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Eine Hochzeitsreise hatten sie nicht gemacht; am zweiten Tag nach ihrer Vermählung hatte die junge Frau bereits am Schreibtisch gesessen. Endlich war das Ziel erreicht, nun konnte sie wieder ungestört arbeiten! Mit einer Art Rührung hatte sie die Feder ergriffen; Wehmut war auch dabei. Das alte Zylinderbureau, vom Großonkel ererbt, hatte einem neuen Schreibtisch weichen müssen; Frau Kistemacher erklärte kategorisch, es verschimpfiere die ganze niedliche Wohnung. Nun prangte der neue Schreibtisch auf der kleinen Estrade im Erker: braunes, schön poliertes Nußbaumholz, grüne Tuchplatte, allerhand Schnitzereien und Galerien, sehr hübsch, aber doch fehlte Elisabeth die plumpe, behagliche Gestalt des alten. Sie hatte sich schon als Kind in des Onkels Stube dahinter versteckt. Und sie vermißte die vielen Tintenflecke, die unzähligen Spritzer und Spritzerchen auf der Ausziehplatte. Es war, als sei mit dem alten Schreibtisch die alte Sicherheit von ihr gewichen; sie traute sich nicht recht an die Arbeit, und als diese fertig war, gefiel sie ihr nicht.
Ihre Augen sahen schärfer als sonst. »Maßlos überschätzt«, »Geschöpf der Clique« – das waren Worte, die trafen wie Peitschenhiebe; und der Schmerz verlor sich nicht, immer wieder war er da. Sie feilte an ihrem Stil, verbesserte und verbesserte, strich Zeilen aus, nein, Seiten; sie wurde gereizt, ungeduldig und lauschte mit geschärftem Ohr auf das Urteil anderer, sie ward gierig nach Lob. Ein Tadel brachte sie ganz danieder; dann konnte sie tagelang nicht arbeiten. In Tageszeitungen, in Journalen las sie die Kritiken über neue Bücher. Früher hatte sie das nicht getan, da genügte ihr das eigene Schaffen, es füllte sie ganz aus; nun sah sie, da waren auch noch andere, die etwas leisteten, die bewundert wurden. Früher hatte sie das als selbstverständlich hingenommen, sie war noch nicht mit ihnen in eine Reihe getreten, hatte sie noch von unten mit selbstloser Verehrung angestaunt. Jetzt war das anders.
Es reckte etwas in ihr den Kopf auf, schlängelte sich um ihr Herz und ward größer und größer. War es Eifersucht, war es Selbstkritik, war es Ruhmsucht, war es ernstes Streben? Sie wußte es selbst nicht zu nennen. Immer häufiger konnte sie tagelang nicht schreiben, eine tiefe Niedergeschlagenheit kam dann über sie. Man mäkelte an ihr herum.
Ein Jahr nach ihrer Verheiratung hatte sie ein zweites Buch veröffentlicht; sie hatte daran gearbeitet mit einer leidenschaftlichen Hingebung und einer fast krankhaften Zähigkeit. Damals war sie oft leidend gewesen, mühsam hatte sie sich an den Schreibtisch geschleppt; mit eisernem Fleiß hatte sie die Gedanken gezwungen, die abirren wollten. Schweiß und Tränen waren aufs Papier getropft. Nichts mehr von der Naivität früheren Schaffens, von der befriedigenden Heiterkeit, dem mitleidigen Ernst. Sie lachte und weinte nicht mehr mit den Gestalten, die sie schuf, nein, das war sie selbst, immer nur sie allein, die blutenden Herzens rang, mit sich und mit der Welt.
Das Buch gefiel nicht. Verständnisvolle Kritiker verfehlten zwar nicht, es lobend hervorzuheben; aber was den Erfolg macht, das Publikum, das blieb ganz gleichgültig. Und wo waren die Freunde geblieben, wo die Schmeichler? »Ja,« sagte Maier, als er die ersten hundert Exemplare mit Not und Mühe verkauft hatte, »dabei wird's auch wohl fürs erste bleiben. Wer kauft heutzutage Bücher? Wenn's nicht die Clique macht! Sie haben persönlich für die Leute an Interesse verloren, liebste Frau. Da ist zum Beispiel die Mannhardt …«
»Sprechen wir weiter nicht davon«, sagte Elisabeth mit zitternder Stimme.
Maiers Augen blickten teilnehmend auf die junge Frau. »Übrigens, gleich nach Erscheinen Ihres Buches war Frau von Lindenhayn bei mir, sie holte es sich selbst. Und gestern sagte sie mir, wie hoch sie Ihr Talent stellt.« Er hatte der Autorin eine Freude machen wollen, das bleiche Gesicht trug einen so düsteren, wirren Ausdruck; nun war er betroffen, denn Elisabeths Lippen zuckten.
»Sehr freundlich«, sagte sie schneidend. »Sie war ja auch nicht meine Freundin.«
Ein Geschöpf der Clique?! Jetzt, wo Elisabeth es nicht mehr war, wußte sie, daß sie es gewesen war. Eine ohnmächtige Wut überkam sie, ein Grimm gegen sich selbst – war sie denn blind gewesen? – und zugleich eine Sehnsucht nach jenen Tagen der Verblendung, in denen ihr der Stern greifbar nahe schien, in denen sie darauflos marschiert war in einem goldenen, fröhlichen Selbstvertrauen.
»Den Stern des Ruhms und tausend andere Lichter im Leben!« Oft dachte sie an diese Worte Leonores, obgleich sie die Lampe in eine Kiste verpackt und auf den Boden getragen hatte. Diese Kostbarkeit paßte nicht in ihre einfache Einrichtung. Elisabeth schalt sich selbst kindisch, sie konnte auch bei diesem Schein nicht arbeiten. Sie wollte im Dunkeln sitzen, sie hatte keine Lichter mehr im Leben.
