlichkeit war weg; sie fühlte nur eine beklommene Spannung.

Endlich ging sie zu Marie Ritter. Bei Kistemachers mußte der Baum brennen; die Hintertür stand offen, man hörte bis auf die Treppe hinaus das Jubelgekreisch der Kinder. Elisabeth stahl sich scheu wie ein Verbrecher vorüber, mit ihrem Päckchen im Arm. Tat sie denn etwas Unrechtes? Ihr Herz klopfte gegen den Karton, in dem die Puppe für Heidi verpackt war; sie hatte auch noch etwas anderes darin. Im letzten Augenblick war es ihr eingefallen: Ebel hatte sie neulich um eine Photographie gebeten. Sie hatte nur noch eine einzige, und von früher, im schwarzen Konfirmationskleid, mit mühsam glattgescheitelten Haaren; die hatte immer auf des Onkels Schreibtisch gestanden, nun wollte sie ihm die schenken. Ob er sich wohl freuen würde? In der Potsdamer Straße kaufte sie noch einen kleinen Rahmen, und dann lief sie, flüchtig wie ein Reh – alle Bahnen waren überfüllt, jeder hastete zu den Seinen –, der Grunewaldstraße zu. Eine große Unruhe peinigte sie. Was würde Leonore sagen? Der hatte sie eben in einem Rohrpostbrief abgesagt und heftige Kopfschmerzen vorgeschützt; wenn's möglich sei, würde sie später noch auf ein Stündchen kommen. Schamröte war ihr beim Schreiben ins Gesicht gestiegen; sie hatte die Lüge immer verachtet, und jetzt …? Oh, zu was drängten sie die Verhältnisse nicht!

Heftig trat sie zu, daß ihr das Wasser einer Pfütze bis in die Augen spritzte; sie lief wie gepeitscht. Schon war sie weit draußen; das Pferdebahngeroll hatte aufgehört, nur die Dampfbahn mit dem feurigen Auge schnob ihr wie ein Ungetüm aus dem Dunkel entgegen. Hier draußen waren die Christbäume seltener, ihr Licht strahlte nicht so hell durch die Fenster. Ein paar Betrunkene kamen aus einer Destille und schoben sich, schwerfällig taumelnd, über das Pflaster; Elisabeth drückte sich an eine Hauswand und ließ sie vorüber. Ein schmerzliches Gefühl des Preisgegebenseins überfiel sie ganz unvermittelt; etwas Heißes aus ihren Augen mischte sich mit den Regentropfen, die über ihre Wange liefen. Als die Männer sie streiften, stieß sie einen leichten Schrei aus und sprang in großen Sätzen davon.

Atemlos und glühend kam sie bei Marie Ritter an. Da war schon alles vorbereitet. In der Stube duftete das Bäumchen, in der Küche schuppte die halbwüchsige Magd den Karpfen; Heidi hockte auf einem Schemel daneben und machte große Augen. Aber von den Gästen war noch niemand da. Die beiden Frauen setzten sich wartend auf das altmodische Sofa. Sie schwiegen.

Draußen auf der abgelegenen Straße kein Wagengerassel. Eine ungeheure Stille kroch von den öden, verregneten Feldern die Häuser entlang, kroch hier ins Haus hinein, die Treppe hinauf, bis in die Stube. Von dem großen, brausenden Berlin kam kein Laut hierher, man saß wie im Grab. Und die hier – Elisabeth warf einen scheuen Blick auf die neben ihr Sitzende –, war die nicht auch schon wie eine Tote? Eine, die noch lebte und doch längst vergessen war?

Ein Schauer überlief das Mädchen. Sie strich sich über die brennende Stirn. Die kleine Stube war überheizt, das Tannenbäumchen duftete zu stark. Sie sprang plötzlich auf. »Wo bleiben sie nur?« Und dann setzte sie sich wieder hin, die Hände lässig herunterhängen lassend. Sie atmete beklommen.

Die grüne Arbeitslampe brannte auf dem Schreibtisch, aber sie erhellte das Zimmer nicht, sondern warf nur einen schwachen Schein bis nach dem Sofa hin. Marie Ritter sah die Bangigkeit in Elisabeths Gesicht nicht deutlich, sie fühlte sie mehr und hörte sie an den Atemzügen und an dem Klang der Stimme.

