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6.

Der Tag der Aufführung war da.

In der Nacht hatte Elisabeth merkwürdig traumlos geschlafen, ganz ruhig. Ebel war oft aufgewacht, hatte sich über sie gebeugt und im stillen Grau der Sommernacht ihr ins Gesicht gesehen. Ein Lächeln lag darauf; nur zwischen den Augenbrauen über der Nasenwurzel war eine tiefe Falte. Die war schon eingegraben.

Und nun rüsteten sie sich zum abendlichen Theatergang; ganz früh wollten sie da sein, ehe irgendein anderer Besucher kam. Eine merkwürdige Entschlossenheit war über Elisabeth gekommen; je näher die Entscheidung, desto ruhiger sie. Ebel war viel aufgeregter; früher als sonst kam er nach Hause, er hatte sich frei gemacht. Nirgendwo hatte er Ruhe, er lief hin und her und beobachtete unausgesetzt seine Frau – war sie wirklich ruhig oder schien sie nur so? Ihr Gesicht so blaß, so kalt wie aus Marmor. Ihre großen, entrückt blickenden Augen waren ihm unheimlich.

»So dunkel?« fragte er, als sie sich zum Theater ankleidete. »Ich dachte, du würdest etwas Helles anziehen.« Das schwarzseidene Kleid sah düster aus. »Wenn du nun vorkommen mußt, um dich für den Beifall zu bedanken, siehst du so streng aus!« Er lief zum Gärtner und holte Rosen; erhitzt kam er zurück und steckte ihr selbst den Strauß der tiefroten, leuchtenden Blüten an die Brust. »So!« sagte er, trat zurück und betrachtete sie stolz. »Meine schöne Frau und bald«, er lächelte zärtlich, »meine berühmte Frau!« Er machte sich und ihr Mut.

Ebel hatte das Stück noch nicht gesehen, keiner Probe hatte er beigewohnt; nun harrte er in einer fieberhaften Spannung. Wie würde es wirken? Es war kein Zweifel in ihm an dem Können seiner Frau, sein Vertrauen zu ihr war unerschütterlich; aber, er wußte es wohl, da waren noch viele andere Bedingungen, die mitsprachen: Aufführung, Stimmung, Wetter und wohl noch anderes.

Die Hitze war glühend; die Menschen schlichen wie matte Fliegen. Lechzte er allein nur so nach einem belebenden Windzug, oder empfanden sie alle gleich ihm die Gier nach erlösendem Lufthauch? Man war gedrückt, wie niedergeschmettert, unfähig eines Aufschwungs.

Elisabeth schien die Hitze nicht zu empfinden; in ihrem festgeschlossenen schwarzseidenen Kleid ging sie neben ihrem Mann hoch aufgerichtet mit großen Schritten. Sie hatte seinen Arm nicht genommen, ein Stück Trottoir blieb frei zwischen ihm und ihr; als ob sie nicht zu ihm gehöre, so nahm sie ihren Weg allein. Es schien ihm, als schritte sie dahin, losgelöst von der Welt, durch Meilen getrennt von allem übrigen – er empfand es schmerzhaft –, auch von seiner Liebe.

»Elisabeth!« sagte er und berührte ihr Kleid.

Sie drehte den Kopf nach ihm um. »Ängstigst du dich?« fragte sie.

»O nein,« erwiderte er rasch, »ich freue mich!« Lebhaft fing er an zu sprechen, während des ganzen Weges; er machte sie auf die Theaterzettel an den Litfaßsäulen aufmerksam – da stand ihr Name. »So einen hebe ich auf für unseren Jungen. Und alle Zeitungsbesprechungen klebe ich in ein Buch, da soll er sich mal dran freuen, wenn er groß ist.«

Sie lächelte, sie verstand wohl, er wollte sie zerstreuen. »Jetzt bin ich ganz ruhig,« sagte sie, »jetzt bin ich wie der Soldat vor der Schlacht: siegen oder …«

»Siegen, du wirst siegen!« Er preßte ihr heftig die Hand.

