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Über der Heide liegt die Sonne. Tausende von rotlila blühenden, kaum fußhohen Stauden bedecken den Boden; das ist ein Bienengesumm, ein Gesurr, ein Schmetterlingsgaukeln und Libellengeschwirr. Fliegen, wie blitzende blaue Punkte, schießen durch die Luft; grüngoldene Käfer laufen eilig, kleine rote, schwarzgepunktete klettern an Halmen in die Höhe – dort, unter dem niedrigen Wacholderbusch raschelt eine Eidechse, und oben zwischen den immergrünen Zweigen weben die Spinnen silberschimmernde Fäden.
Die Luft ist still, heiß und doch nicht drückend. Ein starker Duft steigt vom Kraut auf, und weiterhin, wo die Heide zu Ende geht, schimmert es goldgelb; das sind Lupinen, sie duften berauschend, süßer als Jasmin. Der sommerlich leise Windhauch nimmt den Geruch auf und trägt ihn wohl eine Stunde weit in die Runde, dort zum Dorf, dort zum See, dort zu den Kiefern, die der Riesenwald als Boten ins Feld schickt.
Da liegt der See, in einer leicht gesenkten, großen Mulde, wie blauer Stahl schimmert er, von fern gesehen; in der Nähe ist er blau, kornblumenblau, zwischen seinen grünen Rändern das tief gefärbte Bild des Sommerhimmels wiedergebend.
Der Menschen sind wenige; nur der Fischer liegt im angebundenen Nachen, die Wellen rühren sich nicht, er summt vergnügt und raucht seine Pfeife.
Von jenem Feld, das schon gemäht ist, fährt eben ein Ochsengespann das letzte, hochgepackte Fuder ins Dorf; der Bauer sitzt obenauf, Knecht und Magd, Rechen und Heugabeln schulternd, wandern nebenher. Vom Tritt der groben Männerschuhe fliegt der Staub auf, das Mädchen läuft barfuß, seine Röcke schwenken, sein helles Kopftuch schimmert weithin.
Jetzt hört man nichts mehr vom Knarren des Wagens, hinter jener Erdwelle ist er verschwunden; auch der Fischer summt nicht mehr, die Pfeife ist ihm aus dem Munde gefallen – er schläft.
Stille. Da blaut der Wald ernst und dunkel, weit in der Runde schließt er dies Stück Erde ein. Da grünen die Raine, von Mohn und Winden und Glockenblumen und Kamillen bunt besprengt. Da wehen weiße Fäden über dichte Stoppeln. Da sucht das Rebhuhn mit seinen Jungen Schatten im blühenden Kleefeld, und da duckt sich der Hase zwischen fetten Kohlköpfen und läßt sich's wohl sein.
Friedvolles Land, soweit das Auge sieht. Besänftigende Ruhe sinkt nieder vom wolkenlosen Blau, himmlischer Tau, der die Kreatur erlabt. Feucht kommt der Hauch vom See und kühlt die lechzenden Lippen, aus jeder Ackerfurche steigt der Duft der Gesundheit und der stärkenden Arbeit.
Kein Laut, und doch hoch über den Feldern ein Konzert unsichtbarer Sänger, ein frohes Lied aus tausend Kehlen. Man hört es kaum, man fühlt es mehr, das Jauchzen, das aufwärts steigt im Sonnenstrahl; es tönt von jedem Blütenblatt, von jeder Ähre, von jedem Grashalm, jeder Nadel des Waldes, von jedem Tropfen des Wassers, jedem Staub des Weges, von jeder Erdkrume.
Die Brust dehnt sich, der matte Blick belebt sich. –
Die Eisenbahn fährt nicht bis hierher. Als Ebel und Elisabeth an der Endstation die Bahn verließen, machte er seiner Frau den Vorschlag, ihren alten Freund, Doktor Mannhardt, im Städtchen gleich aufzusuchen. »Wie wird der sich freuen!« sagte er.