»Wie einsam ist es hier!« Des Mädchens Lippen zitterten, angstvoll sahen ihre Augen umher. »Ich möchte nicht einsam sein!«

»Einsam?« Marie Ritter schüttelte den Kopf und warf einen bis ins Tiefste dringenden Blick auf die andere. »Sagen Sie lieber: nicht vergessen sein. Ich bin vergessen. Man hatte einmal sehr viel Hoffnungen auf mich gesetzt, ich selber die allergrößten. Man sprach von mir, man schrieb über mich, man lobte mich – das war, als mein Roman viel Aufsehen erregte. Damals. Mein Gott,« sie faßte mit einem Lächeln an die Schläfen und zog ein paar Haarsträhnen durch die Finger, »es liegt ja noch gar nicht sehr weit zurück.« Durch das Halbdunkel kam ihre Stimme ganz leidenschaftslos, mit dem ihr eigentümlichen gedeckten Klang. Sie sprach so vor sich hin, als spräche sie nur zu sich selber. »Die Leute habe ich alle gekannt, von denen Sie erzählen. Ich verkehrte in ihren Salons, ich habe mir sehr gern Weihrauch streuen lassen. Der Erfolg hatte mich berauscht, ich ging wie von Flügeln getragen, da kam«, sie stockte plötzlich, wie ein Schauer ging es über ihre Gestalt, Elisabeth glaubte ihr Zittern zu fühlen, »Heidis Vater«, sagte sie in demselben ruhigen Ton. Sie machte eine Pause.

Elisabeth rührte sich nicht.

»Warum ich ihn nicht geheiratet habe?« sagte Marie Ritter, und dann, als gäbe sie sich selber Antwort: »Als wir von der Hochzeit sprachen, wurde es mir auf einmal klar: es war nur der Rausch des Erfolges gewesen, der mich in seine Arme getrieben hatte. Ein Entsetzen kam über mich. Nichts, gar nichts von Liebe war zwischen uns, nicht einmal Verständnis. Ich war geblendet gewesen von den Weihrauchwolken der Schmeichelei, taub gemacht durch Bewunderung. Alles in mir war erregt, die Sinne überreizt, jedes Gefühl gesteigert. Ich hatte mich über alle Schranken erheben zu können gemeint, ich war unsinnig vor Gier nach mehr, mehr! Ich griff nach den Sternen. Und dabei hatte ich den unklaren Drang, mich an etwas halten zu müssen, ich stand nicht mehr fest, Himmel und Erde drehten sich um mich in einem brausenden Wirbel. Instinktiv suchte ich mich anzulehnen wie ein zartes Schlinggewächs, von der Natur darauf hingewiesen. Ich empfand die ganze Unfähigkeit der Frau, das Glück allein zu tragen, mit dem Erfolg allein zu sein.«

Marie Ritters Stimme hatte sich gesteigert, Rot kam auf ihre Wangen, ein unruhiger Glanz in ihre Augen, als lebe sie noch einmal alles durch.

Dann sank ihr Ton; er klang gleichgültig.

»Ich griff nach dem ersten besten. – Daß ich ihn nicht geheiratet habe, hätten sie mir nicht so übelgenommen, aber daß ich mich dann über das Kind freute, es bei mir behielt, es …«

»Mama! Mama!« Erschrocken fuhr Elisabeth zusammen. Draußen patschte Heidi mit den Händchen gegen die Tür. »Zünd' Lichtchen an, Mama!«

Marie Ritter sprang auf.

Elisabeth konnte sich nicht bewegen, sie blieb wie gelähmt sitzen. Eine furchtbare Angst krampfte ihr das Herz zusammen – – oh, nur nicht das! Sie brach in Tränen aus.

Heidis kindliche Stimme klang weinerlich von der Tür her: »Bei dir bleiben, Mama, es ist so dunkel!«

»Mein Kind, mein süßes Kind!«

War das noch Marie Ritters leise, klanglose Stimme? Sie war von zärtlicher Leidenschaft verstärkt; eine Liebesfülle, fast eine Glücksfülle strömte aus jedem Wort. Es klang wie im Triumph: »Mein Kind!«

Die schlanke Frau kam hoch aufgerichtet wieder zum Sofa zurück, das Kind auf dem Arm, und ließ es nicht los.

»Licht!« bat Heidi stürmisch und überschauerte die Mutter mit Küssen.