Im Theater waren sie doch nicht die ersten Besucher. Gleich am Eingang stießen sie auf Kistemachers; Frau Julie hatte alles vergessen, was sie gegen Elisabeth auf dem Herzen gehabt. Mit ausgebreiteten Armen lief sie auf Elisabeth zu.

»Sind wir nachher zusammen?« fragte Kistemacher den Gatten. »Wir haben alle unsere Bekannten herbeordert. Wir trinken nachher ein Glas Sekt!«

»Du bist doch morgen früh zu Hause, Elisabethchen?« tuschelte Frau Kistemacher aufgeregt. »Die Kinder haben sich's nicht nehmen lassen, sie haben zusammengelegt zu einem Lorbeerkranz für dich. Ich sag' es dir schon jetzt, damit du die Vorfreude hast. Mein Mann hat ein paar reizende Verse gedichtet, Gretchen wird sie deklamieren, und Julie überreicht den Kranz. Sie haben sich so darum gezankt.« Sie drückte krampfhaft Elisabeths Hand. »Nein, muß dir jetzt zumute sein! Herrlich, und doch ängstlich.«

»Wir müssen gehen, schon kommen mehr Leute.« Ebel sah, wie peinlich seiner Frau dies Gespräch war. »Komm«, sagte er.

»Viel Glück! Na, ihr werdet uns klatschen hören! Auf Wiedersehen nachher. Wir klatschen dich heraus!« Frau Julie drehte sich noch einmal um und rief das letzte Elisabeth nach.

»Komm!« Hastig, wie auf der Flucht, riß Elisabeth ihren Mann mit sich fort.

Sie saßen in der kleinen, dunklen Orchesterloge wie in einem Käfig; ganz hinten. Ab und zu nur trat Ebel an das vergoldete Gitter und spähte in den Theaterraum. Flüsternd wendete er sich zu seiner Frau zurück. »Eine Masse Menschen da, auch bekannte Gesichter. Maier. Jetzt habe ich Heider entdeckt, er nickt, er weiß, wo wir sind. Da ist Marie Ritter. Im ersten Rang sitzt Frau von Lindenhayn, Alinde Rosen nicht weit davon. Da ist auch Bolten … da Frau Widmann und … noch einige andere!«

Elisabeth fragte nicht, und Ebel sagte es ihr auch nicht – da saß in der Mittelloge Eisenlohr, das klassische Profil war etwas scharf geworden, das lockige Haar über der Stirn hatte sich bedenklich gelichtet. Rechts von ihm saß Frau Eleonore Mannhardt; ihr Gatte lehnte hinter ihrem Fauteuil. Links von ihr saß Wlodzimira Starzynska, schlohweiß gekleidet. Die Gruppe erregte viel Interesse, immer wieder richteten sich die Operngläser dorthin.

Trotz der Hitze hatte sich das Publikum zahlreicher als sonst eingefunden. Man hatte zwar gestöhnt, war übler Laune, schalt über die Idee, sich jetzt ins Theater zu sperren, aber man war doch gekommen, es war ja eine Premiere.

In dem großen Hause war ein fortwährendes Gesumm und Gebrumm, durchsetzt von dem ungeduldigen Scharren der Füße und dem Knittern der Theaterzettel. Die Luft stand, dick zum Schneiden.

Der Anfang verzögerte sich. Die Statisten, die unerläßlich notwendigen Statisten für den zweiten Akt, die sonst immer schon eine Stunde vor Beginn da zu sein pflegten, waren heute noch nicht erschienen. Man wartete und wartete; endlich zeigte sich einer, maulig und unwillig. Er erklärte, die andern kämen nicht; sie hätten ihr Spielhonorar vom letztenmal noch nicht bekommen, und da sich ihnen für heute etwas anderes geboten, so hätten sie das Sichere vorgezogen.