Und dann wurde ihr Kind geboren.
Im Wochenbett las sie die Kritiken über ihr Buch. »Sind neue da?« fragte sie jeden Tag ihren Mann.
»Ich weiß es nicht, rege dich darüber nicht auf! Du fieberst doch nicht? Du hast so rote Backen.« Die Sorge sprach ihm aus jedem Wort, aus jedem Blick. Er hatte nur Augen für ihr leibliches Wohl und für das Kind. Er war eben ein Philister.
»Geh und suche, ob du Rezensionen findest, geh in ein Café, in ein Lesekabinett. Du mußt doch wissen, wo du Rezensionen findest. Ich will sie lesen, alle lesen!« Sie griff mit unruhigen Händen auf der Bettdecke hin und her, und ihre Augen waren weit aufgerissen.
*
Heute saß Elisabeth an ihrem Schreibtisch. Um sie her war es still. Sie hatte sich abgehetzt; das neue Mädchen, ein ungeschickter Trampel, der alles zerbrach, alles anbrennen ließ, dazu gern an der Haustür stand und bei dem Burschen vom Hauptmann gegenüber Zeit und Arbeit vergaß, wusch heute. Mit aufgestreiften Ärmeln, bis zur Nasenspitze mit Seifenschaum bespritzt, setzte sie die Küche unter Wasser. »Sehen Sie sich vor, das Wasser läuft sonst durch die Dielen in die untere Etage«, hatte Elisabeth gemahnt. »Wir dürfen eigentlich gar nicht in der Küche waschen.« – Der Junge bekam Backzähne und war sehr weinerlich; man konnte ihn keinen Augenblick verlassen, sonst schrie er durchdringend. Mile mußte ihn hin und her tragen, auf ihrem Schoß schaukeln, mit ihm schäkern, sich ducken und Kuckuck spielen. Die Alte machte ein böses Gesicht, ihr Rücken war steif, das Kinderwarten wurde ihr sauer.
»Ich wer's nich lange mehr machen«, hatte sie zu Elisabeth gesagt. »So leid mir's tut, Sie im Stich zu lassen, aber ich muß mich zur Ruhe setzen. Sie sitzen den ganzen Tag am Schreibtisch, Sie wissen nich, was das heißt, den schweren Jungen schleppen. Und dann das junge Ding, die Berta! Von so 'ner Jöhre muß sich unsereins noch über den Mund fahren lassen.«
Es war Elisabeth mit Zentnerlast aufs Herz gefallen: wenn Mile ging! Wem sollte sie dann das Kind anvertrauen? Mit Blitzesschnelle schossen Schreckensbilder an ihr vorüber – – – das Kind schreit – es stellt sich im Bettchen auf – es lehnt sich übers Gitter – es stürzt heraus, kopfüber. Die gewissenlose Magd schäkert auf der Treppe, sie hört nicht, und die Mutter hört auch nicht, die sitzt am Schreibtisch. Oder an der Straßenecke, wo die Menschen hasten und die Wagen vorüberrasseln, Schienen sich kreuzen, da steht das Mädchen und begafft die Schaufenster, achtet nicht auf das Kind, es krabbelt auf dem Trottoir – plumpe Füße sind seinen kleinen Händchen nahe – es wird gestoßen, getreten – wo ist die Mutter? Die sitzt am Schreibtisch. Oder das Bübchen ist schon älter, es kriecht auf den Stuhl am Fenster, es guckt hinaus, der Wind spielt mit seinen Haaren, und die Sonne vergoldet sein Gesichtchen – da, ein Lärm auf der Straße – neugierig legt es sich über die Brüstung – immer weiter – immer weiter – seine kleinen Beinchen zappeln in der Luft, es lacht, es jauchzt – – – jetzt ein Schrei! – – – – – –
Elisabeth fühlte es eiskalt über ihren Rücken rieseln. Sie ging noch einmal hinein zu ihrem Kind und starrte es an, als sähe sie es zum letztenmal; sie strich über das blonde Köpfchen, kniete nieder und preßte den Kleinen an sich, lange und heftig. Dann ging sie, mit zusammengezogenen Brauen und einem Zug um den Mund, als litte sie körperliche Schmerzen, wieder hinaus.
Sie saß am Schreibtisch, die Feder in der Hand. Um sie kein Laut, und doch in ihrem Ohr fortwährend der durchdringende Schrei einer Kinderstimme. In der Nacht hatte sie wach gelegen, die Hände auf die Brust gedrückt, wie um das unbändige Klopfen des Herzens niederzuhalten. Nebenan in der Wohnung, auf der anderen Seite des Korridors, schlug die Uhr drei. Sie hörte es deutlich durch die Wand; ebenso ein behagliches Dehnen im Bett; wie die Bettstatt knackte; jetzt ein Gähnen und ein Schnarchen. Das war die Stunde vorm Morgengrauen, in der die Glücklichen schlafen; sie konnte nicht schlafen. Mit brennenden Augen starrte sie ins leere Schwarz. So hatte sie Nächte gelegen.
Es wollte sich in ihr etwas losreißen, es rang nach Gestaltung, es formte sich und zerging wieder und formte sich von neuem in anderer Gestalt; sie warf sich ohne Rast auf ihrem Lager – hin – her – ihr Kopf glühte, ihre Pulse hämmerten, hinter ihrer Stirn tobte eine Flucht gehetzter Gedanken. Sie stemmte sich auf die Hände und saß halb aufgerichtet, die Augen ins Dunkel gebohrt; es wühlte in ihr und drängte zum Licht, sie fühlte Schmerzen in Leib und Seele, schneidend, wie bei der Geburt ihres Kindes.