Marie Ritter lachte; es war ein Lachen ganz ohne Bitterkeit, ein recht von Herzen kommendes Lachen.

»Ich zünde an«, sagte sie heiter und ging zum Tisch. »Ich will das Kind nicht länger warten lassen.«

Das erste Lichtchen flammte auf; Heidi stieß einen Schrei des Entzückens aus, glitt vom Arm herunter, hüpfte im Zimmer herum, jauchzte, klatschte in die Händchen, rannte wieder zur Mutter, umfing mit beiden Armen deren Knie und drückte das Köpfchen in die Rockfalten.

»Sie haben mich vergessen«, sagte Marie Ritter und hob lächelnd den Kopf. »Und ich habe den Erfolg vergessen – hierüber.«

Sie sprach es ganz einfach und legte dem Kind die Hand auf den Kopf.

Elisabeth wandte sich ab, hastig trat sie ans Fenster und spähte nach dem nächtlichen Himmel.

Wo sie nur blieben …? Die Uhr zeigte acht; Heidi wurde müde. Langsam tröpfelten die Kerzchen ab.

»Ich begreife nicht, warum Heider und Erdmann und auch Ebel so spät kommen, alle drei?« Marie Ritter wurde nun auch unruhig. »Sonst erwarte ich niemand mehr. Sörensen ist in der Heimat.«

Sie nahm das Kind auf den Schoß und summte ihm leise ein Weihnachtslied.

Elisabeth stand noch immer am Fenster, die schlanken Hände aufs Fensterbrett gestützt, die heiße Stirn an die Scheibe gedrückt. Sie mochte sich nicht umdrehen, nicht die einsame Frauengestalt dort mit dem Kind auf dem Schoß sehen. Aber wohin sie blickte, immer das gleiche Bild. Draußen vorm Fenster im Dunkel der Regennacht tauchte auch eine einsame Gestalt auf – sie trug ihre eigenen Züge. Das war auch eine, nicht geschaffen, um das Glück allein zu tragen! Unfähig, mit dem Erfolg allein zu sein.

Sie zitterte bis ins innerste Herz und preßte die tränenfeuchten Augen zu.

Marie Ritters Stimme störte sie auf. »Erdmann war die letzten Tage nicht wohl, es wird ihm doch nichts Ernstliches zugestoßen sein?«

»Ich werde hingehen«, sagte Elisabeth rasch. Es dünkte sie eine Erlösung, hier fortzukommen. Schon stand sie an der Tür. »Ich weiß, wo Heider wohnt, nur ein paar Häuser die Straße hinunter. Ich will sehen, wo sie bleiben.«

Draußen windverwehte Regenschauer. Hierhin fiel ein Tropfen, dorthin einer; wie eisige Nadeln stachen sie ins Gesicht. Ein Windstoß fauchte über die öde Straße, peitschte ihr die Röcke eng an den Leib und fegte ihr die Haare wirr ins Gesicht. Elisabeth trug keinen Hut, sie hatte nur eilig den Mantel umgeworfen und knöpfte ihn erst im Laufen zu. Jetzt fühlte sie die kalten Tropfen am Nacken niederrinnen, und doch empfand sie kein Frösteln; ihr war heiß zum Ersticken.

Das war das Haus; im Seitenflügel, Hof drei Treppen, wohnten die Freunde. Oben glänzte ein Licht; sie schienen noch da zu sein. Elisabeth erstieg die enge Treppe.

Überall hinter den vielen Türen rechts und links Kindergequarr. Man roch Tannenduft, frischen Kuchen und Zwiebelgebratenes. Man hörte Töpfe rücken, Herdringe klappern, Singen und Lachen. Da spielte einer auf der Ziehharmonika irgendeinen Tanz, da wurden einer Kindertrompete klägliche Töne entlockt; hier öffnete sich die Tür vorsichtig, eine junge Person mit gebrannten Haaren, im feuerroten Unterrock, spähte neugierig hinaus auf die Treppe.

Endlich war Elisabeth oben. Eine über der Klingel angeheftete Visitenkarte zeigte ihr die rechte Tür; die war nur angelehnt. Sie klopfte; da niemand »Herein« sagte, trat sie ein.

Zuerst eine kleine Küche; der Raum war unbenutzt, leer und kalt, durch einen Kattunvorhang der Herd verdeckt, eine dünne Kerze flackerte am Boden.