Wadler wütete. »Das Pack, das gottverfluchte geldgierige Pack! Was ist denen die Kunst?!« Er schickte eilig herum, er ließ sich aufgreifen, wen man fand. Der Kellner aus dem Restaurant, der würde ganz gut den stummen Gast, den Offizier auf Urlaub, darstellen. Die beiden Garderobieren würden schon mal als die aus der Residenz zugereisten Damen passieren müssen. Das übrige Volk: ein paar Bauern und Kinder, waren auch zu beschaffen, und was noch fehlte, ließ man einfach weg.

Die Souffleuse verstellte dem Direktor, der sich am liebsten gedrückt hätte, den Weg. Die blasse, hagere Frau, die in ihrer Jugend eine reizende Naive gewesen war, befand sich in großer Aufregung. Sie hatte eben gehört, das Theater müsse geschlossen werden; nun hatte sie kein Engagement, die Sorge um das tägliche Brot war ihr zu Kopf gestiegen. In ihrer Todesangst klammerte sie sich an den Direktor, sie weinte, sie flehte, sie drohte und verlangte mit lauter Stimme Sicherheit und Entschädigung.

»Aber natürlich, liebe Frau – still! Es ist ja übrigens gar nicht die Rede davon, wir spielen – aber liebe Frau Speihahn, ich habe wirklich keine Zeit!« Schwertfeger suchte vergebens sich zu befreien.

»Meine Gage – noch vom vorigen Monat!« Die Speihahn ließ nicht locker. Mit Gewalt mußte Wadler ihr den Rock des Direktors aus den Händen winden.

»Marsch, fort in den Kasten!« schrie er sie an. »Sonst, Speihahn, können Sie morgen gehen!«

Und das arme Weib schlich aus alter Gewohnheit davon wie ein getretener Hund und verkroch sich in dem engen Souffleurkasten.

Einige hatten die Speihahn gehört, ein banges Geflüster ging von Mund zu Mund. Eine allgemeine Nervosität bemächtigte sich der Darsteller. Die kleine Bremer stand kurz vor ihrem Auftreten an eine Kulisse gelehnt und weinte jämmerlich; der rote Schminkeüberzug auf ihren schmalen Bäckchen zeigte lange Streifen von den herunterrinnenden Tränen.

Selbst zu der Maschka in die verschlossene Garderobe war das Gerücht gedrungen; sie konnte mit ihrer Toilette gar nicht fertig werden.

Schoenfließ nahm sich vor, dem Direktor mal ordentlich die Meinung zu sagen – hatte er sich darum die Tournee nach Amerika verschlagen? Er ging umher wie ein gereizter Löwe.

Das Publikum im Zuschauerraum wurde ungeduldig. Man fächelte sich, man wedelte mit Taschentüchern, mit den Theaterzetteln – unerhört diese Verzögerung – und diese Hitze! Warum fing man denn noch nicht an? Wie ein dumpfes Grollen stieg es herauf vom Parkett und herunter vom ersten Rang. Man sah sich gereizt um, schon gelangweilt, man gähnte, man machte schon faule Witze.

Endlich das dritte Klingelzeichen. Endlich rauschte der Vorhang auf.

Vornübergeneigt, mit weit aufgerissenen Augen, starrte Ebel auf die Bühne – Gott sei Dank, das erste Wort! Es leuchtete wie ein erlösender Blitzstrahl in die schwüle, bange Atmosphäre des Wartens. Eine unerhörte Angst hatte ihm das Herz zusammengeschnürt, er fühlte die drohende Ungeduld des Publikums, er zitterte um die geliebte Frau.