Und nun war es da. Ermattet lag sie langgestreckt, ihr Atem ging ruhiger. Nun sah sie – da war kein leeres Schwarz mehr. Greifbar deutlich standen Gestalten vor ihr, lächelten sie an, traten dicht an ihr Lager und streichelten sie mit weichen Händen. »Liebe uns, du hast uns unter dem Herzen getragen!« Sie hörte die Stimmen sprechen, klar und deutlich – lange Reden, Fragen, Antworten – hier war Licht, dort Schatten, die Gestalten verteilten sich auf beide Seiten, und sie brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie mühelos hin und her zu schieben wie Figuren auf dem Schachbrett.
»Morgen, morgen!« Mit einem Seufzer der Erleichterung, mit einem Erlösungszug um den Mund war die Müde eingeschlafen. Nachdem sie längst schlummerte, schloß erst Ebel die Augen.
Auch er hatte wach gelegen; er konnte nicht schlafen, wenn sie sich ruhelos warf. Nicht das Rascheln der Kissen, nicht der laute, fliegende Atem seiner Frau störten ihn, etwas anderes ließ ihn auf jeden Laut horchen, gleich ihr mit brennenden Augen in das Dunkel starren. Wo waren sie hin, jene Nächte, in denen sie sich an ihn geschmiegt? Von Liebe hatten sie auch damals nicht gesprochen, aber doch waren die Nächte schön gewesen – sie hatte ihm ihre Gedanken anvertraut. Ihre Ideen erhielten Fleisch und Bein, wenn sie sie vor ihm erstehen ließ; sie hatte oft gesagt, es werde ihr leichter, zu schaffen, wenn er darum wisse. Nun ließ sie ihn nicht mehr teilnehmen.
Seit jenem Herbstabend im Theater war sie wortkarg und verschlossen. Sie brütete stumm, ganz in sich versunken. Er sah wohl, es ging etwas in ihr vor, aber er fragte nicht; er scheute sich, mit einem Wort das zu verscheuchen, was vielleicht erst im Aufdämmern begriffen war. So wartete er und wartete – trübe Tage, einsame Nächte. Er litt mit ihr. – –
Elisabeth Reinharz schrieb ein Drama. Sie wußte nicht recht, wer ihr einmal gesagt hatte: »Nur das Theater macht berühmt.« Sie hatte das nicht vergessen. Und hatten nicht schon Mannhardts sie darauf hingewiesen, hatte sie nicht dramatisches Talent? Sie war dessen sicher. Aber nur heimlich, heimlich, keinem Menschen etwas davon verraten! Und dann auf einmal mit der Vollendung dastehen, und dann den Triumph von Wlodzimira Starzynska noch übertrumpfen! Was würde ihr Mann sagen? Sie wußte, er litt jetzt, aber dann würde er sich freuen und stolz auf seine Frau sein. Und der kleine Wilhelm? Dem würde sie den Grundstein zu einem Vermögen legen; ihr schwindelte, wenn sie an die hohen Tantiemen der Bühnenautoren dachte.
Sie war voll von einem fieberhaften Schaffensdrang. Wenn nur nicht die häuslichen Kümmernisse gewesen wären, diese störenden Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens! Man wurde aufgehalten, gehemmt, heruntergerissen von der Höhe; man brauchte dann Stunden, Tage, um mühsam wieder hinaufzuklimmen.
Der erste Akt war fertig, und nun arbeitete Elisabeth am zweiten. Es war ihr heute schwer geworden, sich hineinzufinden – was mochte das Mädchen in der Küche anstellen, und ob das Kind ruhig war? Sie las die Seiten wieder und wieder durch, die sie gestern geschrieben hatte. Das konnte ihr nicht genügen; sie setzte stärkere Lichter auf, und dann gefiel es ihr ganz und gar nicht. Nein, so ging das nicht! Sie verdarb alles, was sie gestern gut gemacht hatte. Unwillkürlich dachte sie an diese Kritik, an jene – welche Fehler sollte sie doch vermeiden? Sie fröstelte, wurde bleich und abgespannt von allem Ändern und Wiederändern. Aber endlich hatte sie sich gefunden, die störenden Gedanken verschwanden, nun konnte sie arbeiten.
Auf ihren blassen Wangen zeichnete sich eine heiße Röte ab, die Feder flog über das Papier. So war's recht! Sie fühlte eine Wollust, das niederzuschreiben, hier alles zusammenzutragen, was sie gesehen, empfunden und – verachtet hatte. Einmal mußte es heraus, sie erstickte sonst daran. Mit satirischer Schärfe zeichnete sie die Schwächen der Gesellschaft, unerbittlich sahen ihre Augen, grausam wahr stellte sie die Gestalten hin, hart wie das Leben selbst.
Sie hatte den Kopf kühn erhoben und sah kaum aufs Papier. Oh, sie war doch etwas! Allen Kleinmut fühlte sie abfallen, sie dünkte sich groß in ihrem Werk. Die Arbeit war wie ein nervenerregendes Reizmittel, das den Augen neuen Glanz gab, den Wangen warme Röte. Es spornte an – nichts mehr von Müdigkeit – es wischte die Enttäuschungen, die Demütigungen fort, es verlieh Selbstvertrauen und Tatkraft. Sie gab sich ganz ihrer Arbeit hin.
Es hatte geklopft; sie hörte nicht. Nun steckte das Mädchen den Kopf herein. Berta schien etwas verängstigt und trocknete ihre roten Arme unausgesetzt an der nassen Schürze ab.
»Der Hauswirt is da«, sagte sie und bemühte sich, ein recht harmloses Gesicht zu machen. »Es soll 'runterjelaufen sein bei die Leute unten. Is das ein Radau! Man sollte wirklich meinen – na!« Sie setzte eine beleidigte Miene auf.