»Meinst du?« Sie sprach ganz teilnahmlos. »Er wird mich kaum wiedererkennen.«
Als er sie noch immer fragend ansah, drehte sie den Kopf weg. »Damals war ich anders,« hörte er sie murmeln, »damals so mit vollen Segeln ins Leben hinaus, und jetzt – – ich möchte ihn jetzt nicht wiedersehen.«
Im Dorf war die Aufregung groß, als sie angefahren kamen; es war schon Feierabend.
Da waren die Alten, die schon alt gewesen waren, als Elisabeth noch ein Kind war; und da waren die Jungen, mit denen sie jung gewesen, die Buben und Mädchen, jetzt Väter und Mütter, ihre Jüngsten auf dem Arm, die größeren hingen sich hinten an den Wagen. Da waren viel lachende Gesichter, viel ausgestreckte Hände: »'n Abend, Fräulein Elisabeth, 'n Abend!«
Ebel bekam auch freundliche Grüße. In einer seltsamen Bewegung fuhr er durchs Dorf: hier war seine Elisabeth aufgewachsen. Er sah sie im Geist über das holprige Pflaster hüpfen und über die Pfützen im ausgefahrenen Fahrweg – wo der Schmutz am dicksten war, mußte sie durch, die wilde Hummel –, ihre Wangen waren rot wie Äpfel, die blonden Zöpfe flogen um die kräftige Kindergestalt. Da hatte sie mit den Dorfmädchen im Ringelreihen gespielt, da sich mit den Jungen geprügelt. Und da war die alte Dorfkirche. Wie ein Wahrzeichen hob sich ihr kupfergeplatteter, bauchiger Turm weit über die Ebene. Dort unter den Nußbäumen hatte ihr Pfarrer gewohnt, der alte, gelehrte Herr, da ging sie hin zum Unterricht, das Haar glatt gescheitelt; im Sommer im sauber gewaschenen Kattunkleidchen, im Winter in dem Mäntelchen, aus des Onkels altem Pelz geschneidert. Und drinnen vorm Altar kniete sie dann im ersten langen Kleid – er kannte das Bild, er trug es immer in der Brusttasche –, das liebe Gesicht fromm gesenkt und doch schon allerhand dämmernde Gedanken hinter der faltenlosen Stirn.
Ebel faßte ihre Hand und drückte sie zärtlich. »Alles wie früher, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich suche meine Jugend«, sagte sie leise.
Der Kutscher hatte die Pferde angehalten, eine Frau war an den Wagen getreten. Im schwarzwollenen Trauerkleid, mit der breiten, schwarzen Schürze, stand sie als dunkler Fleck in der freundlichen Dorfstraße. Alles Licht schien ihre Gestalt zu fliehen. »Kennen Sie mich noch, Fräulein Elisabeth?«
Elisabeth sah sie verlegen an: wer war das doch? Sie konnte sich in diesen vergrämten Zügen nicht zurechtfinden.
»Ich bin die Marie … Bauer Obst seine Marie!«
»Marie …? Du …?!«
»Ja, das glaub' ich wohl, daß Sie mich nicht erkannt haben!« Die Frau beherrschte sich mühsam, aber sie konnte es doch nicht hindern, ein paar Tränen tropften ihr über die Wangen. »Ich habe mich gar zu sehr verändert. Vor 'nem Jahr is mein Mann gestorben. Sie wissen doch, wie lang' ich den Lindners Martin liebgehabt habe, wir sollten doch absolut nicht zusammenkommen.« Sie weinte laut. »Nun hab' ich ihn endlich gekriegt, vor zwei Jahren auf Michaeli haben wir Hochzeit gemacht, so'n guter Mann … nun hat er sich im Frühjahr erkält', im Juli is er gestorben … mein Gott, mein Gott! Und mein Kleines hinterdrein. Ich hab' nichts mehr auf der Welt!« Sie hielt sich die Trauerschürze vors Gesicht.
Mile fing auch an zu weinen. Voll tiefen Mitleids blickte Ebel auf die Trauernde und dann auf seine Frau. Er sah, sie rang nach Worten.
Elisabeth nahm die Hand der Jugendgespielin! »Marie,« sagte sie stockend, »liebe Marie!« Weiter nichts, ihre zitternden Lippen schlossen sich fest aufeinander, und sie unterdrückte die Tränen.