Sie saß ruhig da, scheinbar teilnahmlos, als ginge sie das da auf der Bühne gar nichts an. Aber jetzt sah er's: ihre Brust hob sich unter zitternden Atemzügen, ihre Hände hatten sich krampfhaft fest umeinander verschlungen, sie bezwang sich nur äußerlich. Seine Aufmerksamkeit war geteilt zwischen ihr und der Bühne; bei jeder geringsten Bewegung, die sie machte, heftete sich sein Blick forschend auf sie – hatte sie etwas auszusetzen, gefiel es ihr nicht? Aber allmählich nahm ihn die Handlung auf der Bühne mehr und mehr gefangen; er achtete weiter auf nichts anderes. Das war seine Elisabeth, die da oben sprach – verschwunden waren die Bretter, die Menschen, das ganze Theater – – ein freier Horizont tat sich weit auf. Das war Geist von ihrem Geist, wie ein starker Hauch grüßte der ihn. Er hatte es beim Lesen gar nicht so empfunden. Das war kühn! Mit keckem Spott weg über die Kleinlichkeiten des Lebens – das brauchte sich die sogenannte Gesellschaft nicht eben hinter den Spiegel zu stecken – das war fast zu scharf! Aber nun: eine große, innige Empfindung kam zu Wort. Wie das strömte, so voll, so reich, so durchglüht von heiligem Feuer! Spott, Bitterkeit, Schärfe waren verschwunden, eine große, herrliche Leidenschaft redete. Sie drang zum Herzen, sie mußte zum Herzen dringen.

Aus Ebels Augen liefen heiße Tränen, so hatte er nicht mehr geweint seit seiner Kinderzeit; ein Schluchzen erschütterte ihn, er fühlte sich bis ins Innerste ergriffen, hingerissen und beseligt zugleich. Das war seine Frau, seine Elisabeth, seine Künstlerin! So hatte er sie geliebt, so hatte er sie geahnt – nun offenbarte sie sich. Er tastete nach ihrer Hand. Da – sie zuckte zusammen – da …

Auf der Bühne plötzlich Stille. Alle Mitwirkenden sahen unverwandt nach einer Stelle hin; die Maschka war eben mit ausgebreiteten Armen auf die Tür zugeeilt, durch die der Bräutigam eintreten sollte – er trat nicht ein. Eine Pause tödlicher Verlegenheit entstand. Vergebens krächzte der sterbende Bauer, man hörte es dem Husten an, der war hier extemporiert. Die kleine Bremer hoffte Lorbeeren der Geistesgegenwart zu ernten, sie sagte mit ihrer weinerlichen Kinderstimme: »Wo bleibt der Herr so lange?«

Stummes Spiel.

Unruhe im Publikum.

Was war das? Wo blieb denn Schoenfließ?!

Ebel sah seine Frau an; sie war totenbleich geworden. Was ging vor? Er glaubte eine Unruhe und ein Rennen hinter den Kulissen zu vernehmen. Unten im Parkett, gerade dicht neben der Orchesterloge, saßen zwei junge Leute; sie stießen sich an und machten impertinente Gesichter.

War ein Unglück geschehen? Es mußte etwas passiert sein!

Da, endlich! Der Bräutigam erschien. Wie ein Aufatmen ging es durchs Publikum.

Der schöne Egbert war doch einigermaßen betroffen; das war ihm noch nie passiert, daß er die Klingel des Inspizienten überhört hatte – er hatte sich eben zu sehr mit dem Direktor gezankt. Als gewandter Künstler zog er sich aus der Affäre. Einige virtuose Stückchen halfen ihm über die Verlegenheit weg. Die Maschka war wütend, die brillanteste Szene hatte er ihr gestört. Bei der Umarmung kniff sie ihn heimlich; die unterdrückte Wut gab ihrem Spiel natürliche Leidenschaft. »Ausgezeichnet!« flüsterte man im Publikum. Sie hatte bei ihrem Abgang auf offener Szene einen Applaus.

Und jetzt – der erste Akt war zu Ende. Ebel lauschte – – jetzt mußten Beifallsstürme losbrechen!

Keine Hand rührte sich. Stille. Eiseskälte.

Kistemachers kamen in die Loge; sie waren ziemlich lau.

