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Am Bettchen seines Kindes stand Wilhelm Ebel und starrte entsetzt auf das mit nassen Tüchern bedeckte Köpfchen.
In seinen Ohren war noch das Lachen, das Zischen des Publikums, und jetzt? Ein anderer, ein viel furchtbarerer Ton. Alles schwand dahin, als wäre es nicht gewesen, das Theater, die Menschen, der ganze Abend; nur dieser eine Ton, der blieb. Das Kind stöhnte.
Die kleinen Lippen waren halb geöffnet, nun entrang sich ihnen wieder das Stöhnen, furchtbar bei einem Erwachsenen, noch furchtbarer aus dem unverständigen Kindermund.
»Wilhelm, Wilhelmchen!« Angstvoll beugte sich der Vater über das Bett und nahm das Händchen des Kindes; schlapp hing es in seiner Hand.
»Wilhelmchen!« Die schweren Lider öffneten sich einen Spalt breit, einen Moment zeigte sich das glasige Weiß des Auges. Wieder das Stöhnen. Das Gesichtchen neigte sich ein wenig zur Seite, da lag es, totenblaß, einen seltsam unkindlichen Leidenszug um das Mündchen.
Ein schwerer Schatten lauerte zwischen diesen blonden, kaum angedeuteten Brauen. Um Gottes willen, wenn der Arzt nur käme, wenn er doch schon hier wäre! Ebel atmete zitternd.
»Glaubst du, daß es schlimm ist?« In der offenen Tür des Nebenzimmers erschien Elisabeth, sie hatte noch das schwarzseidene Kleid an und trug noch die halb entblätterten Rosen an der Brust; das Haar hing ihr, feucht von Schweiß und verwirrt, um das abgespannte Gesicht. Sie trat näher. »Du glaubst doch nicht, daß es schlimm ist? Antworte mir doch!« Eine unklare Angst lag in den letzten, hastig herausgestoßenen Worten. »Ist es schlimm?«
»Das wolle Gott verhüten!« Man hörte es ihm an, er bezwang sich, er wollte nicht die ganze qualvolle, zitternde Todesangst zeigen, die ihn verzehrte. »Das Bettchen ist zwar nicht hoch, aber er ist empfindlich auf den Kopf gestürzt.« Er stockte.
»Mile sagt, er hätte nur einmal aufgeschrien, sie war gleich aufgewacht und war sofort bei ihm.« Elisabeth sah ihren Mann unruhig an. »Was machst du für ein Gesicht? Mein Gott, Wilhelm, Wilhelmchen!« Sie schrie auf und stürzte an das Bettchen.
»Still, störe ihn nicht!«
»Er schläft!«
»Nein, er ist bewußtlos.«
»Bewußtlos?« Sie sah ihren Mann an, als spräche er irr. »Bewußtlos? Mein Gott, wo war ich denn? Ich – die Mutter?!« Sie hob beide Hände an die Schläfen und hielt sich dann die Ohren zu. »Mein Kind … in all dem Lachen, all dem Zischen … Wilhelmchen!« Aufschreiend sank sie neben dem Bettchen auf die Knie.
Die alte Mile kam herein, sie hielt sich kaum auf den schlotternden Füßen. »Ach, Herr Ebel,« jammerte sie, »es wird doch nich schlimm sein? Ich bin immer so todmüde, der Junge war so wild, er wollte nicht schlafen, ich wollte ihn einsingen, da konnte ich gar nicht mehr, die Augen fielen mir zu, nur einen Augenblick, da hörte ich ihn auch schon schreien. Er hat gewiß übers Gitter klettern wollen!«
»Hätten Sie nur gleich zum Arzt geschickt!« Ebel runzelte finster die Stirn.
Die Alte weinte. »I ja, hätt' ich man nur gekonnt! Aber die Berta lief weg, kaum waren die Herrschaften aus dem Haus. Das is 'ne Wirtschaft! Ich konnte das Kind doch nicht allein lassen.«
»Der Doktor muß gleich kommen.« Ebel ging mit unruhigen Schritten im Zimmer auf und ab. Er legte seiner noch immer knienden Frau die Hand auf die Schulter. »Steh auf, Elisabeth!«
»Sieh nur, sieh!« Sie hob zitternd die Finger. Die Brust des Knaben schien sich wie in einem inneren Kampf zu heben … jetzt stieg der Kampf in die Kehle … ein kurzes Würgen … dann drang es über die Lippen.