Und hier …? Elisabeth erschrak. Die schlecht schließende Tür des Nebenzimmers war aufgesprungen. Im Hintergrund stand ein Bett; sie erkannte Ebel, der sich darüber neigte und eine ächzende Gestalt niederzuhalten suchte.

»Hast du Eis, Kobes?« Ebel hob den Kopf, ein Strahl von Freude glitt über sein bekümmertes Gesicht, als er Elisabeth erkannte. » Sie?!« Er sagte weiter nichts; eine Welt von Erstaunen, Freude, ja Entzücken lag in dem einen Wort.

Sie trat rasch näher – was ging hier vor?

»Der arme Erdmann!« flüsterte er und heftete die Augen wieder fest auf den Liegenden. »Ruhig! Ruhig!« Er drückte den Unruhigen sacht nieder und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Er bekam vor einer Stunde – ich wollte die beiden gerade abholen – eine tiefe Ohnmacht. Heider lief zum Doktor. Erdmann ist sehr schwach, er ist nicht bei sich.«

Elisabeth stand entsetzt; sie horchte, der Kranke sprach. Wie aus weiter Ferne klang seine Stimme, ganz ohne Kraft, ganz wesenlos. Er schlug mit den hageren Armen um sich. »Weg, geht weg! Ich fühle die Dornen … in meinem Kopf … oh, oh!« Er bäumte sich und rang die Hände wie in unerträglichem Schmerz. Er richtete sich plötzlich halb auf und hielt mit ungeahnter Kraft Ebel von sich ab.

Jetzt schien er ihn zu erkennen. »Ah!« Er stemmte sich auf den Ellbogen, sein unruhig flackernder Blick irrte durchs Zimmer. »Seien Sie so gut – da in der Schublade«, er wies mühsam auf den tannenen Schreibtisch an der Wand gegenüber, »liegt es – hierher, hierher!« Ängstlich war seine Stimme; er streckte die Hände aus wie ein verlangendes Kind.

Was wollte er? Es graute Elisabeth. Dieses verfallene Leidensgesicht mit den überirdischen Augen war schrecklich.

Der flackernde Schein der Lampe warf die Schatten, unnatürlich vergrößert, an die kahle Wand. Die ausgestreckten Hände des Kranken schienen riesenhaft, sie griffen immer hinauf, hinauf – immer riesenhafter, immer verlangender – – sie griffen ins Leere.

Ein ungeheures Mitleid erfüllte Elisabeths Seele, sie fühlte sich schwach, ohnmächtig, zu helfen und drängte sich dicht an Ebel.

Er lächelte ihr beruhigend zu. Er hatte keine Hand frei, aber ihr war, als umfasse seine warme Rechte die ihre. »Ängstige dich nicht,« sagte sein Blick, »ich bin bei dir!«

Auf dem Bettrand sitzend stützte er den Kranken mit seinen Armen und hielt ihn an der Brust wie eine Mutter ihr Kind; Elisabeth hatte nicht geglaubt, daß ein Mann so zart sein könne. Er strich dem Leidenden das Haar aus der Stirn und trocknete ihm den Schweiß ab und redete ihm gut zu, immer mit der gleichen wohltuenden Stimme.

Erdmann stöhnte: »Hier … hierher … gebt es mir doch! – Ach, die Dornen!« Er stieß einen gellenden Schrei aus und warf sich rastlos zurück.

»Wenn doch Kobes mit dem Eis käme! – Ja, lieber Erdmann, ja, gewiß, ich gebe es Ihnen gleich!« Ebel legte dem Kranken seine Hand wieder auf die Stirn. »Er will sein Manuskript«, flüsterte er Elisabeth zu.

»Verlacht … verkannt …!« Jetzt sprach Erdmann ganz zusammenhängend, merkwürdig laut und feierlich, wie im Triumph: »Aber, ich bin ich geblieben, sie haben mich nicht untergekriegt. Nur der Tod … auch der nicht … die Würmer zernagen mich … ich bin Staub … der Wind bläst mich zur Sonne … ich selbst bin die Sonne … neigt euch!«

Eine schreckliche Hoheit lag auf seinem Gesicht, als er es mit hallender Stimme rief. Dann sank er zurück. Elisabeth zitterte am ganzen Leibe.

