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7.

»An was denken Sie?« fragte Jakob Heider, als sie heute die Treppe des Großgörschen-Bahnhofs hinaufstiegen. »Ich?« Elisabeth fuhr aus tiefem Sinnen auf und sah in seine Augen. »Verzeihen Sie, ich weiß oft nicht, wo ich bin.« Sie strich sich über die Stirn. »Ich bin manchmal ganz verwirrt. Der eine spricht so, der andere so. Ich lebe in zwei Welten, in der einen wird gepriesen, was in der andern verachtet wird, und umgekehrt. Ich kann mich nicht zurechtfinden.«

Sie blieb nachdenklich.

Auf dem Perron kam ihnen Marie Ritter entgegen, ihr kleines Mädchen an der Hand führend; es riß sich los und stürzte mit ausgebreiteten Armen auf Elisabeth zu. Erdmann und Sörensen waren auch da, und – Elisabeths Gesicht wurde purpurrot – war das nicht der … der … jener, der sie in der Gewitternacht nach Hause geleitet hatte? Ein Nebel schob sich ihr vor die Augen; sie sah nicht recht. Sie hörte wieder den Regen klatschen und den Wind sausen und hatte wieder das Gefühl des Verlassenseins. Allein in der Dunkelheit, hinausgetrieben auf die öde Straße.

Verwirrt beugte sie sich über das Kind und streichelte die blonden Löckchen.

»Mein Freund Ebel,« sagte Heider fröhlich, »er ist mit von der Partie!«

Sie wartete einen Augenblick – was würde er sagen?

Er verbeugte sich stumm, gab aber kein Zeichen des Erkennens.

Sie sah ihn rasch und etwas scheu an – ja, so sah er aus, sie hatte seine Züge ganz gut behalten. Ein flüchtiges, schelmisches Lächeln vertiefte das Grübchen in ihrem Kinn. Sie reichte ihm die Hand.

Nun saßen sie im Abteil dritter Klasse nach Schlachtensee. Heidi jubelte und sprang im Wagen hin und her; heute wurde ihr vierter Geburtstag gefeiert. Es schien Elisabeth, als wäre Marie Ritters Gesicht nicht so blaß wie sonst, sie hatte ein immerwährendes Lächeln um die Lippen, voll von einer großen Zärtlichkeit.

Man lachte und scherzte, man war sehr guter Laune; selbst Erdmann sah wohler aus als sonst, und Heider war ausgelassen froh wie ein Junge, der in die Ferien reist. »Schlachtensee, kennen Sie Schlachtensee, Elisabeth? Famos! Zwar der See nicht größer als ein Spucknapf, aber was für einer!« Seine Augen lachten, er schüttelte sich vor Vergnügen. »Ich möchte mal eine Kritik schreiben: ›Die Poesie im Spucknapf‹, hahaha!«

Er schlug sich auf die Knie. »Möchte das Gesicht von Eisenlohr sehen, wenn ich seine nächste Vermöbelung so überschreibe. Es kann in einem Spucknapf mehr Poesie stecken als in einem ganzen dickleibigen Goldschnittroman, in dem alle Himmelsgegenden, Sonne, Mond und Sterne, ein ganzer Riesenapparat, bemüht werden.«

»Heider!« Marie Ritter legte ihm die Hand auf den Mund. »Nicht so ausfällig!«

Ebel hatte Heidi auf dem Knie sitzen, schaukelte sie hin und her und plauderte halblaut mit ihr. Elisabeth fing einige Worte auf, sie konnte nicht umhin, zu lauschen. Wie liebenswürdig er auf die kindlichen Ideen einging! Seine Stimme hatte etwas von dem Klang, mit dem er zu ihr in jener Nacht gesprochen: »Halten Sie sich an mir fest, treten Sie hierher und dorthin!«

Ob er sie nicht mehr kannte?

Sie saß ihm gegenüber und studierte ihn förmlich; erschrocken fuhr sie zusammen, als der Zug in Schlachtensee hielt.

Jetzt reichte er ihr die Hand, mit einem Satz sprang sie von oben herunter auf den Bahnsteig. Seine Hand stützte sie fest. –

Sie saßen an einem der grün gestrichenen Tische unten am Wasser. Sörensen packte eine Tasche aus, er war Proviantmeister. Marie Ritter hatte einen Geburtstagskuchen gebacken und verteilte große Stücke.

Heidi wanderte von einem zum andern, man reichte sie sich wie eine Nippfigur; jetzt saß sie müde auf dem Schoß der Mutter. Und Elisabeth sah, wie die einsame Frau die Arme um ihr Kind schlang.