»O mein Gott, was macht man durch! Ich habe mir hundertmal den Tod gewünscht.« Die Frau wischte sich mit der Schürze die Tränen ab. »Ich hab' vom Förster gehört, daß Sie verheirat' sind, Fräulein Elisabeth, das ist wohl der Herr Gemahl?« Sie warf einen Blick auf Ebel.
Er reichte ihr die Hand.
Die Frau knickste. »Schenken Sie mir die Ehre – da wohn' ich!« Sie wies auf ein stattliches Bauernhaus mit Scheune und Obstgarten dahinter, mit steinerner Freitreppe und einer grün gestrichenen Bank vor der Tür. »Da sitz' ich abends immer, wenn ich müde bin, und denk' an meinen Martin. Das is 'ne Plackerei, wenn einer mit fremden Leuten schaffen muß; das ist nichts Eigenes, und wenn sie auch noch so recht sind. Ach, wenn ich meinen Martin noch hätt', da ständ' ich anders da!«
Sie sah den Knaben auf Miles Schoß und heftete ihre tränengefüllten Augen verlangend auf ihn. »Du mein Herrgott, das liebe Kind!« Ehe sich's jemand versah, hatte sie den kleinen Wilhelm aus dem Wagen gehoben und preßte ihn an sich. »Dich möcht' ich haben, du müßtest bei mir bleiben, wie im Himmel wär' ich! O du Engelchen!« Sie küßte das Kind, daß es aufschrie. »Fräulein Elisabeth, sind Sie glücklich!« Ungern, fast widerwillig gab sie das Kind zurück, man sah es ihr an, sie konnte es kaum aus den Armen lassen. »'nen guten Mann«, sie nickte Ebel zu, »und so 'nen Jungen! Meiner wär' nu …« Sie brach ab, Schluchzen erstickte ihre Stimme.
Elisabeth war blaß geworden, so blaß, daß Ebel erschrak und den Arm hinter sie schob. Sie streifte ihn mit einem raschen, dankbaren Blick, und dann neigte sie sich über den Wagenschlag dicht zu der Jugendgespielin; ihr blonder Kopf schien fast deren schwarzes Kleid zu berühren, ihre Wange streifte die Schulter der Trauernden. Sie flüsterte ihr ins Ohr: »Könnte ich dir helfen, ach, wie gern tät' ich's, liebe Marie! Ich schicke dir alle Tage meinen Jungen, ich …«, sie stockte, sie hatte den lebhaften Drang, zu helfen, »weiter kann ich ja nichts für dich tun!«
»Danke!« Das vergrämte Gesicht der Frau hellte sich auf. »Sie waren immer gut. Ach, wenn das Kind kommt – Birnen hab' ich schon, schöne reife, und Honig auch, und ein frisches Ei wird ihm auch nicht schaden. Ach, was freu' ich mich!« Sie reichte noch einmal die Hand in den Wagen. »Wenn das mein Martin wüßt', der hat Sie ja auch gut gekannt, Fräulein Elisabeth! Und der Herr Gemahl, so'n lieber Herr!« Sie schüttelte Ebel kräftig die Hand. »Und die alte Mile …«
»Na,« sagte der Kutscher und drehte sich halb auf dem Sitz um, »Lindnern, die Pferde stehn nich länger. Hüh! Brrrr!«
Die Frau trat zurück: »Viel Glück in der Heimat!«