»Armer Kerl!« flüsterte Ebel. »Es geht ihm so schlecht, aber den Glauben an sich hat er nie verloren.« Er hielt dem Mädchen die Hand hin. »Gehen Sie, es ist hier so traurig für Sie!«

Sie legte ihre Hand in die seine. »Ich bleibe bei Ihnen.« Sie neigten flüsternd die Köpfe nah zueinander.

»Wir waren in Sorge, wo Sie blieben, ich wollte Sie holen«, sagte sie leise. Es waren alle drei Freunde damit gemeint, aber sie sagte es mit einem Blick, als ob sie ihn, ihn ganz allein vermißt hätte.

Ebels Atem ging rascher; er war nicht so ruhig wie sonst. Die wirren Haare an ihren Schläfen zitterten vor seinem Gesicht; sie neigten sich beide zusammen über den Kranken und fühlten fast Herz an Herz schlagen. Ein Strom des Mitleids vereinte sie beide. Seine Hand hielt noch immer die ihre, sie ließ sie ihm ganz ruhig, erst als Heider atemlos eintrat, entzog sie sie ihm rasch.

Heider war sehr erregt. »Ich war eben bei Mutter Maria – geht! Geht!« Er wollte Ebel keine Handreichung mehr tun lassen und drängte ihn vom Bett weg, setzte sich selbst als Wächter daneben und legte dem Kranken Eis auf den Kopf. Dieser schien zu schlummern.

Ebel zögerte noch immer. »Soll ich nicht lieber hierbleiben?« Und doch hing sein Blick sehnsüchtig an Elisabeth.

»Nein. Geht nur, geht!«

»Aber ich komme wieder. Ich werde die Nacht mit dir wachen.«

»So geht doch!« Heider sagte es fast brüsk. Er legte den Kopf auf den Rand des Bettes.

*

Das war ein stilles Weihnachtsmahl gewesen; die jungen Leute hatten sich stumm gegenübergesessen. Nun ging Marie Ritter und brachte das Kind zu Bett; es hatte erst jedem von ihnen das Mündchen zum Kuß geboten, und die unschuldigen Lippen trugen die zärtliche Berührung von einem zum andern fort.

Sie waren allein. Am Tannenbaum waren die Lichter niedergebrannt, draußen dunkle Nacht. Nur in des Mannes Herzen, das fühlte Elisabeth, da war eine helle Flamme, die ihm aus den Augen leuchtete, und die als warmes, beglückendes Herdfeuer ein ganzes langes Leben brennen würde. Nie, nie würde sie den Ausdruck seines Gesichts vergessen, als sie ihm ihr kleines Mädchenbild unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte; es sah aus, als wolle er es an die Lippen reißen, mit Küssen bedecken. Aber er hatte die jähe Gefühlsaufwallung bezwungen, ihre Hand gefaßt und sie warm und ehrlich gedrückt. »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen vielmals! Seit mir als Knabe von meiner Mutter beschert wurde, habe ich keine so große Freude mehr gehabt … auch da nicht … nein, noch nie!« Es klang ordentlich rührend, und wie er ihre Hand preßte! Sein Gesicht wurde schön durch die Röte der Freude, durch den goldigen Glanz der Augen.

Und welch guter Hausvater er war! Er hob das Kind auf den Stuhl und legte ihm vor; schnitt Brot und bediente die Damen mit einer ruhigen, geräuschlosen Liebenswürdigkeit. Er erriet ihre Wünsche, er sprach nicht zuviel und sprach nicht zuwenig; immer war seine Art wohltuend.

Auf Elisabeths Platz lagen Rosen, er hatte ihr nichts anderes zu geben gewagt; sinnend neigte sie sich darüber und sog den süßen Duft ein. Dann stand sie auf vom Tisch, eine innere Unruhe trieb sie, sie fühlte, da mußte etwas kommen. Langsam näherte sie sich dem Tannenbaum.

Es war sehr still. Sie schwiegen. Sie warteten.

Das ganze Zimmer war voll von einer feierlichen, verschwiegenen Erwartung. Die horchte auf jedes Geräusch draußen auf der Straße, im Haus, im Korridor – würde jemand kommen und stören? Die belauschte jede Miene.