Eine seltsame Erregung durchzitterte ihr Herz – würde sie so stark sein können wie jene? Würde sie die Kraft haben, so ruhig dahinzugehen, nicht rechts noch links zu sehen? Ausgestoßen aus den Kreisen, in die sie naturgemäß gehörte, verleumdet, vergessen, literarisch totgemacht. Marie Ritter war sich wohl selbst ganz klar darüber, und doch war sie nicht bitter. Elisabeth fühlte es wie Eiseshauch um ihr Gesicht wehen, es schauderte sie: oh, sie wußte, das könnte sie nicht ertragen. Sie biß die Zähne aufeinander in einer peinvollen, jähen Schmerzempfindung.

Einen Aufschwung nehmen, himmelan gehen – und dann auf einmal ins Dunkel niederstürzen, nichts mehr sein, gar nichts …?

Angstvoll fühlte sie ihr Herz klopfen. Sie hätte die Gedanken verscheuchen mögen, die da kamen, immer wieder kamen. Wie hilfesuchend blickte sie sich um – ihr Blick traf den Wilhelm Ebels, er saß ihr gegenüber und sah ihr gerade ins Gesicht.

Eine eigentümliche Empfindung durchschoß sie, über die sie sich selbst nicht klar war.

Eine frühe abendliche Kühle wehte vom See. Die Luft war mild und rein. Leise rührten sich die Erlen. Weiter hinauf am Ufer standen die Kiefern anscheinend regungslos, die schlanken, rötlich beschienenen Stämme kerzengerade reckend; aber hoch oben, wohin der Blick kaum trifft, neigen sich die Wipfel und beugen sich. Der Wind läßt seine Finger durch die immergrünen Kronen gleiten, er berührt jede Nadel. Windgesäusel, Äolsharfenmusik.

Auf dem See regte sich nichts, keine Welle, kein Boot. Vögel mit ausgebreiteten Flügeln schienen auf der glatten Fläche zu ruhen. Kein Sonnenglanz mehr; Abendwolken warfen Rot und Gold in den silbernen Spiegel, er gab das feurige Bild des Himmels in milderer Schönheit wieder. Kein Feiertagslärm. Eine herbstliche Reinheit, eine verklärte Ruhe der Natur.

»Wie eine schöne Frau,« sagte Heider, »die an die Liebe denkt, die nun vorbei ist. Sie lächelt in der Erinnerung, ein wenig Sehnsucht ist auch noch dabei.«

»Oh, der große Friede,« Elisabeth holte tief Atem, »wie wohl der tut!«

Alle waren aufgestanden, und sie ging mit Ebel hinter den anderen drein; er hatte sich an ihre Seite gefunden und drückte sich dicht am Buschwerk entlang, um sie auf dem schmalen Sandweg nicht zu streifen.

»Sie kannten mich doch noch?« fragte sie und lächelte. Diese Frage hatte ihr den ganzen Nachmittag auf der Seele gebrannt.

Wie Sonnenschein flog es über sein Gesicht: »O gewiß, gnädiges Fräulein, aber ich wußte nicht, ob es Ihnen angenehm war, sich meiner zu erinnern. Sie waren betroffen, als Sie mich sahen.«

»Das haben Sie bemerkt?« fragte sie verwundert und sah ihn an. Was er für hübsche Augen hatte! Augen mit einem festen, ruhigen Blick.

»Ich kann mich ganz gut in Ihre Stimmung hineinversetzen. Es war Ihnen gewiß peinlich, gnädiges Fräulein, durch meine Person wieder jene unangenehme Situation zurückgerufen zu sehen. Es war eine böse Nacht.«

»Oh, noch viel böser als Sie denken.« Helle Röte schlug ihr ins Gesicht, noch einmal fühlte sie all den Zorn und die Scham. Die Worte sprudelten ihr von den Lippen, ohne daß sie es wollte; es tat ihr wohl, ihrer Erregung Luft zu machen. Und war sie ihm, sich selbst nicht eine Erklärung schuldig? Sie erzählte ihm ihr Abenteuer mit Eisenlohr – alles; jetzt, da sie es zum erstenmal laut gesprochen von der eigenen Stimme hörte, kam es ihr noch viel empörender vor. Die Tränen schossen ihr in die Augen, mit zitternder Stimme schloß sie: »Und daß man sich das so ruhig gefallen lassen muß! Ich hatte so viel Vertrauen. Jetzt ist es weg!«

»Es war eine bittere Enttäuschung«, sagte er ernst. »Aber der Künstler muß wohl durch Enttäuschungen gehen.«

Sie drehte rasch den Kopf nach ihm. »Woher wissen Sie das?«

»Ich denke es mir«, sagte er einfach.