»Das ist die reichste Bäuerin hier 'rum«, sagte der Kutscher und wies mit dem Peitschenstiel über die Schulter. »Schwer reich. Aber was hat se dervon? Nu hat se nich Mann un nich Kind, und wenn sie 'n Sack Geld in den Arm nimmt, das is doch nichts Lebiges. He, Ida, alte Kasserolle,« er hieb auf das Handpferd, »willste wohl! Ja, ja, alles in der Welt macht nich glücklich, nur de Liebe!« Kutscher Heinze war ein Philosoph; er räusperte sich, zog die Augenbrauen hoch, nahm die Pfeife aus dem Mund und spuckte erst nach rechts und dann nach links. »Wonach strebt der Mensch? Ja, sehn Se, Herr, er will gern glücklich sein. Nu? Er is nich glücklich, wenn er keine Liebe hat. Das steht ja auch schon in der Bibel geschrieben. Was mei'm Sohn seine Älteste is, die Cilla, die hat erscht gestern gelernt …«, er wußte nicht recht, was, und half sich mit einem: »nu, dann wär' eben alles nix. Die Cilla sagt es sehr scheene uff – – ›de Liebe is das Größte‹, sagt se.«
»Arme Frau!« Elisabeth blickte mit gesenktem Kopf in ihren Schoß; nun wiederholte sie noch einmal leise: »Arme Frau!«
»Ja, ja,« meinte Mile, »da habt Ihr wohl recht, Heinze!« Sie philosophierte auch gern, in Berlin fand sie nur nicht das Publikum dafür. »Ach Gott, was is der Mensch! Da is man versessen auf was, und 's is einem doch nich zum Guten. Als der alte Lindner tot war, haben sie sich gleich geheirat', der hat's immer nich zugegeben, dem war die Obsts Marie nich reich genug. Nu hat sie gemeint, sie hat das Glück zu Hauf, und was hat sie?« Sie stieß einen Seufzer aus. »Ja, ja, 'runterreißen läßt sich's nich vom Himmel. Guck, Wilhelmchen,« sie ließ das Kind auf ihrem Schoß stehen, »da hat deine Mama gewohnt, da is sie 'runtergesprungen, da von der Mauer is sie 'runtergefallen mank die Scherbeln. Ach, mein Gott!« Mile stieß einen hellen Schrei aus. »Da liegt noch die alte, zerbrochene Eisenkette, die hat immer da gelegen, da hat sich deine Mama ein Loch in den Kopf dran geschlagen! Mein Gott, mein Gott!«
Da war das Gutshaus mitten im großen Garten; sie fuhren an der Mauer entlang, die es gegen die Landstraße zu umgab. Zwischen riesigen Baumwipfeln hindurch leuchtete das rote Ziegeldach, so behaglich und doch so wetterfest schaute es durch das Grün. Hähne krähten, ein Hund bellte.
Elisabeth war aufgesprungen, sie stand im Wagen und reckte den Hals; jetzt stieg sie auf den Sitz, mit einer Hand stützte sie sich auf ihres Mannes Schulter. Ebel hieß den Kutscher langsamer fahren.
»Ich sehe was, ich sehe was! Da ist der Kiesweg in der Mitte, die Zentifolienhecke blüht wieder. Wie hoch die geworden ist! Und da sind die Lilien; sind's dieselben, die ich gepflanzt habe? Und da die Johannisbeersträucher, und da der Pflaumenbaum – er hängt ganz voll!« Elisabeth streckte beide Hände aus. »Ach, und da ist die Eismiete, da spielten wir immer Verstecken, und da …«, ihre Stimme bebte, »da ist der alte Nußbaum, darunter – da hab' ich gesessen, als ich zum erstenmal was schrieb! Ach!« – Ihre Gestalt schwankte, die Pferde hatten angezogen, sie wäre gefallen, wenn ihr Mann sie nicht gehalten hätte.
Nun war es nur noch eine kurze Strecke, die kleine Erhebung die Straße hinauf. Der Atem des Waldes schlug ihnen entgegen, voll harzigen Duftes. Es fingen die knorrigen Riesenstämme an, vom letzten Abendstrahl mit rotem Gold begossen … es hoben sich die breiten Wipfel nadelscharf vom reinen Äther … es kräuselte sich der Rauch der Försterei, und Frau Jung stand in der Tür, ihr altes, freundliches, wohlbekanntes Gesicht lachte über und über.