Ebel stand auf; er ertrug die Spannung nicht länger. Das Blut war ihm zu Kopf gestiegen; er sah auf das Mädchen, das ihm so teuer war, und sah es wie durch einen Nebel. Da stand sie, gar nicht stolz, gar nicht hochmütig, so einfach, so lieblich, mit einer unsichtbaren Krone über der reinen Stirn. Er hätte niederknien mögen und sie anbeten. Er trat auf sie zu – seine Füße bewegten sich mechanisch, ohne eigene Kraft – er hatte nur den einen Willen: ihr nahe zu sein. Ganz nah. Sie zu hüten wie damals, als er sie, erschrocken und verwirrt, hilflos um Mitternacht auf der Straße traf. Hundertmal hatte er diese Szene wieder durchträumt, den Traum weiter und weiter ausgesponnen und doch das Ende sich nicht klarzumachen gewagt.

Jetzt neigte er sich dicht zu ihr, ganz dicht. Er mußte sprechen, es drückte ihm fast das Herz ab.

»Elisabeth,« sagte er, halb erstickt vor Bewegung, »ich habe gestern abend lange mit Heider gesprochen. Ich hätte es nicht gewagt – er hat mir Mut gemacht, Ihnen zu sagen, daß ich …« Seine Augen sahen sie an mit einer unendlichen Hingabe. »Ich liebe Sie sehr!«

Jetzt war es heraus! Ihr Herz hatte gestockt, jetzt schlug es wieder. Darauf hatte sie gewartet, und jetzt war es da … »Ich liebe Sie!« Und doch hatte sie kein himmelstürmendes Freudengefühl, als er es sagte. Sie stand regungslos und senkte den Kopf und erwiderte nichts.

Eine schmerzhafte Angst überkam ihn und zugleich eine schmerzhafte Zärtlichkeit. »Elisabeth,« sagte er sehr erregt, »es ist unbescheiden von mir, zuviel verlangt, ich weiß es – Sie stehen im Licht, ich ganz im Dunkel. Was bin ich? Ich bestürme Sie heute auch nicht gleich: Werden Sie meine Frau! Ich bitte Sie nur: Darf ich mich Ihnen nähern, lohnt es Ihnen der Mühe, mich kennenzulernen – ach, sagen Sie nicht nein!« Er preßte flehend ihre Hände und sagte mit Inbrunst: »Ich lebe nur für Sie!«

Sein Ton berührte ihr Herz wie eine Liebkosung, sie konnte nicht anders, sie sah ihn an und lächelte, ein süßes, vertrauensvolles Lächeln.

Ein strahlendes Aufleuchten ging über sein Gesicht; er fand keine Worte, aber er hätte keine bessere Art finden können, eine Frau zu gewinnen, als diese stumme, ehrerbietige Zärtlichkeit, mit der er ihren Blick erwiderte. Er bot ihr schweigend die Hand, sie legte die ihre hinein.

Sie standen nahe beieinander, sich gegenüber, Gesicht an Gesicht, aber eine Welt war zwischen ihnen. Er dachte nur an sie, und sie …? Sie war nicht mehr allein mit dem Erfolg, allein mit dem Glück, sie hatte Schultern, die es ihr tragen halfen. Er würde ihr immer zur Seite sein, ein zartfühlender Freund, eine treue Stütze. Er würde sie behüten, ihr alles aus dem Weg räumen, was ihre Arbeit störte. Sturm und Kampf und Erfolg, ein Siegeslauf hinauf zum Stern des Ruhms, und dabei ein stärkeres Ausruhen zu neuer Arbeit im friedlichen Schatten des Hauses. Ja, das würde gut sein!

Eine hingebende Mattigkeit kam über sie. Sie neigte sich ihm näher und näher, bis ihre Stirn seine Schulter berührte.

Sie fühlte den Schauer, der durch seine Glieder ging, sein Arm legte sich zart und zugleich fest um ihre Taille, sie rührte sich nicht und verharrte in dieser Stellung.

Was er nun sagte, verstand sie nicht; jetzt war er beredt. Wie ein leerer und doch wohllautender Schall schwebte es an ihrem Ohr vorüber. Und das würde so fortgehen, Jahre, Jahre, immer Arbeit und Glück und Ruhm, und diese Stimme immer an ihrem Ohr, dieser feste Arm sie immer umschlingend? – –

Mit einer entschlossenen Gebärde hob sie die Stirn und sah ihm frei ins Gesicht.