»Sie sind doch selbst nicht Künstler?«

»O nein. Nur ein simpler Kaufmann. Ich bin Buchhalter an der Deutschen Bank; einer von vielen. Nicht einmal studieren konnte ich; ich wollte es gern, aber unsere Verhältnisse erlaubten es nicht. Mein Vater ist früh gestorben; meine Mutter hat mich notdürftig durchgebracht. Jetzt ist sie auch tot.« Seine Stimme war leise geworden. Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er frisch: »Aber ich habe immer eine große Bewunderung für die Kunst gehabt. Und dann habe ich so lange mit Heider verkehrt, wir waren Stubennachbarn, ehe er mit Erdmann zusammen herauszog. Ich verdanke ihm viel Anregung. Ich kann freilich nur nachempfinden.«

»Und ist das nicht auch etwas?« sagte sie herzlich. »Wenn doch alle Menschen nachempfinden könnten, dann müßte es herrlich sein, zu schreiben. Es ist traurig,« ihr Gesicht wurde erregt, sie zog die Brauen schmerzlich zusammen, »früher hab' ich's nicht geahnt, jetzt weiß ich's, daß es wenig Verständnis gibt!« Blitzschnell dachte sie an Frau Kistemacher und Leonore. »Man ist doch sehr allein.«

»Das glaube ich wohl.« Er sah sie offen an, ein ganzes, volles Mitempfinden lag in seinem Blick. »Wer etwas anstrebt, das ihn abseits der großen Heerstraße treibt, der …« Er stockte und brach ab, Heider kam gelaufen.

»Nun, ihr habt euch ja so abgesondert, was ist denn los?« rief er und sah scharf in Elisabeths Gesicht. »Nehmt mich doch auch mit!«

Sein Blick glitt zwischen beiden hin und her. Er drängte sich an des Mädchens Seite; auf dem engen Pfad hatten drei nebeneinander nicht Platz, Ebel mußte ein paar Schritte hinterhergehen.

»Warum sind Sie so verstimmt, Elisabeth?« fragte Heider unruhig.

»Wieso?« Ihre Stimme klang verlegen. »Gar nicht!«

»Doch, doch, Sie müssen es mir sagen!«

Sein Drängen war ihr peinlich. Schade, daß ihr Gespräch mit Ebel unterbrochen worden war, ein leises Bedauern regte sich in ihr. Merkwürdig, wie gut der fremde Mann sie verstand!

Unwillkürlich drehte sie den Kopf nach ihm – ob er auch Heiders Vordrängen nicht übelgenommen hatte? Sie nickte ihm zu. »Wir haben uns sehr gut unterhalten, nicht wahr, Herr Ebel?«

Sein ernster Blick erhellte sich, ein leichtes Rot stieg ihm in die gebräunten Wangen bis hinauf in die Stirn. Man sah ihm die Freude über ihre Worte an; er verbeugte sich dankend. Ihre Augen begegneten sich rasch und blieben für Sekunden ineinander haften.

In des Mädchens Blick lag ein stilles, sicheres Vertrauen, in dem seinen eine verehrungsvolle Bewunderung. Elisabeth fühlte ihr Herz klopfen in einem Gefühl der Freude – ja, er verehrte sie! Sie freute sich darüber.

Heider war von einer mehr als gewöhnlichen Lebhaftigkeit, er schlug vor, den anderen nachzujagen, die sich querfeldein zwischen die Kiefernstämme verloren hatten. Er riß die beiden mit sich fort, bald waren sie getrennt.

Es war dämmrig. Zwischen den Stämmen sah Elisabeth Ebels hellen Anzug schimmern; seine Gestalt, die nicht größer war als die Erdmanns, überragte diesen doch. Er hielt sich sehr gerade. Jetzt sah sie, wie er Fräulein Ritter das Kind abnahm und es trug; es jauchzte von seinem Arm herunter. Er sprang und lief, immer lauter klang Heidis Jubel.

»Ihr Freund ist wohl sehr gut?« sagte sie aus ihren Gedanken heraus zu Heider, der nicht von ihrer Seite gewichen war.

»Wer? Ebel?« Er warf einen raschen Blick auf sie. »Und ob! Ein riesig netter Kerl. Pumpt uns jederzeit. Nur schade um ihn, ein bißchen Philister. Gefällt er Ihnen?«

Sie schien seine Frage nicht gehört zu haben.

»Nun?« Er lachte gezwungen. »Können Sie sich denken, daß ein Mädchen sich in den verliebt?«

Sie schwieg.