»Erbrechen!« Ebel wurde totenblaß.
»Ja, das hatte er schon mal!« Mile sprang hilfreich bei.
»Um Gottes willen!«
Elisabeth wollte aufschreien, sie sah das angstverzerrte Gesicht ihres Mannes – da – – es klingelte.
Der Arzt! – – –
»Gehirnerschütterung«, sagte Doktor Schmidt nach der Untersuchung; er hatte viel Armenpraxis und machte keine Umstände. »Das heißt,« setzte er hinzu, als tödlich erschrockene Gesichter ihn anstarrten und er den verzehrenden Blick der Mutter sah, »eine leichte Gehirnerschütterung. Wollen das Beste hoffen. Morgen früh komme ich wieder. Immer Eis. Es muß natürlich gewacht werden.«
Wer hätte an Schlaf denken können! Und doch, Elisabeth schlief; auf dem Stuhl am Bett des Kindes waren ihr die Augen zugefallen. Es war gegen Morgen; eine bleierne Beleuchtung ohne Sonne kroch durchs Fenster, die die Schatten schwärzer erscheinen ließ, die Falten eingegrabener. Ihre blassen Lippen waren zusammengekniffen, die Mundwinkel schmerzlich heruntergezogen, unter den Augen zeichneten sich tiefblaue Ränder. Und da – Ebel beugte sich näher hin – an den Schläfen, in dem schimmernden Blond, zeigten sich da nicht die ersten grauen Fäden?
Es war sehr still im Zimmer. Es schauderte und fror ihn, seine Hände waren kalt vom steten Erneuern der Umschläge. Kleine Stückchen Eis schob er dem Kinde in das halb geöffnete Mündchen, aber es schluckte nicht, das Wasser lief ihm an beiden Mundwinkeln wieder heraus. Noch immer lag es bewußtlos. Auch das Stöhnen hatte aufgehört. Daß der Kleine noch lebte, zeigte der schwache, unruhige Atem. Der Vater hielt den seinen an, immer wieder beugte er sich forschend über das Bettchen. Da lag die Kindergestalt, so klein, so leicht, und doch ein volles Glück. Oh, nur nicht sterben! Des einsamen Mannes Hände krampften sich zusammen. Wenn es stürbe, Gott, Gott! Scheu richteten sich seine Augen auf die Schlafende – wie würde sie's ertragen?!
»Elisabeth!« Sie hörte nicht; es wurde ihm plötzlich so angst, der Knabe sah sehr verändert aus.
»Zischen …«, sie schlug im Schlaf mit den Händen abwehrend um sich, »sie zischen … ha!« Plötzlich fuhr sie auf. »Ich habe wohl geschlafen?« Sie sah ihren Mann sich über das Bettchen beugen. »Wie geht's ihm?«
»Pst!« Er wandte ihr sein von Schmerz ganz entstelltes Gesicht zu. »Ich höre seinen Atem nicht … ich fürchte … es geht ihm nicht gut.«
Sie rieb sich die Augen und stammelte: »Sie lachten … komm fort, fort …! Ich kann's nicht ertragen!« Jetzt schrak sie zusammen, jetzt war sie ganz wach. »Was sagst du? Nicht gut? Wilhelmchen!«
Sie sah das marmorweiße, marmorkalte Gesichtchen; ein plötzliches Entsetzen packte sie. »Er stirbt!« Sie bäumte sich hoch auf und stieß die Faust gegen die Brust. »Ich habe ihn vernachlässigt, ich habe es gewußt, das mußte so kommen, hundertmal es schrecklich gesehen und doch nicht geändert. Oh, ich!« Sie griff sich in die Haare. »Was habe ich denn getan? Wo war ich?« Sie brach plötzlich zusammen, ihre Stirn fiel schwer auf die Bettkante. »Gott, Gott, höre mich!« Verzweifelt hob sie die Hände. »Laß mein Kind nicht sterben, laß unser Kind nicht sterben, strafe mich! Laß das Kind leben! Gott, du mußt! Hör' mich, laß es leben! Tu ein Wunder, du mußt! Wilhelmchen!« Wie schützend warf sie beide Arme über das Bett. »Mein kleiner Wilhelm, hier ist deine Mutter!« Ihr verzweifeltes Rufen wurde zärtlich flüsternd, sie sprach selbst halb lallend wie ein Kind: »Mam, Mam, sag's noch einmal: Mam, Mam! Wilhelmchen! So hör' mich doch, ich hab' dich ja so lieb … so unsäglich lieb … jetzt hab' ich Zeit … nichts mehr von der Kunst! Sag': Mam, Mam! Wilhelmchen, Mam, Mam!« Sie drückte einen Kuß auf das Gesicht des Kindes. »Hier bin ich … sag' …« Sie stockte plötzlich.