»Herzlich willkommen, Fräulein Elisabeth!« sagte sie, wie sie es hundertmal gesagt hatte, wenn das junge Mädchen angelaufen kam. »Das ist schön von Ihnen, daß Sie uns nicht vergessen haben. Nehmen Sie fürlieb bei uns! – Mann!« schrie sie – er war ziemlich taub und hatte das Rollen des Wagens nicht gehört –, »sie sind da! Die Elisabeth ist da!« –
Ebel konnte in der ersten Nacht nicht schlafen; es war heiß in der kleinen Stube, sie hatten das Fenster offen gelassen, nun zog der Harzduft des Waldes herein mit jedem Windhauch. Man hörte den klagenden Schrei eines Brachhuhns und das Bitberit des Wachtelkönigs und traumhaften Unkenruf in der Ferne. Ein wunderbarer Strom floß durch das niedrige Fenster, ein Strom von unverbrauchter Kraft, von Tau, von himmlischer Reinheit, von stiller Sicherheit. Über die heißen Augen strich es mit kühlen Fingern. Und draußen war ein immerwährendes Rauschen, ein heimliches Flüstern; hier sang die Nacht ein Wiegenlied, so süß, so leise, wie keine Mutter es singen kann. »Schläfst du?« flüsterte er.
»Nein«, gab sie ebenso leise zurück.
Die Förstersleute hatten ihnen ihr Ehebett eingeräumt; da lagen sie nun auf dem Lager, wo sonst die alten Menschen Seite an Seite schliefen – junge Menschen, und doch weit voneinander getrennt. Ebel hatte sich ganz an den Rand gelegt; sie lag am anderen. Er lauschte: würde sie noch etwas sagen? Nein, sie sagte nichts, aber daß sie auch jetzt noch nicht schlief, wußte er, er hörte es an ihrem Atem.
»Elisabeth,« flüsterte er wieder nach einer Weile. »Schlafe; warum schläfst du denn nicht?«
»Ich denke so viel. Ohne Liebe! Arme Frau! – – – Hörst du, was der Wald spricht?«
»Soll ich das Fenster schließen?«
»O nein!« Sie setzte sich im Bett auf. »Das tut mir gut. Schlafe du nur!« Sie sagte nichts mehr. Auch er schwieg.
Draußen immer das Rauschen … immer das Rauschen … immer dasselbe Lied. Seine Gedanken fingen an, sich zu verwirren, er konnte nicht mehr widerstehen – – – da – – er schreckte auf, hatte sie das Bett verlassen? Er reckte den Arm, so daß er sie hätte berühren müssen – leer!
»Elisabeth!«
Keine Antwort. Er richtete sich auf. Da lehnte sie im Fenster, weit hinausgebeugt, und hatte ihn nicht gehört.
Er sprang aus dem Bett. »Elisabeth«, flüsterte er, hinter sie tretend und sanft ihren Arm berührend. »Komm, leg' dich nieder!«
Langsam wandte sie sich nach ihm um, er sah, daß sie geweint hatte.
»Komm, du erkältest dich!«
»Ich habe zugehört. Ich bin warm geworden dabei, ganz warm. Horch!« Sie legte den Finger auf den Mund. Draußen ward das Rauschen voller, immer stärker und stärker das Lied; die Kiefernwipfel neigten sich säuselnd, lauter schien die Wachtel zu locken – so viele Stimmen in der Nacht, in dem Wind, in dem Raum zwischen Himmel und Erde.
»Ich höre sie alle«, sagte sie träumerisch. »Ich verstehe sie alle. Ich danke dir,« flüsterte sie weich, »du hast mich hierhergebracht!« – – –
Das war die erste Nacht, und andere Nächte folgten, in denen sie sanft schliefen, ermüdet von der Luft, die ihnen durch alle Poren drang bis in die Seele. Die Erregung ließ nach, eine sanfte Abspannung folgte.
Das Kind gedieh prächtig, seine Bäckchen waren rot und seine kleinen Beine braun gebrannt; pfeilgeschwind rannte es jauchzend durch den Wald, Mile konnte, lachend und scheltend zugleich, nicht rasch genug nachkommen. Und der alte Jung ließ ihn auf der Kuh reiten, und bei der Lindnern im großen Obstgarten las er Birnen auf, sein ganzes Schürzchen voll. Die Witwe war närrisch mit ihm; jeden Morgen stand sie schon, die Hand über die Augen gelegt, und sah die Dorfstraße hinunter nach ihm aus. Zuweilen blieb er den ganzen Tag bei ihr, das war dann ein Fest für beide. Gegen Abend ging Elisabeth und holte ihn, dann fand sie die Jugendgespielin auf der grün gestrichenen Bank vor der Tür, den Knaben auf dem Schoß; und wenn sie wieder ging, ihr Kind an der Hand, stand die Einsame noch lange und blickte ihnen nach.