»Schade,« sagte Frau Kistemacher, »daß das passiert ist im ersten Akt. Sonst war es recht hübsch.«

Und Herr Kistemacher meinte: »Nein, so etwas! Aber regen Sie sich nur nicht auf, liebe Frau Ebel. Im zweiten Akt klatschen wir desto mehr.«

Elisabeth stand da, ohne ein Wort zu erwidern, und ließ Frau Julies Reden über sich ergehen; diese kam vom Hundertsten ins Tausendste. Sie war gerade bei Gretchens Zensur zu Oktober angelangt, als Ebel sich höflich an sie wandte: »Ich muß Sie schon bitten, liebe Frau Kistemacher – es ist besser, meine Frau bleibt jetzt allein.«

»Oh, aber ich – Sie irren, gerade ein bißchen Unterhaltung tut gut!«

»Das weiß ich besser«, sagte er bestimmt. »Elisabeth muß allein sein.« –

Nun begann der zweite Akt.

Die Statisten standen wie die Stöcke; sie erschwerten den Künstlern ihre Aufgabe. Die kleine Bremer war ohnehin verwirrt; Wadler hatte sie vorhin gleich hinter der ersten Kulisse heruntergerissen, hatte ihre Schlagfertigkeit, auf die sie stolz war, »vorlaute Schnabbrigkeit« genannt. Jetzt versagte ihr das Gedächtnis. Der Speihahn krankes, heiseres Organ war ohnehin nicht gut vernehmbar, heute war es ganz dahin, überschrien und verweint.

»Lauter! Bitte lauter!« Die Kleine ging nicht vom Souffleurkasten weg.

»Lauter! Donnerwetter, lauter!« Schoenfließ stampfte mit dem Fuß auf. Er lernte seine Rolle nie ordentlich, sondern verließ sich stets auf den Souffleur.

Die Stichworte fielen nicht richtig; eine unklare Stimmung lastete über dem ganzen zweiten Akt. – Wieder kein Beifall.

Kistemachers kamen nicht mehr in die Loge. Nur Heider ließ sich sehen. Er schien unruhig, sein Blick ruhte voller Sorge auf der jungen Frau; er wollte Ebel vor die Logentür ziehen, aber Elisabeth widerstrebte dem.

»Sagen Sie nur alles hier, was Sie zu sagen haben. Ich kann alles hören.« –

Und nun ging das immer so weiter; langsam fühlte Ebel eine Hoffnung nach der anderen abfallen. Waren sie denn alle vom Bösen besessen?

Die Darsteller tappten unsicher in ihren Rollen herum; die Maschka riß Kulissen, Schoenfließ spielte unlustig. Es war keine Einheit, kein Zusammenwirken mehr, unbarmherzig stieß jeder auf eigene Faust ein Stück des Gebäudes um. Und doch waren die Trümmer noch immer groß; Bruchstücke eines großen Talentes, so ragten sie aus dem Chaos. Ebel empfand einen unendlichen Schmerz. Sahen die Leute denn nicht, was hier zugrunde gerichtet wurde?

Wie hilfesuchend glitt sein Blick umher, die Angst verlieh ihm eine unheimliche Schärfe. Gesichter, Gesichter – – eine unendliche Reihe von Gesichtern. Da waren gleichgültige, gelangweilte, da kritische und da – wie gebannt starrte Ebel auf die Loge in der Mitte des ersten Ranges – da der berühmte Mann. Er neigte sich nach rechts, nach links – die beiden Damen lächelten, Mannhardt lächelte auch.

Was war denn komisch?!

Sie lächelten alle. Und nun – wer hatte zuerst laut gelacht?! Von oben, von unten, von links, von rechts – woher kam dieses Lachen? Es schwirrte heran wie ein giftiger Pfeil, es fuhr durch die Reihen, neigte sich über die Logenbrüstungen, kletterte hinauf bis zum Kronleuchter; auf der Galerie klang es unverhohlen, im Parkett versteckter, in den Logen kicherte es nur. Aber das Kichern, spitz und schrill, drang tödlich verwundend bis ins Innerste.

Elisabeth zuckte zusammen, sie bäumte sich auf, wie ins Herz getroffen. Ebel wagte nicht, sie anzusehen, er legte nur schützend den Arm um sie.