»Mam … Mam …«
Das war ein Laut, zart, kaum hörbar. Wo kam er her? Die Lippen des Kindes hatten sich bewegt, die Lider zuckten, aber sie hoben sich nicht.
»Er spricht!« rief sie halb lachend, halb weinend. »Er hat mich gehört! Mein Kind, mein Kind, ich schwöre es dir, ich rühre keine Feder mehr an, ich schwöre …«
Ebel legte ihr fest die Hand auf den Mund. »Schwöre nicht, Elisabeth, du darfst nicht schwören!« Er hob sie auf. »Komm, steh auf, laß jetzt das Kind.« Er betrachtete es forschend. »Es schläft.«
Der Atem ging ruhiger und gleichmäßiger, ein Hauch von Rot schien auf den Bäckchen zu schimmern.
»Gott sei Dank!« Ebel atmete tief auf.
Schluchzend fiel ihm Elisabeth in die Arme. »Kannst du mir verzeihen, Wilhelm?«
»Ich habe dir nichts zu verzeihen!«
»Doch, doch! Ich habe dich gequält, mich, dich! Ich war so verzagt, ohne Mut, ganz klein, ach, ich … ich muß mich anklagen.«
»Laß gut sein, Elisabeth!« Er wischte ihr die Tränen ab. »Ich habe es dir ja gesagt: Ich glaube an dich!« –
*
Es kamen bange Tage. Die Wohnung war still wie ein Grab; man huschte auf den Zehen durch die verdunkelten Zimmer. Von der blendenden Julisonne draußen durfte kein Strahl hereindringen; bei jedem Wagen, der vorüberfuhr, zuckten die Eltern zusammen. Die Klingel war abgestellt. Wer brauchte denn auch herein? Nur der Arzt. Die ganze Welt war nicht mehr da, sie war ins Nichts versunken; mit ausschließlicher Inbrunst umfingen die Gedanken einzig dies dunkle Zimmer mit dem weißen Bettchen und in dem Bettchen die kleine, still daliegende Gestalt.
Das Kind schlief unausgesetzt. Die Bewußtlosigkeit schien in Schlummer übergegangen. War es der Schlummer, der zum Leben gesunden läßt, oder der ins stille Reich des Todes führt?
Elisabeth wich nicht vom Bett des Kindes, ihre ganze Willenskraft schien wieder erwacht; sie überwand die Müdigkeit und gönnte sich keinen Schlaf. Sie hatte alles verloren – es war ihr gleichgültig –, nur dieses Kind, dieses einzige Kind besaß sie. An die schwache kleine Gestalt klammerte sie sich wie an einen Rettungsanker. Nichts sehen, nichts hören, nur auf diesen Atem horchen, mit spähenden Augen jede Bewegung überwachen!
Den ersten Tag war Ebel zu Hause geblieben, den zweiten mußte er wieder in sein Bureau; er ging mit schwerem Herzen. Als er wiederkam, abgehetzt, in Schweiß gebadet, saß Elisabeth noch auf demselben Fleck, sie schien sich kaum gerührt zu haben. Hastig trat er näher – das Kind schlief.
»Es schläft. Ich bin jetzt hier, Elisabeth, schlafe du nun auch!« Mit sanfter Gewalt wollte er sie emporziehen.