Bleich stürzte Elisabeth in die Küche, jäh herausgerissen aus ihrer Gedankenwelt; kaum konnte sie Worte finden; sie entschuldigte sich verwirrt bei dem erzürnten Wirt. Sie tat des Guten zu viel; der ungebildete Mensch trumpfte immer mehr auf. Die Mieter unten hätten nach ihm geschickt, der ganze Plafond sei ruiniert, und so weiter. »An einer Stelle trippt es sogar«, sagte er. »Überhaupt beklagen sie sich, Tag und Nacht dies Kindergeschrei!« Es seien gute Mieter, die würde er nicht ziehen lassen, setzte er hinzu.
Ausziehen …?! Wie ein drohendes Gespenst tauchte das vor Elisabeth auf. War es denn noch nicht genug der Unruhe? Immer neue? Wochenlang nicht arbeiten können?!
Wie zerbrochen saß sie wieder am Schreibtisch. Wie sollte sie jetzt wieder anfangen? Das Gehirn war ihr wie ausgetrocknet; sie las die letzten Zeilen, und die kamen ihr lächerlich, ganz überspannt vor. So redete doch niemand. Nein, sie mußte sprechen wie der grobe Hauswirt, alltäglich, platt, trivial – nur so sprechen Menschen!
Ein Ekel überkam sie; die Feder fallen lassend, stemmte sie die Ellbogen auf, stützte den Kopf in die Hände und sah mit müden Augen vor sich hin. In grenzenloser Abspannung mußte sie gähnen. Solange man im Steigen bleibt, immer hinauf den Berg, spürt man die Müdigkeit nicht; aber wehe, wenn man stehenbleibt! Dann sind die Knie steif, die Füße schwer, man fühlt die Unmöglichkeit, weiterzugehen. Elisabeth war ganz verzagt, sie konnte nicht mehr. Drei Stunden hatte sie gearbeitet, das war noch nicht viel; war sie denn so schwach, so leistungsunfähig?
Mit einer gewaltsamen Anstrengung zwang sie sich; sie fühlte, wie ihre Nerven sich anspannten, straff zum Zerreißen, aber es mußte sein – heute noch weiter, jetzt gleich, denn morgen kam wieder eine andere Störung – nur keinen Aufschub! Sie biß die Zähne zusammen, ihr Kinn steifte sich, ihr Gesicht wurde streng, wie aus Stein gehauen. Der Kopf schmerzte sie, der Ideengang wollte sich verlieren in ein Labyrinth; wie Irrlichter huschten allerlei blöde Gedanken hin und her, aber mit eiserner Energie suchte sie immer wieder den Pfad auf. Sie ließ nicht ab, sie schrieb, sie strich durch, sie schrieb und strich wieder durch, und nun – Triumph! –, jetzt konnte sie wieder arbeiten! Besser als vorher. Eine trotzige Freude breitete sich über ihr Gesicht, mit keckem Anlauf nahm sie ein Hindernis, und nun noch eins, und nun flog die Feder dahin mit spielender Leichtigkeit, ein wohldressierter Renner, der jedem Schenkeldruck seines Herrn gehorcht.
Sie fühlte keine Müdigkeit und spürte auch keinen Hunger. Flüchtig blickte sie auf die Uhr – nun ja, es war Mittagszeit, aber was tat das? Wilhelm hatte es ihr zur Pflicht gemacht, auszuruhen und genügend zu frühstücken; er kam erst gegen sechs Uhr nach Hause, dann aßen sie. Aber nein, nur keinen Aufenthalt – voran!
Man hörte nichts im Zimmer als das Kritzeln auf dem Papier, als das Wenden der Seiten. Plötzlich ein Klingeln draußen. Das störte sie nicht, dagegen war Elisabeth taub; es war auch der Berta streng eingeschärft worden, wenn die Frau arbeitete, wurden keine Besuche angenommen, wer es auch sein mochte.
Draußen fand eine ziemlich lange, flüsternd geführte Unterredung statt. Nun näherten sich Tritte der Stubentür – nun ein Klopfen – zugleich wurde die Klinke niedergedrückt. »Guten Tag! Na, liebe Elisabeth, wie geht es dir denn? Was macht der Junge?«
Das war Frau Julie Kistemacher, die ihre Jüngste bei sich hatte. »Ich störe dich wohl?«
Die Schreibende war hoch aufgefahren, erschreckt stand sie da, wie eine aus dem Hinterhalt Überfallene; die Feder rollte aufs Papier und machte einen häßlichen Klecks. Elisabeth war bleich, dann bedeckte sich ihre Stirn mit Zornesröte – hatte sie dem Mädchen nicht verboten, Besuche anzunehmen?
Als ob sie's erriete, sagte Frau Julie: »Dein Mädchen wollte mich erst abweisen, sie sagte, sie sollte keinen Besuch annehmen. Aber ich bin doch kein Besuch. Und wenn man so viel zu tun hat wie ich, und wenn man einen so weiten Weg hat wie ich, will man doch nicht gern an der Tür wieder umkehren. Scheußlich von euch, daß ihr so weit 'rausgezogen seid, bis hier nach Schöneberg! Vor zehn Jahren war hier noch freies Feld – ih, was sage ich, vor sechsen. Man steht sich ja gar nicht mehr!«
»Ja, es ist sehr weit«, sagte Elisabeth zerstreut; ihre Gedanken waren noch ganz bei der Arbeit.
Frau Kistemacher saß schon auf dem Sofa; ihre Jüngste, ein munteres Mädchen, stöberte im Zimmer herum. »Na, aber im Sommer,« Frau Julie sprach tröstend, »dann kommen wir öfter, dann betrachten wir das als Landpartie, nicht wahr, Gretchen? Du kommst doch gern zu Tante Elisabeth? Sie wollte heute durchaus mit dem kleinen Wilhelm spielen. Laß, Kind, laß, das darfst du nicht anfassen!«
Elisabeth war auf die Estrade gesprungen und hatte dem Mädchen ihr Manuskript aus der Hand gerissen; es blätterte neugierig darin. Man schickte Gretchen ins Kinderzimmer.