O dieses Lachen! Auf der Bühne sprachen sie verwirrt – wer konnte da ruhig bleiben? Tausend Teufel des Spottes huschten durchs Haus, grinsten hinter jeder Falte, aus jedem Winkel. »Ssss …« – Ebels Herz setzte den Schlag aus: was war das für ein Ton?!

»Ssss …, sssss …« Erst schüchtern, versuchsweise, dann anschwellend, keck: »Ssss …, ssss …« Um Gottes willen, sie zischten!

Die beiden jungen Leute unten schlugen die Hände zusammen und schienen sehr amüsiert; Ebel sah jeden Zug ihrer lachenden Gesichter. Sah Elisabeth sie nicht? Mit großen Augen starrte sie drein, ohne mit einer Wimper zu zucken. Wieder legte er den Arm um sie, sie saß kerzengerade.

»Ssss …!« Die beiden da unten klatschten und zischten zu gleicher Zeit. Ein schüchterner Beifall wagte sich zwar auch hervor. Das waren die Freunde der Autorin. Aber immer lauter tönte es: »Ssss …, ssss …!«

»Laß uns gehen«, flüsterte Ebel. »Elisabeth, geh!« Er drängte sie zur Logentür.

»Nein!« Das war das erste, was sie sagte; sie versuchte zu lächeln, mit todestraurigen und doch entschlossenen Augen sah sie ihn an. »Ich will nicht feige sein.« Sie setzte sich wieder hin.

Er rückte nah zu ihr, ihr schwarzseidenes Kleid hing ihm übers Knie, die Rosen dufteten ihn an – rote Rosen. Ein unsäglicher Jammer kam über ihn, er bückte sich und küßte verstohlen ihre Hand. Niemand sah's, sie waren ja so allein, ganz einsam auf der weiten Welt.

Und nun würde die Marter von neuem beginnen, nein, erst noch eine andere: Goedecke erschien in der letzten Pause. Wo hatte er denn den ganzen Abend gesteckt? Ebel hatte ihn nirgendwo entdecken können.

»Fatale Jeschichte das! Sehen Sie,« er beachtete den Mann gar nicht und wandte sich nur an Elisabeth, »habe ich's Ihnen nicht jleich jesagt: ändern Sie! Aber natürlich, der Autor weiß es immer besser.« Sein dickes Gesicht glühte wie eine Päonie. »Ich wasche meine Hände in Unschuld. Hätten Sie auf mich jehört!«

Ebel trat dazwischen. »Meine Frau ist wirklich jetzt nicht in der Stimmung, sich zu unterhalten. Nehmen Sie Rücksicht auf ihre begreifliche Aufregung.«

Goedecke machte ein impertinentes Gesicht. »Rücksicht?! Wer nimmt denn auf mich Rücksicht?« Er wischte sich den Schweiß ab. »Bin in allen Ecken 'rumjekrochen, mochte mich jar nicht sehen lassen, habe Angstschweiß jeschwitzt. Schreit mich der Schwertfeger an, schreit mich der Wadler an!« Er redete sich in Wut. »Solche Blamage! Ich will damit nichts zu …« Das Wort blieb ihm im Halse stecken, er fühlte sich mit unwiderstehlicher Gewalt nach der Logentür geschoben.

Und nun der letzte Akt.

Alle Kraft hatte die Autorin hier angesammelt, für einen Augenblick horchte das Publikum auf. Da kam der Schluß, ein jämmerlicher Schluß, dem Ganzen aufgepappt wie ein unpassender Flicken. Der Beifall, der sich kühn vorgewagt hatte, verstummte, er wurde niedergezischt, niedergestampft. Nein, so etwas dem Publikum zu bieten, da war man doch anderes gewohnt! Unter vollem Zischen fiel der Vorhang.

Ein Strom schwatzender Menschen ergoß sich in die Foyers, in die Garderoben, auf die Straße; man war aufgeregt. Nach der glühenden Hitze drinnen auch kein Luftzug draußen.