Sie schüttelte den Kopf. »Laß mich, ich bin nicht müde. Es ist mir eine Wohltat, hier zu sitzen, eine Beruhigung; hierher traut sich kein anderer Gedanke, ich bin ganz bei meinem Kind.«
Sie hatte recht. Der rastlose Ausdruck ihrer Augen war verschwunden, viel anderes lag in ihrem Blick, aber nicht mehr diese spähende Gier, diese qualvolle Ungeduld.
Doktor Schmidt war zufrieden mit dem Befinden des Kindes. »Es scheint hier glücklicher vorüberzugehen als in hundert anderen Fällen.« Der Knabe wachte jetzt für Viertelstunden, sogar für halbe Stunden; er erkannte die Eltern, und seine blauen Augen sahen matt, aber verständig drein.
Elisabeth hatte sich ihr Bett neben das des Kindes stellen lassen; nun gönnte sie es sich wenigstens, die Glieder auszustrecken. Ob sie schlief? Wenn Ebel hereinkam – wie oft stand er doch die Nacht auf und schlich ins Krankenzimmer –, immer fand er sie halb aufgerichtet in den Kissen sitzend, die überwachten Augen auf das Bettchen geheftet.
Es kamen Leute, um sich zu erkundigen. Am ersten Morgen war Frau Kistemacher erschienen, um sich bei Elisabeth zu entschuldigen, daß sie nun doch nicht den Lorbeerkranz geschickt hatte. »Der Gang wird mir blutsauer,« hatte sie zu ihrem Manne gesagt, »aber ich muß doch hingehen, sie könnte uns sonst für herzlos halten.« Sie war entsetzt, als das erschrockene Mädchen ihr von dem Unfall des Kindes berichtete. Nein, so ein Pech! Sie wollte sich durchaus nicht abweisen lassen.
Nun kam sie bereits zum fünftenmal in drei Tagen. »Ich kann sie nicht sehen«, wehrte Elisabeth ab. »Ich bin dem noch nicht gewachsen.«
Ebel fand Frau Kistemacher an Elisabeths Schreibtisch; ihre neugierigen Blicke stöberten darauf herum. Da lag noch der Theaterzettel. »Sie müssen meine Frau entschuldigen,« sagte er, »sie ist nicht imstande, Besuch anzunehmen.«
»Besuch? Das glaube ich wohl, aber ich bin doch kein Besuch. Und das Kind? Ich möchte gern das Kind sehen!«
»Ich kann niemand hineinführen, der Arzt hat es verboten.«
»Ich gehe ja auf den Zehen – das arme Kind! Wie kann so was nur passieren? Aus dem Bettchen gestürzt, auf den Kopf gefallen – wie schrecklich! Es war wohl niemand bei ihm? Das arme, arme Kind!« Sie wollte ins Kinderzimmer.
Ebel versperrte ihr den Weg. »Der Doktor hat streng jeden Besuch verboten. Ich lasse niemand hinein!« Das letzte klang sehr energisch.
»Nun, das hätte ihm nichts geschadet, ich verstehe schon mit Kindern umzugehen«, entgegnete sie spitz. Eigentlich war sie beleidigt, aber sie ging doch nicht, sondern setzte sich aufs Sofa. »Wie trägt sie es denn?« fragte sie vertraulich.
»Gott sei Dank, es geht dem Kind ja besser; wenn wir auch noch keineswegs außer Sorge sind, sie atmet doch auf, sie …«
»Ach, das meine ich ja gar nicht«, unterbrach ihn Frau Kistemacher. »Ich meine das mit dem Stück. Sie haben die Kritiken wohl nicht gelesen? Wir haben sie alle gesammelt. Ich habe mich zuschanden geärgert.«
»Elisabeth hat noch nicht danach gefragt; wir haben jetzt keinen Sinn dafür.«
»Das glaube ich«, sagte sie rasch. »Ich habe ja immer bedauert, daß Elisabeth mehr Interesse für die Schreiberei hatte als für das reizende Kind. Eine Schriftstellerin, überhaupt eine Künstlerin sollte sich eigentlich nicht verheiraten.«
»So? Meinen Sie?« Er sah sie so seltsam an, daß sie verlegen wurde. »Es ist schwer, die vielen Pflichten, welche die Ehe mit sich bringt, treulich zu erfüllen, doppelt schwer für eine solche Frau. Aber ihr ist ja auch mehr gegeben als anderen. Elisabeth wird es lernen, beides zu vereinigen.« Er sagte es sehr ruhig.