»Was ich sagen wollte,« Frau Kistemacher zog die Handschuhe aus und knöpfte den Mantel auf, »hast du nicht Lust, dir etwas Schweinefleisch einzupökeln und auch selbst Wurst zu machen? Wir könnten uns zusammen ein kleines Schwein kommen lassen, ich habe die Adresse von 'nem billigen Schlächter da in deiner Gegend. Du willst nicht? Es macht ja etwas Arbeit, aber es schmeckt doch ganz anders und ist außerdem auch billiger.«
Elisabeth schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit.« Sie fühlte, wie es ihr in jeder Fingerspitze zuckte, es riß sie mit Gewalt – dahin – dahin! Einen sehnsüchtigen Blick warf sie nach dem Schreibtisch.
»Ah so, du schreibst wohl wieder?« Julie Kistemacher schickte einen neugierigen Blick hinüber. »Was denn?«
Elisabeth zögerte mit der Antwort. Sie mochte nicht lügen, und Näheres mochte sie auch nicht sagen. »Ja, ich – ich schreibe«, erwiderte sie gepreßt.
»Also ein Geheimnis. Früher warst du nicht so zurückhaltend, da erfuhren wir gleich alles. Weißt du noch, wie du mit deinen Arbeiten immer heruntergelaufen kamst? Du trautest dich nicht, was aus der Hand zu geben, ehe mein Mann sein Urteil gefällt hatte. Lieber Gott, wie manchen Abend hat er noch spät darüber gesessen! Ja, ja, das war eine schöne Zeit!« Frau Julie schwelgte in Erinnerungen, sie legte sich ins Sofa zurück, ihr frisches, vollwangiges Gesicht bekam einen elegischen Ausdruck. »Das war wirklich ideal!« Sie seufzte. »Ja, ja, es kommt manchmal im Leben ganz anders, als man denkt.« Aufmunternd sah sie Elisabeth an. »Mein Mann sagt, du solltest doch wieder mal was Größeres versuchen, 'nen Roman oder so was. Wenn du verlegen um Stoffe bist, na, ich sage dir, dann mußt du dich an meinen Mann wenden, der erlebt was, sage ich dir! Seit du verheiratet bist, ist es so still von dir!«
Elisabeth wurde rot, sie glaubte aus Frau Kistemachers Worten eine versteckte Geringschätzung herauszuhören. »Du hast wohl mein letztes Buch vergessen?«
»Ach so, das! Ja, ich will dir sagen …« Frau Kistemacher besah ihre Nägel, dann setzte sie sich in Positur. »Da wir gerade davon sprechen, ich bin immer für Aufrichtigkeit: das wäre doch nicht mehr als recht gewesen, daß du uns das Buch geschenkt hättest. ›Laß doch,‹ sagte mein Mann, ›ich werde es dir kaufen.‹ Aber nein, von meiner Freundin kann ich doch wohl die kleine Aufmerksamkeit erwarten! Wir haben es nicht gelesen.« Vorwurfsvoll sah sie Elisabeth an; diese sagte nichts. Frau Kistemacher fuhr fort in einem Ton, der sich allmählich mehr und mehr zuspitzte. »Das ist ja sehr schön, daß du so ganz in deinem Mann aufgehst, aber du darfst doch deine früheren Freunde nicht gänzlich vernachlässigen.«
Elisabeth reichte ihr die Hand. »Verzeih,« sagte sie müde, »du hast recht, ich habe mich zu sehr eingesponnen. Ich habe keine Zeit.« Es klang sehr kleinlaut.
Frau Julie Kistemacher schnellte vom Sofa auf. » Ein Kind, die kleine Wirtschaft, und jetzt sogar zwei Mädchen! So gut habe ich es anfangs nicht gehabt. Du hast doch nicht so viel zu tun!«
»Ich habe nicht so viel zu tun«, wiederholte Elisabeth; ein herzzerreißendes Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Ich hätte auch nicht so viel zu tun, wenn ich nicht …« Ihr Blick suchte wieder den Schreibtisch; dann senkte sie den Kopf.
»Na, du brauchst doch nicht ums tägliche Brot zu schreiben, was sitzt du denn den ganzen Tag am Schreibtisch? Sehr unrecht!« Frau Julie faßte sie unters Kinn. »Was warst du für'n frisches Mädel!«
Elisabeth nickte nur.
»Du sitzt viel zuviel zu Hause, du mußt dich zerstreuen, öfter was mitmachen. Im Kaufmännischen Verein sind so reizende Bälle. Wir wollen auch mal zusammen in ein nettes Lustspiel gehen, recht was zum Lachen. Oder in den Zirkus. Du gefällst mir gar nicht!« Sie legte den Arm um Elisabeths Schulter und sah sie besorgt an. »Du bist auch mager geworden und hast Schatten unter den Augen.«
»Ich hatte gerade gearbeitet.«
Frau Kistemacher hörte gar nicht. »Ei, du bist doch noch verhältnismäßig 'ne junge Frau! Ein bißchen lebenslustig sein, hörst du? Du bist das deinem Mann schuldig. Die Männer sind nun mal so, sie wollen vergnügte Gesichter um sich sehen. Eine Frau hat sich's immer selber zuzuschreiben, wenn ein Mann sich von ihr abwendet.«
»Meinst du?« Wie ein plötzliches Erschrecken zuckte es durch Elisabeths matten Blick.