Und dann nach mehreren Minuten kam es langsam von ihren Lippen, jedes Wort war schwerfällig betont: »Ich weiß es nicht. – Wir wollen zu den anderen gehen«, sagte sie plötzlich. Eine Angst kam über sie.

Heider faßte ihre Hand. »Lassen Sie doch die anderen!« Er behielt ihre Hand in der seinen, und sie ließ sie ihm zerstreut, sie fühlte gar nicht seinen Druck.

Ihre Gedanken irrten umher, wie aufgescheuchte Nachtvögel sich ängstlich verflatternd. Wie eine Vision tauchte Marie Ritter hinter den schwarzen Schatten der Bäume auf – nun Ebels Gestalt – das Kind lachte – nun war alles weg! Eine Unruhe sondergleichen war in ihre Glieder gegossen, sie empfand fast einen körperlichen Schmerz, ihre heißen Finger zuckten.

Hinter den Erlenbüschen schwebte der Mond auf, jetzt stand er überm See. Eine sehnsüchtige Stimmung strömte nieder mit seinem milden Licht.

Elisabeth blieb stehen. Dann, Schritt für Schritt wie magnetisch angezogen, näherte sie sich dem Ufer. Heider wollte sprechen, sie schüttelte ablehnend den Kopf und sah wie geistesabwesend stumm in die Ferne.

Da lag der See, gleich einer Perlmuttermuschel, mattglänzend, von unbestimmter blaugraugrüner, silbriger, goldener Farbe. Ein wunderbarer, tauiger Duft stieg vom Grasrand auf und mischte sich mit dem Harzgeruch der Kiefern. Er streichelte lind ums Gesicht. Kein Fußtritt mehr, kein Atemzug. Spinnwebzarte Nebel schwebten aus dem Röhricht, mit Gedankenschnelle sich verdichtend, sich vergrößernd, aufsteigend wie weiße Wolken und, vom Mondlicht berührt, in nichts zerfließend.

Oh, sich auflösen wie jene, dahinschweben auf den Zauberstrahlen des Mondes – ganz vergehen! Sie atmete, als sollte ihr die Brust springen. Es wuchs, es schwoll in ihr. Jetzt war es zu groß, zu schwer für eine Seele, dies Übermaß von Gefühl, dies unbestimmte Sehnen, dieser Ansturm von Gedanken, dies gewaltige Drängen: hinauf, hinauf! Unbeschreibbar schön und doch angstvoll schrecklich dieses einsame Schweben über der Welt – immer höher – immer einsamer. – –

Ihr schauderte, und sie legte die Hände vors Gesicht.

»Wollen wir auf dem See fahren?« fragte Heider leise.

Wie im Traum folgte sie ihm zum Landungssteg. Er half ihr in den Nachen, dann legte er sich in die Ruder; von seinen kräftigen Stößen getrieben, flog das leichte Fahrzeug hinaus auf die glatte Fläche. Wie lange Finger griffen die Mondstrahlen; sie übergossen das Mädchen auf der schmalen Bank in der Mitte des Kahnes mit Zauberglanz.

Elisabeth saß regungslos, das verträumte Gesicht hob sie zum Himmel auf; das Mondlicht hatte das Rot ihrer Wangen weggenommen, sie erschienen blaß, schmaler, von einem sehnsüchtigen Hauch angeweht. Ihre Augen waren weit geöffnet; übergroß, mit suchendem Blick starrten sie in den nächtlichen Himmel. Ihre halbgeöffneten Lippen sogen in durstigen, tiefen Atemzügen die feuchte Nachtluft ein.

Sie sprachen kein Wort. Heider sah sie unverwandt an. Er ruderte hastig aus der breiten Lichtstraße heraus, die der Mond auf dem Wasser zittrig zog.

Jetzt waren sie auf der anderen Seite. Nun nahm Heider die Ruder ein und kauerte sich zu Elisabeths Füßen nieder. Um sie breitete sich das lautlose Wasser dunkler, die Ufer waren nicht zu erkennen, es floß ins Unendliche. Der Kahn stieß ins Röhricht – es raschelte, ein Frosch quakte – dann war alles wieder still. Sie glitten hinein ins Schilf, immer tiefer hinein; dicht wie eine Wand hob es sich zur Rechten und Linken, mannshoch wuchs es über ihren Häuptern, mit zartem Gesäusel schloß es sie ganz ein. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Eine Welt gab es nur noch in der Erinnerung, tiefes, wohliges Vergessen lullte alles ein.