War der blind eingenommen von seiner Frau! Frau Julie fühlte einen kleinen Ärger; so sehr eingenommen war ja nicht einmal ihr Mann. »Manche Frauen haben eben sehr nachsichtige Männer«, sagte sie. »Mein Mann wäre nicht einverstanden, wenn ich Stücke schreiben wollte.«
»Ich bin stolz darauf!«
Frau Kistemacher war sprachlos: das, das sagte er nach dem Durchfall?!
Ebel stand auf. »Verzeihen Sie, ich muß jetzt ins Krankenzimmer zurück. Ich möchte meine Frau nicht länger allein lassen.«
»Grüßen Sie sie tausendmal, die liebe Elisabeth. Und sie soll sich nur nicht so sehr aufregen. Oh, das arme, arme Kind! Morgen komme ich wieder.«
Elisabeth fragte nicht, was Frau Kistemacher gesagt hatte. Während ihr Mann im Zimmer drüben mit jener sprach, hatte sie wie verschüchtert dagesessen und sich die Ohren zugehalten. Drang die laute Stimme nicht bis hierher? Sie sprach gewiß vom Theater. Oh, nichts hören! Und dann – sagte sie nicht: »Das arme Kind!«? Elisabeth zuckte zusammen; sie kannte den Ton ganz genau: »Du armes Jungchen du!« Sie sah wieder Frau Kistemacher auf dem Flur stehen und dem lachenden, strampelnden Kind zuwinken: »Du armes Jungchen!« Dieser halb mitleidige, halb vorwurfsvolle Ton traf wie ein Stich ins Herz. Sie hielt sich die Ohren fester zu, es überlief sie heiß. So saß sie, bis Ebel zurückkehrte.
Wenn nur niemand mehr kam! Ein nervöser Schreck durchzuckte sie, sowie sich draußen etwas rührte. Der Schritt des Milchmädchens, der des Boten, der Eis brachte, entsetzte sie. Nichts mehr sehen von der Welt, nichts mehr hören! Sie war ihrer so herzlich überdrüssig, überdrüssig des täglichen Hastens, des verzweifelten Ringens, der rastlosen Arbeit. Schlafen, schlafen – tot sein für die da draußen und vergessen. Elisabeth Reinharz – wer kannte den Namen noch? Verklungen wie eine altmodische Melodie; einst hatte man die schön gefunden, jetzt sang sie niemand mehr. Für alle begraben sein! Nur noch ganz heimlich leben in diesem stillen Zimmer, an diesem kleinen Bett; die Hände lässig im Schoß falten und fühlen, wie ein Gedanke nach dem anderen schwindet. Gar nichts mehr denken!
»Willst du Fräulein Ritter auch nicht sehen?« fragte Ebel. »Sie ist eben gekommen und steht draußen vor der Tür und will gar nicht hereinkommen; sie wollte sich nur einmal selbst erkundigen.«
»Marie Ritter …?« Elisabeth richtete sich lebhafter auf. Die Vergessene! Ja, die wollte sie doch sehen!
Sie ging ihr entgegen und fiel ihr um den Hals. So hatte sie die nie umarmt; es war eine leidenschaftliche Inbrunst, eine schmerzliche Freude in dieser Umarmung.
Die beiden Frauengestalten traten, sich umschlungen haltend, an das Bettchen des Kindes.
Marie Ritter beugte sich mit einer hingebenden Bewegung tief über die Kissen. »Er schläft!« Lächelnd richtete sie sich wieder auf. »Meine liebe Frau Ebel,« sie küßte Elisabeth, »danken Sie Gott! Sehen Sie,« sie streckte den Finger aus, »es hat Rot auf den Bäckchen, die Lippen sind frisch, wie ruhig der Atem geht. So schläft kein krankes Kind.« Warm drückte sie der anderen die Hand.