»Ich würde Sie immer lieben und hochhalten; mein ganzes Leben lang«, sagte er jetzt. Seine Stimme wurde immer leiser, er flüsterte es wie ein heiliges Geheimnis, selig fragend: »Und Sie könnten meine Frau werden?«

»Ja.« Ihre großen, offenen Augen zuckten mit keiner Wimper, sie hielten seinen sich in sie versenkenden Blick aus.

»Ist es wirklich wahr?« Er sah sie an wie einer, der nicht weiß, ob er wacht oder träumt. Er war ganz blaß geworden.

»Ja.« Sie lächelte, und dann, ohne Ziererei, mit einem schönen, zarten Rot auf den Wangen, bot sie ihm die Lippen zum Kuß.

Er hielt sie umfangen, ihr blondes Haar bauschte sich an seiner Schulter, die seidenen Fäden bewegten sich im heißen Hauch seines Mundes. Er überragte ihre kräftige Gestalt und sah auf sie herunter, schwindelnd von einer großen Glücksempfindung. Er sagte immer wieder mit demselben tiefinnersten, wahrhaftigen Klang: »Ich liebe dich!«

Sie hörte es gern. Hier dies stille Zimmer, der Welt so fern, der duftende Tannenbaum, der trauliche Lampenschein paßten dazu. Ihre Augen waren halb geschlossen; wie ein zufriedenes Kind ließ sie sich einlullen von dem Schlummerlied. Vor den Fenstern pfiff rauher Wind; der konnte nicht herein. – – –

Ob Marie Ritter etwas geahnt hatte? Sie blieb lange; dann, als sie wieder hereinkam und die beiden unterm Tannenbaum fand, glitt ein wehmütig-freudvolles Lächeln über ihr Gesicht. Sie umarmte Elisabeth. »Sie haben recht getan«, sagte sie leise. »Er ist nicht der erste beste – nur der Beste. Ich gratuliere Ihnen von Herzen!«

Elisabeth hatte Mannhardts ganz vergessen, auch die andern alle, selbst Heider und Erdmann. Sie saß neben ihrem Bräutigam auf dem altmodischen Sofa. Sie hatten von der Zukunft gesprochen; Ebel hielt es für seine Pflicht, ihr seine Verhältnisse auseinanderzusetzen, und er tat es mit einer Genauigkeit, die bis in die kleinsten Einzelheiten ging, ohne daß er ihr etwas in zu rosigem Licht malte. »Und wird es dir genügen?« fragte er zuletzt. »Es ist nicht glänzend.«

Sie lachte. »Und verdiene ich denn nicht auch? Oh, eine Menge! Mein Buch geht, das zweite wird noch besser gehen. So viele Journale wollen gern etwas von mir bringen, ich habe Anfragen genug, übergenug.« Sie nickte ihm stolz und heiter zugleich zu. »Wir werden zusammen arbeiten, nicht wahr? Ich werde doch arbeiten können?« sagte sie plötzlich, wie von einem jähen Mißtrauen durchzuckt. »Die Arbeit darf ich nie vernachlässigen. Das meinst du doch auch? Ich werde arbeiten können, du versprichst es mir!«

Er lächelte, hielt ihre Hand und sah ihr bewundernd ins Gesicht; seine Blicke sprachen von lauter Liebe. Und sie sprach mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen von – ihrem ersten Roman.

»Jetzt gilt's! Jetzt darf ich nicht müde werden. Siehst du,« sie sprang auf und zog ihn mit einer lebhaften Bewegung ans Fenster, »da ist er!« Ihr lächelndes Gesicht hob sich zum nächtlichen Himmel, daran einsam ein Stern funkelte.

»Ich habe schon als Kind geträumt, ich würde ihn erreichen, und ich bin ihm nachgelaufen durch Wiese und Wald.« Sie wies hinauf. »Wie er lacht!«

Ihre Augen strahlten siegesfroh. Eine unverwüstliche Gesundheit, eine blühende Freudigkeit strömten von ihr aus, eine unerschütterte Zuversicht. Sie lachte hell in übermütiger, fast kindlicher Heiterkeit. »Gib acht, du da oben, jetzt, jetzt hab' ich dich bald!« Dann lehnte sie sich an ihren Bräutigam.

»Dein Stern!« sagte er innig und küßte sie.


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