»Na, bei deinem brauchst du keine Angst zu haben, das ist ein Musterehemann; aber es fiel mir auf, ich kann es dir nicht verhehlen, er sah neulich schlecht aus. Ich fragte nach dir, da sagte er: ›Meiner Frau geht's gut.‹ Aber er sagte das so traurig. Ihr habt euch doch nicht gezankt?«
»O nein!« Elisabeth lachte, aber es war ein hartes, klangloses Lachen; und dann, wie sich besinnend, fragte sie hastig: »Du findest, er sieht schlecht aus?«
» Sehr schlecht!« Frau Julies rundes Gesicht zog sich in die Länge. »Miserabel. Wie hat der Mann in den paar Jahren gealtert! Wenn ich nur wüßte, was ihr Leutchen macht?!« Sie hob mit einem halb ernsten, halb scherzhaften Lachen drohend den Finger. Und dann klopfte sie der jungen Frau auf die Schulter:
»Kriegt nur erst zwei, drei Kinderchen, dann werdet ihr wieder frischer!«
»Um Gottes willen!« Elisabeth sprang auf und lief wie von Angst gejagt im Zimmer hin und her. »Das wäre ein Unglück!«
»Wieso?« Die andere sah verständnislos drein.
»Ich könnte nicht arbeiten«, murmelte Elisabeth tonlos. »Nein, nein!« Abwehrend streckte sie die Hände aus.
Frau Kistemacher erhob sich entrüstet vom Sofa. »So was zu sagen! Ich würde mich doch der Sünde schämen. Das hätte ich nicht von dir gedacht. Möchtest du es nie bereuen!« Sie knöpfte ihren Mantel zu und zog die Handschuhe an. »Meinst du, deinem Mann wären ein paar gesunde Kinder nicht lieber als deine ganze Schreiberei?« Sie öffnete die Tür und rief nach ihrer Jüngsten; als sie keine Antwort erhielt, lief sie ins Kinderzimmer.
Elisabeth blieb allein zurück; sie stand mitten in der Stube und starrte auf den Teppich. Ihre Blicke bohrten sich ordentlich in das Muster ein; sie rührte sich nicht. Ihr Mann schlecht aussehend?! Ja, er sah schlecht aus. Hatte sie's nicht selbst schon bemerkt? Er hatte Falten auf der Stirn, Falten um den Mund, und das schöne Braun seiner Augen war ohne goldigen Glanz; er saß oft in Gedanken verloren, und dann seufzte er. Er tat ihr leid – aber warum hatte er sie denn geheiratet? Eine Frau wie sie war kein Spielzeug; sie mußte schreiben, schaffen und konnte keine Rücksicht nehmen. Wie Groll wollte es in ihr aufsteigen, und doch, sie konnte ihm nicht zürnen – – ach, sie hatte es ja selbst so gewollt!
Jetzt zuckte sie zusammen, Frau Kistemachers Organ war wieder zu hören; sie kam aus der Kinderstube und schäkerte noch im Gang mit dem Jungen. »Adieu, Wilhelmchen! Du armes Jungchen! Adieu!«
Warum sprach sie so? Armes Jungchen – diese Zärtlichkeit hatte etwas Besonderes. Elisabeth riß die Tür auf. Da stand Frau Kistemacher und winkte heftig mit beiden Armen; Mile hielt den zappelnden Knaben. »Adieu, Wilhelmchen, adieu, mein armes Jungchen!«
»So ein süßes Kind!« sagte Frau Julie immer noch in dem gleichen bedauernden Ton. »Komm, Gretchen!« Sie nahm ihre Jüngste fest an die Hand. »Wir gehen jetzt.«
Elisabeth wollte dem Mädchen einen Apfel holen. »Nein, nein, laß nur,« wehrte die Mutter, »wir wollen nicht bei der Arbeit stören. Komm, Gretchen, komm!«
Ehe sich die Entreetür schloß, sah Frau Kistemacher noch einmal in das Gesicht der jungen Frau, es war so blaß, so leidensvoll. Ihre Zuneigung gewann die Oberhand. »Na, Elisabeth, laß dich bald bei uns sehen«, sprach sie gutmütig. »Komm doch mal abends mit deinem Mann ganz gemütlich. Sag', wann wollt ihr kommen?«
»Sowie ich mit meiner Arbeit fertig bin.« Elisabeth wollte die Tür schließen, eine zitternde Unruhe zog sie zurück zum Schreibtisch; sie konnte es kaum mehr aushalten.
Frau Kistemacher blieb noch stehen, jetzt war sie ernstlich böse. »Immer und immer arbeiten«, grollte sie. »Früher liefst du zu Gott und der Welt, und jetzt sitzt du zu Hause wie angeschmiedet! Nimm's mir nicht übel, liebe Elisabeth, es gibt doch auch noch andere, die etwas leisten. Ich lese jetzt ein himmlisches Buch von der Widmann – was die alles studiert hat! Wie schön spricht sie über die Pflichten der Ehe! Drei Kinder hat sie auch, ist mir erzählt worden; die hat doch gewiß ganz anders zu tun als du, und doch sehe ich sie schon alle Morgen früh mit ihrer Freundin, der berühmten Starzynska, vorbeiradeln. Und im ›Frauenwohl‹ ist sie auch stets. Hab' du dich nur nicht so! – Komm, Gretchen!« Wie eine Gewitterwolke, gejagt vom Sturm, stob sie davon.
Nun konnte sich Elisabeth wieder an den Schreibtisch setzen. Da lockte das weiße Papier, die Feder steckte im Tintenfaß, es war ganz still, heimlich-traulich im Zimmer; die Primeltöpfe, die Wilhelm neulich dort ans Fenster gestellt, fingen an, süß zu duften. Frühe Winterdämmerung schaute durch die Scheiben, stahl sich in jeden Winkel und lullte nach und nach alles ein.