Elisabeth fühlte den warmen Druck und sah Tränen der Freude in Marie Ritters Augen schimmern. Eine plötzliche Erregung überkam sie. »Mein einziges Glück«, murmelte sie.
Marie Ritter nickte. »Ja, ein Kind ist ein Glück, es ist Hilfe; ich habe es auch nicht geglaubt, nun weiß ich's.« Sie faltete die Hände. »So ein Kindergesicht – gibt es etwas Trostreicheres? Sehen Sie, es lächelt im Schlaf!«
Als ginge von Marie Ritters Gestalt eine geheimnisvolle Kraft aus, so hatte das Kind seinen Ausdruck verändert; es hielt die Lippen lächelnd halb geöffnet, nun spitzte es das Mündchen wie zum Kuß.
»Es träumt«, flüsterte Marie Ritter.
»Mein Kind!« Elisabeths Augen füllten sich jäh mit Tränen.
»Es ist Ihnen neu geschenkt.« Die Ritter nickte lächelnd dem Kinde zu. »Schlaf dich gesund, mein Bübchen!« Dann wandte sie sich zu Elisabeth: »Was gibt uns alles andere? Sehr viel Leid. Ich will nicht sagen, daß Kinder kein Leid bringen können, aber die Leiden sind heiliger, und die Freuden sind tausendmal größer als alle anderen. Was sind Anerkennung, Erfolg, Ruhm, Name – Glück habe ich nur in meinem Kinde gefunden.«
Es lag nichts von wehmütiger Resignation auf Marie Ritters Gesicht; Elisabeth ergriff ihre Hand und klammerte sich daran. Von dieser stillen Gestalt ging eine beruhigende Kraft aus.
»Ich komme wieder, wenn Sie's gern haben«, sagte die Freundin.
»Ja, ja!« Elisabeth fiel ihr um den Hals. Oh, wie vertraut war ihr jetzt diese! Gestrebt, Erfolg errungen, auf den Wellen des Beifalls gewiegt, gekämpft, untergegangen, vergessen – da hatte sie ihr eigenes Geschick umarmt, da ging es hin. Das war sie, sie selber!
Sie beugte sich über das Treppengeländer und rief der Hinunterschreitenden nach: »Kommen Sie wieder!« Und dann, wie von plötzlicher Angst erfaßt: »Verlassen Sie mich nicht!«
Die Ritter winkte noch einmal lächelnd zurück. –
Der vierte Tag war vergangen; er hatte keine besondere Veränderung gebracht. »Ich denke, in ein paar Tagen sind wir über den Berg«, hatte Doktor Schmidt gesagt.
Und doch konnte Elisabeth noch nicht froh werden; alle Hoffnung ward in ihr niedergehalten unter einem eisernen Druck. Kein Schmerz, keine Unruhe mehr, aber auch keine Freude. Sie war müde zum Tode, ganz abgestumpft. Heider war täglich dagewesen, heute hatte er ihr einen ganzen Pack Zeitungen zurückgelassen; auch Maier hatte geschrieben. Elisabeth hatte keinen Blick dafür; als sie dem Arzt zu einem Rezept Papier und Tinte von ihrem Schreibtisch holte, schob sie alles, was da lag, nachlässig beiseite. Das hatte alles kein Interesse mehr für sie.
Der Morgen des fünften Tages graute. Noch war kein Lärm auf der Straße, das Leben noch nicht erwacht, auch die Hitze noch nicht. Ebel hatte in der Nacht das Fenster halb geöffnet, nun spielte hinter der grünen Jalousie der Morgenwind, ein Lüftchen drang ins dämmernde Zimmer und strich mit seinem Hauch über die Betten. Elisabeth fühlte das Wehen, es tat ihr so wohl; sie hatte unruhig geschlafen, immer wieder, wenn sie aufschreckte, sah sie nach dem kleinen Bettchen. Das Kind schlief wie in gesunden Tagen, das blonde Köpfchen seitlings auf den kleinen dicken Arm gelegt, durch die rosigen Nasenflügel den Atem kräftig einziehend und ausstoßend. Trotzdem fand sie nicht die rechte Ruhe; zum erstenmal kamen wieder Gedanken, die die ganze Zeit ferngeblieben, als wären sie nie dagewesen. Jetzt hatten sie wieder ein Recht, hier zu sein; erst stahlen sie sich scheu heran, nun hatten sie sich festgesetzt, hartnäckig und unabweisbar.