Das war ein Bild, das Elisabeth nicht vergaß; es prägte sich ihr unauslöschlich ein. Immer sah sie die schwarze Gestalt vor der Tür des verödeten Hauses – nichts Teures mehr drinnen. Kein Liebeswort, kein Kindergeschrei … bezahlte Knechte trappsen über den Hof und jagen die Mägde hinter die Scheuer … da ist kein Herr, der nach dem Rechten sieht, Mietlinge führen den Segen des Feldes heim. Das ist eine Arbeit ohne Freude. Und die Witwe starrt sehnsüchtigen Auges in die untergehende Sonne, die rund und rot hinter dem Wiesengrund versinkt; ihr Trauerkleid flattert im Abendwind, scharf umrissen hebt sich die schwarze Gestalt ab von der weißen Mauer des Gehöftes. Arme Frau!
Und so waren viele, die Elisabeth beschäftigten. Langsam, ganz allmählich kam ihr der Wunsch, in die Hütten des Dorfes hineinzublicken. Da waren Kinder ohne Mutter … da war der Mann ein wüster Gesell, der seine Frau prügelte und sein kleines Vierjähriges nach Schnaps schickte … da ein uraltes Pärchen, das, einander stützend, unter dem Birnbaum am Schweinekoben wackelte … da Pioszeks Lisa, die Leichtsinnige, die auf jeden Tanzboden sprang … da die knochige Gestalt des jungen Geistlichen und da seine hübsche Frau, die er aus lauter Frömmigkeit fürchtete, zu sehr zu lieben. Da war der schöne Müllerssohn auf seinem Wägelchen, der die Mädchen nasführte … da der ausgemergelte Handelsjude, der Lumpen und Hasenfellchen eintauschte gegen Nadeln und Zwirn … da der Stadtmetzger, der das Vieh aufkaufte. Da war der geizige Ende-Lange, der sein Geld im Keller vergraben hatte, und da die arme Magd, die ihm nur um Kleidung und Essen diente, froh, daß man ihren blöden Jungen mit auf dem Hofe duldete.
Ebel zeigte seiner Frau den Knaben, wie er des Ende-Langes Schweine hütete. Selbst schmutzig wie ein Schwein, ohne Schuh und Strümpfe, ohne Hemd, nur mit einer zerrissenen Hose bekleidet, lag er am Grabenrand, darin das Rüsselvieh wühlte, und rührte mit den Beinen den Schlamm um. Ebel hatte ihm einmal ein Butterbrot geschenkt, nun lief das verhungerte Kind hinter ihm drein wie ein Hund; seine kleine, magere Hand war immer ausgestreckt.
Aber da waren auch freundlichere Bilder: glückliche Ehen, glückliche Kinder, sonnige Stuben, fleißige Burschen, sittsame Mädchen. Eine Fülle von Gestalten drängte sich durch die Dorfgasse, Mitleid heischend, Freude erregend, Lachen fordernd, Tränen entlockend – sie verlangten gebieterisch ihr Recht, man vergaß sich selbst unter ihnen.
Und im Garten des Gutshauses kamen die Erinnerungen dazu, lugten hinter jedem Busch vor, liefen hallend durch die öden Gänge des Gebäudes und klopften an die verschlossenen Stuben.
Elisabeth machte nicht oft von der Erlaubnis Gebrauch, hier hineinzugehen, selten holte sie sich beim Verwalter den Schlüssel; es wurde ihr so seltsam bange an der verlassenen Heimatstätte, da war sie nun doch nicht mehr zu Hause.
Das erstemal hatte sie lange allein unterm Nußbaum gesessen, sie hatte das so gewollt. Aber dann jagte sie auf einmal fort, nahm sich kaum Zeit, die Pforte zu schließen, jagte an der Mauer entlang, den Hügel hinauf – da kam ihr Mann ihr entgegen, von weitem schon winkte er ihr. Sie lief ihm atemlos in die Arme.