Sie konnte nicht weiterschreiben; sie warf sich aufs Sofa mit einem Jammerlaut und drückte das Gesicht ins Polster. Sie fühlte sich namenlos elend, ihre Nerven waren wie auf Draht gespießt, man hatte ihren Geist auf die Folter gespannt. Wäre die doch nicht gekommen! Nicht genug, daß sie sie herausgerissen hatte aus der schönsten Schaffensfreude, nein, jetzt war sie ganz verzweifelt. Sie wand sich in Qualen; in ihrem Kopf war ein unentwirrbares Chaos von Sehnsucht, Schmerz, Zorn, Gier und Selbstvorwürfen. Das zuckte, das zerrte, das drängte, das nagte, das bohrte, das stieß; es war, um den Verstand zu verlieren. Sie preßte beide Hände gegen die Schläfen und stöhnte. Dann lag sie auf dem Rücken, regungslos, die Augen geschlossen, die Hände geballt, ganz hingenommen von ihren Gedanken.
Es wurde ganz dunkel. War sie eingeschlummert? Eine dumpfe Bewußtlosigkeit umfing sie; sie träumte von ihrem Stück – so ging der zweite Akt weiter, ja, so war er gut, sehr gut! So mußte der Schluß sein. Ah, was war es für eine Erleichterung, das von der Seele zu haben! Es atmete sich besser, der furchtbare Druck des Werdens, der Tag und Nacht auf der Seele lag, war gewichen; so sanft schlug das Herz, so ruhig ging der Atem. – – – – – –
Mit jähem Schreck fuhr Elisabeth auf. Berta stand dicht vor ihr. Sie trug die Küchenlampe in der Hand; der gelbe Blender warf einen unangenehmen, den Augen wehe tuenden Schein.
»Ich sag's ja immer, die Lampe brennt scheußlich«, sagte Berta. »Daß wir hier keinen Jas haben, in herrschaftliche Wohnungen ist das doch immer. Oh, Madam,« das Mädchen war gutmütig, »haben Sie sich erschreckt?«
»Nein, nein!« Elisabeth war schon auf den Füßen. »Was ist passiert?«
»Jar nischt!« Berta sah ihre Dame verwundert an. »Wenn Frau Ebel nu mal in die Küche kommen möchte – ich kann mir nich kümmern, ich habe noch mit der Wäsche zu tun, und der Herr wird jleich kommen.« –
Wilhelm Ebel saß seiner Frau beim Mittagessen gegenüber und war erschrocken über ihr Aussehen. Sie schien um Jahre älter, so verarbeitet, an den Augenwinkeln nach den Schläfen zu unzählige kleine Fältchen, und von der Nase abwärts zogen sich zwei tief eingegrabene Linien. War das seine schöne, blühende Elisabeth? Er sah sie an in einer stummen und doch beredten Angst.
»Was siehst du mich so an, Wilhelm?« Sie hatte es sanft sagen wollen, aber es klang gereizt.
»Meine liebe Frau!« Er legte plötzlich die Gabel hin, nahm ihre Hand und küßte sie; dann ließ er die nicht los, sondern drückte seine Augen, seine Stirn darauf. »Du hast wieder zu viel gearbeitet.«
»Hätte ich nur!« Es brach los wie ein Unwetter. »Frau Kistemacher kam und störte mich. Oh, die …!« Sie starrte auf ihren Teller.
»Aber das Mädchen hatte doch Befehl …« Er machte Miene, aufzuspringen. »Berta!«
»Laß nur, laß!« Sie zog ihn nieder. »Das nutzt doch alles nichts. Ich werde immer gestört, immer! Da kommt dieses, da kommt jenes.« Sie erzählte ihm die Geschichte von dem Hauswirt. »Und Berta ist zu nachlässig. Mile will auch nicht bleiben, ich komme nicht mehr zum Arbeiten. Ich kann nicht mehr arbeiten!«
Ein verzweifelter Zug verzerrte ihr Gesicht, sie biß die Zähne aufeinander, um nicht laut aufzustöhnen. »Die Dienstboten, der Haushalt, das Kind,« sie knickte ganz zusammen, »ich kann manchmal nicht mehr!«
»Und da bin ich noch!« sagte er traurig. »Oh, was machst du mir für einen Vorwurf, Elisabeth! Wärst du nicht meine Frau geworden, dir wäre besser.« Er starrte vor sich nieder, die Stirn in finstere Falten gezogen. Draußen ging der eisige Winterwind und stöhnte an den Scheiben. Für Minuten schwiegen sie, eine herzbeklemmende Stille war im Zimmer. Die Speisen dampften; niemand rührte sie an.
»Bist du mir böse?« fragte sie dann scheu, ohne den Blick zu heben.
Er breitete die Arme aus. »Meine arme Frau!«
Sie schien seine ausgebreiteten Arme nicht zu sehen, sondern schüttelte den Kopf. »Du bist arm,« sagte sie schneidend, »ich habe dich betrogen. Was hast du denn? Eine traurige Häuslichkeit, eine Frau, die nichts leistet, eine Frau, die immer mißvergnügt ist, oh,« sie hob die Hände in leidenschaftlichem Schmerz, »sie brauchte es mir nicht erst zu sagen, ich habe es wohl gefühlt: du bist nicht glücklich! Ja, du siehst schlecht aus!« Sie sprang auf ihn zu und drehte sein Gesicht nach der Lampe, der hellere Schein zeigte dessen ganze Traurigkeit. »Bist du unglücklich? Ach ja, ach ja!« Sie schluchzte, ein trockenes, herzabstoßendes Schluchzen ohne jede Träne. »Ich habe dich so weit gebracht. Da ist nichts von Jugend, nichts von Freudigkeit mehr, ich habe sie davongejagt. Ich verderbe dir dein Leben, ich quäle dich!«
Sie fiel vor ihm nieder, ihre unruhigen Hände tasteten an seinem Rock hin und her. »Armer Mann!« Und dann sprang sie wieder auf und hob die Hand und ballte sie zur Faust, ein wilder Blick war in ihren Augen. »Dieses verfluchte Schreiben! Wenn ich's nur lassen könnte! Es macht dich unglücklich, mich unglücklich, es macht unser Kind unglücklich … es hat mich behext … haha,« sie lachte grell, »ich habe keinen anderen Gedanken mehr, nur schreiben … des Nachts, des Morgens, am Tag … solch ein Unsinn, Makulatur, die zu nichts taugt! Aber ich kann nicht anders!« Ihre Stimme wurde weich; sie weinte. »Wir könnten glücklich sein, du bist so gut, wir haben ein liebes Kind. Aber nein, nein!« Sie schüttelte die wirren Haare aus der Stirn und richtete sich hoch auf. »Ich will etwas erreichen! Ich will! Ich will!«
Jede Muskel in ihrem Gesicht war angespannt; sie zitterte vor Begier.