Zum erstenmal dachte Elisabeth wieder an ihr Stück; es war doch auch ihr Kind, ihr verlorenes dazu. Sie dachte mit einer gewissen Zärtlichkeit daran, ohne Erregung, ohne Schmerz, mit einem Gemisch von Liebe und Resignation.
Hatte sie geträumt oder war es Wirklichkeit gewesen? Hatte heute nacht eine Hand auf ihrer Stirn gelegen, sanft und kühl darüber hingestrichen, hatte eine Stimme geflüstert: »Ich glaube an dich!«? Sie hob sich aus den Kissen und sah sich groß um. Das Zimmer war leer, nebenan hörte sie die tiefen Atemzüge ihres Mannes. Sie streckte sich wieder lang und schob die Decke vom Halse – mochte das Morgenlüftchen darüber hinwehen –, ach, wie köstlich, es nahm ihr den eisernen Reifen weg, der ihre Brust eingepreßt hatte, sie konnte freier atmen. Die Hände unters Genick gelegt, blinzelte sie mit halb geschlossenen Lidern auf das Streifchen Licht, das durch die Latten der Jalousie drang. Bald war Sonnenschein draußen, volle, goldene Sonne – so dämmert Hoffnung auf, erst spaltbreit, nur ein Streifchen, dann immer mehr – dann groß und voll, dann alles überflutend. Ob man noch einmal hoffen kann nach so viel Enttäuschung?! Nein. Keine Hoffnung mehr. Die Zeit war vorbei.
Aber nun wußte sie's – mit einem plötzlichen Ruck setzte sie sich kerzengerade –, »ich glaube an dich«, das hatte sie nicht geträumt, das hatte ihr einer gesagt, und tief innen wiederholte es eine Stimme immerfort, immerfort. Mit einem Seufzer der Erleichterung dehnte sie sich.
Ebel schlief fest; nun hatte die Übermüdung ihr Recht geltend gemacht. So hatte er seit dem Unfall des Kindes nicht mehr geschlafen, auch Nächte vorher nicht; da hatte er das rastlose Umherwerfen seiner Frau gehört und, schlief sie endlich, auf ihren Atem gelauscht.
Der erste Schimmer des Morgenlichts glitt über ihn hin, ein vorwitziger Sonnenstrahl tänzelte über sein Gesicht; er zog die Stirn kraus, aber er wachte nicht auf. Draußen ratterte ein Milchwagen, rasselnd hielt er vorm Haus still. Der Kutscher knallte mit der Peitsche; Ebel hörte es nicht.
Doch jetzt ein leiser Schritt, ein Schleichen auf bloßen Füßen – das hörte er. Seine Frau! Da stand sie vorm Bett, ohne Schuhe, im langen, weißen Nachthemd, das blonde Haar verwirrt ums Gesicht hängend. Sie war eben aus dem Bett geschlüpft.
»Du,« sagte sie, »Wilhelm, es ist Morgen! Es ist Zeit, du mußt aufstehen. Und weißt du,« sie setzte sich auf den Bettrand und sah ihn groß an, »wenn sie auch lachten und zischten, mein Stück ist doch gut.«
Er sah sie erstaunt an und fragte dann freudig bewegt: »Wie kommst du jetzt darauf? Gewiß ist es gut.«
»Ich habe darüber nachgedacht,« sagte sie, »zum erstenmal. Ganz aus der Welt wollen sich die Gedanken doch nicht schaffen lassen.« In ihren matten Augen blitzte ein flüchtiger Strahl auf, und sie lächelte wehmütig.
»Dann werden wir auch heute die Kritiken ansehen«, sagte er rasch. »Ja, willst du?«
»Zeige sie mir!«
Nebenan regte sich das Kind; augenblicklich huschte sie fort. »Komm, komm!« hörte Ebel sie kurz darauf rufen, ihre Stimme klang hell. »Wilhelmchen ist aufgewacht, er sitzt im Bettchen. Und er sagt, er hat Hunger.«