»So etwas Talentloses! Dafür sperrt man sich nun fast drei Stunden ein!«

»Schade um das gute Spiel!«

»So ein Durchfall!«

»Wir leben ja eben in der Saurengurkenzeit!«

»Unerhört, einem so etwas zuzumuten!«

Man schalt sehr viel. Die beiden jungen Leute, die in der Nähe der Orchesterloge gesessen hatten, wollten sich ausschütten vor Lachen, sie kamen wenigstens auf ihre Kosten; sie hatten Freibillette gehabt.

»Ohne jedes Lokalkolorit«, sagte ein Kritiker. »Eine Blume ohne Duft.« Am liebsten hätte er sich diese Bemerkung gleich notiert.

»Und der Schluß?!« – Darüber war man sich einig, der paßte wie die Faust aufs Auge.

»Ich kann mir nicht denken, daß das der ursprüngliche Schluß gewesen ist«, sagte Doktor Veilchenfeld. Er war nicht umsonst ein gefürchteter Kritiker. »Ich finde Talent, Spuren von großem Talent. Ich glaube, ich habe das Stück von Maier zugeschickt bekommen, muß doch mal drin nachlesen.«

Noch einige waren seiner Meinung, aber wenige; die Mehrzahl schlug sich auf die Seite der Zischer.

»Unglaublich!« sagte Frau Eleonore Mannhardt im Hinabschreiten zu ihrer Freundin Wlodzimira. »Sie schien doch mal recht talentvoll.«

»Solange du sie unter den Händen hattest, du darfst das nicht vergessen, Lorle!« sagte Herr Mannhardt.

Leonore nickte. »Sie hat sich zugrunde gerichtet durch ihre Heirat. Ihr Talent ist verkümmert.«

Eisenlohr holte Mannhardts ein.

»Nun?« Sie sahen ihn erwartungsvoll an.

Er zuckte die Achseln. »Ich habe keine rechte Fühlung fürs Drama, es arbeitet mir zu viel mit groben Effekten.« Er gab kein direktes Urteil.

Bolten kam mit Mia Widmann und Fräulein Rosen.

Alinde war wehmütig bewegt. »Ich möchte hingehen und ihr die Hand geben. Sie tut mir leid.«

Bolten küßte ihr den feinen Glacéhandschuh. »Sie sind rührend. Aber das lassen Sie nur, die Reinharz ist eine eingebildete Person. Der erste Eindruck, den ich von ihr empfing, war schon der richtige.«

»Ah, du, Wlodzimira?!« Frau Widmann neigte das Madonnenköpfchen kühl. Seitdem die Starzynska die berühmte Autorin geworden, waren sie nicht mehr so gute Freundinnen. Mia Widmann sprach gern von männlichem Egoismus und männlicher Undankbarkeit – schade, daß Fräulein Starzynska kein Mann war! »Du gehst wohl nicht mit uns nach Hause?« fragte sie spitz.

»Tut mir sehr leid. Ich bin noch bei Mannhardts!« Wlodzimira legte den Arm um Leonores Taille. »Wir vier werden uns da besser amüsieren als heute abend hier im Theater, nicht wahr, Meister?«

Sie lächelte Eisenlohr zu, und dieser reichte ihr im Gedränge den Arm, vielmehr sie nötigte ihn dazu, denn sie legte ihm einfach die Hand auf den Ärmel.

Frau Kistemacher war in einer traurigen Verfassung, ihre rundliche Figur war ganz aufgelöst. »Hans, komm nur schnell, laß uns machen, daß wir nach Hause kommen! Gott, wäre das peinlich, wenn wir sie träfen, was sollten wir denn sagen? Tut mir das leid! Komm schnell!«

Kistemachers brauchten keine Angst zu haben; einsam waren schon die Gänge, die Garderoben wie ausgestorben, als Ebel vorsichtig die Logentür öffnete.