»Du wirst etwas erreichen!«
»Ja, wenn es zu spät ist!«
»Habe Geduld!« Er sah sie bittend an. »Laß uns Geduld haben!«
»Geduld?!« Sie lachte höhnisch. »Wie sagt doch Heider? Nun, ich pfeife auch auf die Geduld! Warten, warten – ich habe keine Zeit zum Warten. Jetzt will ich groß sein, heute, morgen – wenn ich alt und müde bin, brauche ich nichts mehr von der Welt. Jetzt, jetzt!« Sie streckte die Arme aus und zog sie dann wieder an sich mit einer Gebärde, als presse sie etwas an die Brust. » Jetzt will ich ihn haben!«
»Elisabeth!« Er legte ihr mahnend die Hand auf den Arm.
»Laß mich nur!« Sie sah ihn zürnend an. »Was verstehst du davon? Du ahnst ja nicht, wie es in mir aussieht. Du kennst nicht das verzehrende Feuer, das in mir brennt. Du weißt nicht, was es heißt, ohne Erfolg arbeiten. Es ist schrecklich, es ist entsetzlich; es peitscht einen mit Dornen voran und reißt einem das Herz in Stücke. Man ist verzagt, matt, zu Tode erschöpft – – und doch immer wieder ein Peitschenschlag. Ach, nur ein Erfolg!«
»Ich habe geglaubt, der echte Künstler frage nicht nach dem Erfolg«, sagte er ernst. »Das Höchste sei ihm die eigene Überzeugung.«
»Redensarten!« Sie kreuzte die Arme über der Brust und starrte finster vor sich nieder. »Dann bin ich eben keine echte Künstlerin.«
»Und doch bist du's!« Er war aufgestanden und näherte sich ihr liebevoll. Auf seinem Gesicht stritten Mitleid, Trauer und Zärtlichkeit. »Elisabeth, das sind schwere Zeiten, wir müssen sie gemeinsam tragen. Du hast doch ein Herz, das mit dir fühlt, vergiß das nie! Viele sind ganz allein.«
»Keiner leidet so wie ich«, murmelte sie dumpf.
»Viele.« Er senkte den Kopf.
»Und bin ich denn eine Künstlerin, eine wirkliche, wahrhaftige, berufene? Oh, diese Zweifel!« Sie rang die Hände. »Wenn mir nur einer die Gewißheit gäbe – bin ich eine?«
Er sah sie voll an. »Ja, du bist eine!« Ein Lächeln ging über sein Gesicht, ein vertrauendes, hoffnungsreiches Lächeln.
»Ja …?« Sie starrte ihn ungläubig an.
»Ja!« sagte er einfach.
Wie ein Erlösungsseufzer kam es aus ihrer Brust; es war ein tiefer, befreiender Atemzug. Langsam trat sie an ihn heran, ganz dicht, ihr Atem schlug ihm mit Gluthauch ins Gesicht, sie verwandte keinen Blick von ihm. »Sag' es noch einmal!« Ihre Augen waren weit aufgerissen und sahen ihn durchdringend an.
Er zuckte mit keiner Wimper. »Und wenn du kein Wort mehr schreiben könntest, und wenn jetzt niemand deinen Namen kennte – du bist doch eine Künstlerin, eine große Künstlerin! Habe Mut!« Sanft streichelte er über ihre Wangen. »Du wirst dich durchringen, deine Zeit kommt noch – ich weiß es.« Seine Ruhe hatte ihn verlassen, er sprach erregt, ein steigendes Rot auf den Wangen. »Ich weiß es!«
»Ist … das … wirklich … wahr …?« Langsam, gleich schweren Tropfen fielen die Worte von ihren Lippen. »Kannst du es mir schwören?« Sie krampfte die Finger in seinen Rock.
»Ich schwöre es dir bei allem, was uns teuer ist, bei unserem Kind, bei unserer Liebe!« Ihre Leidenschaft hatte ihn angesteckt, er ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen und zog sie auf seinen Schoß. »Meine liebe, liebe Frau, meine Geliebte, sei unverzagt, sei ruhig, sei heiter! Ich liebe dich ja so sehr!« Er bedeckte ihr Gesicht, Stirn, Mund, Wangen, ihren Hals mit Küssen. »Sag's mir einmal,« eine unendliche Sehnsucht sprach aus seiner Stimme, »du hast es mir noch nie gesagt: liebst du mich?«
Sie lag wie betäubt in seinem Arm; ihre geschlossenen Lider zuckten. Jetzt fühlte er ein Zittern durch ihren Körper gehen.
»Liebst du mich?« flüsterte er dringend, aus trockener Kehle heraus, wie ein verdurstend Schmachtender um Wasser fleht.
Sie öffnete die Augen, aber ihr Blick traf nicht ihn, er war in fernste Fernen gerichtet.
»Liebst du mich?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte sie abwesend.