Gedankenlos streckte Elisabeth den Arm aus; wieder und immer wieder ließ sie eine feuchte Schilfrispe durch die Finger gleiten. Da wurde ihre Hand gefaßt.

Heiders Gesicht sah sie nicht; sie hörte nur seine Stimme, leise, ganz leise, in eindringlichem Flüsterton: »Elisabeth, was ist Ihnen? Fehlt Ihnen etwas?«

Sie neigte den Kopf.

Tränen kamen ihr in die Augen und tropften rasch nieder.

Er fühlte die warmen Tropfen auf seiner Hand und zuckte zusammen, sein Flüstern wurde erregter: »Wer hat Ihnen was getan, Elisabeth? Sagen Sie, sagen Sie es mir doch!« Er preßte ihre Hand.

»Ich weiß es nicht,« sagte sie tonlos, »niemand.« Ihr Blick verlor sich in das rätselhafte Schweigen rundum.

»Ich weiß nicht, was mir ist.« Sie ließ den Kopf niedersinken.

»Elisabeth!« Jetzt hob er sich auf die Knie, lehnte sich vornüber und suchte ihr Gesicht zu erforschen. »Sind Sie mir ein bißchen gut?«

Seinen Arm um ihren Nacken legend, beugte er ihren Kopf mit sanfter Gewalt herunter: »Von Herzen gut, wie ich Ihnen?«

Seine Stimme glich einer sanften Liebkosung, sein Atem kam warm, zitternd aus der Brust, sie fühlte den erregten Druck seiner Hand, ihre Gesichter waren sich nahe, ganz nahe – sie schloß die Augen, eine lähmende Schwäche überkam sie. Kein Weg, kein Steg, kein Ruf. Einsame Dunkelheit rundum, die sie wie mit weichen Armen umfing.

»Liebes, liebes Mädchen!« Seine Augen glänzten vor den ihren. Immer näher, näher kam sein Gesicht – seine Lippen streiften ihre Wange – da, war es nicht auf einmal hell, blendend hell? Das Schilf teilte sich – – Marie Ritters einsame Gestalt schwebte vorüber. Langsam glitt ein Stern vom Himmel und versank in der Flut.

Elisabeth zuckte zusammen, ein Abgrund hatte sich ihr gezeigt, ein jäher Absturz. Die Ahnung einer großen Gefahr durchschauerte sie. Sie fühlte den Nachttau kalt, die Haut durchfröstelnd. Sie schob Heider von sich und sprang auf, daß das Boot schwankte. »Fahren Sie zurück!« sagte sie kurz. Und dann mit erzwungener Heiterkeit: »Sie sind ja mein Freund – natürlich bin ich Ihnen gut, sehr gut!«

Er sprach kein Wort, sondern faßte die Ruder, das Schilf rauschte und gab den Kahn widerwillig frei. Jetzt – Elisabeth atmete auf – jetzt waren sie auf dem See, mitten in der hellen Mondbahn.

»Ha, wie frei!« Sie strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. »Nun?« Lächelnd sah sie in sein finsteres Gesicht.

Er sagte nichts, sie schien auch keine Antwort zu erwarten. Suchend blickte sie zum Himmel auf. Plötzlich streckte sie mit einem leichten Freudenschrei beide Hände aus. »Da, da, der Stern! Sehen Sie ihn, Heider? Nun habe ich ihn gefunden. Den sehe ich alle Abend von meinem Fenster; solange ich ihn da sehe, das weiß ich, solange kann ich nicht untergehen. Es ist mein Aberglaube.« Sie lächelte wie von einem Druck befreit.

Er lächelte auch, aber er sah sie dabei nicht an. Sein lustiges, knabenhaft frisches Gesicht hatte einen fremden Zug.

»Sehen Sie, sehen Sie den Stern?« Lebhaft faßte sie seinen Arm.

Er nickte. Langsam senkte er die Ruder ins Wasser, sacht schwebte das Boot in der vollen Mondflut dahin. Er sah hinauf zum sternenflimmernden Firmament, seine Lippen bewegten sich. Sie lauschte; er sprach nicht.

Doch jetzt – er vergaß, die Ruderschaufeln ins Wasser zu senken, Mondlicht und Tropfen träufelten vom Holz nieder wie silberne Perlen – sprach er, in einem melodischen Rhythmus, wehmütig und doch hoffnungsfreudig:

»Ach, unsere leuchtenden Tage
Glänzen wie ewige Sterne.
Als Trost für künftige Klage
Glühn sie aus goldener Ferne.
Nicht weinen, weil sie vorüber!
Lächeln, weil sie gewesen!
Und werden die Tage auch trüber,
Unsere Sterne erlösen …«


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