»Komm, es ist niemand mehr da!« Er zog Elisabeth an der Hand heraus und leitete sie wie eine Blinde. Sie sah nicht rechts, nicht links, ihre Blicke waren ganz leer geradeaus gerichtet, jeder Glanz darin erstorben. Das schwarzseidene Kleid rauschte als Trauerfahne hinter der hohen Gestalt drein, die roten Rosen blätterten ab; da schimmerten sie wie große Blutstropfen, den ganzen langen Gang hinunter. Nur niemand begegnen! Sie hastete dem Ausgang zu. Wie Feuer brannte ihr der Boden unter den Füßen. »Hätte ich sie nur erst draußen an der frischen Luft«, dachte Ebel, »und dann zu Hause!« Er erschrak, er fühlte, sie zuckte zusammen – da stand noch eine einsame Frauengestalt beim Ausgang.

»Frau Reinharz?!« Die Dame trat mit fragendem Blick auf die Eilenden zu.

Es war die schöne Lindenhayn. Die Augen funkelten ihr in dem blassen Gesicht. »Es freut mich, daß ich Sie noch treffe,« sagte sie rasch, »man meinte, Sie wären schon fortgegangen. Es drängte mich, Ihnen ein Wort zu sagen.« Sie zögerte. Elisabeth sah sie verstört an; für einige Augenblicke standen sich die beiden gleichgroßen Frauengestalten wortlos gegenüber.

»Ich habe Sie früher schon sehr geschätzt,« die schöne Frau neigte verbindlich den Kopf, »jetzt«, sie neigte sich noch einmal, »bewundere ich Sie!«

Elisabeth reichte ihr die Hand. »Danke.« Weiter sagte sie nichts. –

Ebel atmete tief auf, als sie auf die Straße traten.

Nun waren sie aus dem Bereich der elektrischen Kugellampen, es wurde dunkler und dunkler um sie, keine Theaterbesucher mehr, nur vereinzelte Passanten, Liebespaare Arm in Arm, flüsternd aneinandergeschmiegt.

»Aus!« sagte Elisabeth heiser. Und dann schluckte sie, als schlucke sie etwas hinunter. »Sie lachten, hörtest du, wie sie lachten?« Ihre Augen bohrten sich ins Dunkel der Straße. »Sie zischten. Hörst du, sie haben mich ausgezischt!« Sie blieb äußerlich ruhig, aber ihre Hand fingerte an seinem Rock auf und nieder. »Ausgezischt, meine Hoffnung, mein … mein Stück!« Ein Schauer überlief ihre Gestalt, sie schwanke; ein unterdrückter Laut aus ihrer Kehle, er klang wie Ächzen. »Sie haben mich gedemütigt … tief … so tief!« Ihre Gestalt schien zusammenzusinken, ohne Halt, ohne Rückgrat.

»Hörtest du denn nicht, was Frau von Lindenhayn sagte?« Ebel biß sich auf die Lippen und sah umher: wo einen Trost für sie finden?! »Sie bewundert dich – und sie ist deine Kollegin! Es sind doch nicht alle so blind. – ›Ich bewundere Sie‹ – hörtest du das denn nicht?«

»Ich glaube ihr nicht!« Ihre Stimme erstarb. »Mitleid, nichts als Mitleid! Ich bin nichts, ich kann nichts, gar nichts – ich glaube niemand mehr!« Ihr Kopf sank auf die Brust.

»Auch mir nicht?« Eine Fülle von Liebe strömte aus seinem Ton. »Du kannst viel!« Er legte ihren Arm in den seinigen. »Komm, laß uns weitergehen, stütze dich auf mich!« Er zog sie näher, dichter zu sich heran, ihre ganze Schwere ruhte auf ihm. Er dachte nach: wie sie überzeugen?! Es fiel ihm nichts ein, und ohne sich länger zu besinnen, sagte er nur: »Ich glaube an dich!«

So wenige Worte, so arme Worte, und doch – war da nicht eine Welt voll Zuversicht, voll Vertrauen in diesem festen Klang? Sie hob den heruntergesunkenen Kopf und sah ihn an, wie gebannt; sie konnte nicht anders, sein Ton bezwang sie.

» Ich glaube an dich

Hell stand es mit Flammenschrift in der dunklen Nacht. –


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