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Ganz Berlin W befand sich in der Premiere. Man stand im Anfang der Saison, das Theaterinteresse war noch rege. Im Tiergarten trugen viele Bäume noch ihre Blätter, an den Straßen hatte der Herbstwind die von Sonne und Staub vertrockneten schon längst heruntergeschüttelt. Die Mittage brachten noch warmen Sonnenschein, aber die Morgen und Abende waren schon kühl.
Im Theater war geheizt; Treppen, Gänge, Garderoben, Zuschauerraum, alles durchweht von der gleichen laulichen Atmosphäre, die sich dem Eintretenden an Leib und Seele schmiegt wie ein weiches Seidenhemd. Man dehnt die Glieder bequem und wird faul dabei; man mag gar nicht mehr denken.
Es wimmelt von eleganten Damen, es duftet nach Parfüm und Puder. Raschelnde Seidenröcke auf den Treppen; vor den Spiegeln Gestalten, die sich äugelnd hin und her biegen und mit wohl gepflegten Händen an der Frisur zupfen.
Junge Herren, alte Herren, Gutsbesitzer aus der Provinz – man sieht's ihnen gleich an –, Neulinge hier, und da Theaterhabitués, die nie eine Premiere auslassen. Ein buntes Durcheinander. Und Wagen auf Wagen fährt vor, immer neue Erscheinungen tauchen auf.
Man fängt nicht pünktlich an, aus Rücksicht auf das Publikum. Im Foyer ist das Gewoge undurchdringlich und Gesurr, Gesumm. Im Parkett klappen unaufhörlich die Sitze, ganze Reihen erheben sich, um einen Spätkommenden durchpassieren zu lassen. In den Logen sind noch viele leere Fauteuils, da kommt man zuallerletzt; da nimmt man erst Platz im Moment, wenn der Vorhang aufgeht, man sitzt dann wie hingeweht, und das Publikum hat den überraschenden Anblick. Neueste Erfindungen der Mode – weiß, schwarz, alle Farben des Regenbogens, große Hüte, kleine Hüte, Spitzen, Pelz, Federn, Blumen, echte Steine. Man richtet das Opernglas, sieht hinauf und hinunter, neigt das Haupt, die Damen bewegen die Fächer, die Herren die behandschuhte Rechte. Das ist ein Sicherkennen, ein Sichgrüßen; man hat sich den langen Sommer nicht gesehen und ist vergnügt, sich hier auf dem Schlachtfeld zu treffen. Und auf der Bühne rollt sich ein Menschengeschick ab, schlecht und recht. –
Das Interesse war ungemein lebhaft. Alle Zeitungen hatten unermüdlich Notizen gebracht.
Drei Jahre hatte das Stück auf seine Aufführung warten müssen; zehnmal war es schon angenommen gewesen, wie die Autorin, Fräulein Wlodzimira Starzynska, erzählte, und immer wieder hatte sich die Aufführung zerschlagen. »Es ist zu stark, viel zu stark«, sagte sie. »Die Direktoren haben nicht den Mut gehabt.« Nun hatte sich Direktor Schwertfeger endlich entschlossen; für den Beginn der Saison hatte er ein ganz literarisches Programm entwickelt. Dies war seine erste Tat.
Wlodzimira Starzynska hatte aufregende Wochen hinter sich. Sollte man's glauben – oh, diese Schauspieler! –, keiner wollte spielen! Die Heroine, Fräulein Maschka, hatte dem Direktor eine böse Szene gemacht, sie hatte erklärt, sie würde eine solche Rolle nicht spielen, und sie dem Direktor umgehend zurückgeschickt. Schwertfeger hatte das der wütenden Autorin geklagt und ratlos mit den Achseln gezuckt.
Wlodzimira lief zu Goedecke – wozu hatte man denn seine Verbindungen! Und siehe da, Fräulein Maschka spielte.
Nun aber der erste Liebhaber! Dieser Mensch entblödete sich nicht, vor einer der letzten Proben meldete er sich plötzlich krank. Schwertfeger war in Verzweiflung, nun mußte die Aufführung noch einmal hinausgeschoben werden. Sein ganzes Programm wurde dadurch umgestoßen. Er schickte direkt von der Probe zu Egbert Schoenfließ. Sie bedaure, ließ Frau Schoenfließ sagen, aber ihr Mann könne wirklich nicht wagen, das Haus zu verlassen.
»Ausrede, nichts als Ausrede!« Wlodzimira war empört. »Die Frau läßt ihn nicht spielen, nur weil es mein Stück ist. Sie ist eifersüchtig. Ich werde ihn holen. Wo wohnt er?« Sie rannte hin.
Die kleine Frau Schoenfließ machte selbst die Tür auf und fuhr erschrocken zurück, als die stürmische Dame in Federhut und flatternder Boa hereinschnob.
»Warum kommt Ihr Mann nicht zur Probe? Es ist unerhört! Ich bin die Autorin!«
»Mein Gott, wenn er aber doch nicht kann«, sagte die kleine Frau ganz eingeschüchtert.
»Was fehlt ihm denn?« Es klang wie ein peinliches Verhör.
»Er hat Magenschmerzen«, kam es ganz zaghaft heraus. »Er hat Gurkensalat gegessen … sich erkältet, und …«
»Geben Sie ihm schwarzen Kaffee, Rotwein mit Stärke – ich werde ihm Tropfen besorgen. Er muß spielen! Er muß! Wo ist er?«
Frau Schoenfließ wich zitternd zurück; sie war nervös, die ganze Nachtruhe war ihr heute gestört worden. »Fräulein, er liegt im Bett!« Sie hielt die Hereinstürmende an der Boa fest.
Die Starzynska hörte nicht. »Er muß spielen!« Sie riß sich los, schon war sie im Schlafzimmer.
»Herr Schoenfließ!« Sie stand am Bett, fast wäre sie über die Wärmflasche gestolpert; es roch nach allen möglichen Tees und Medikamenten. »Sie müssen spielen!«
»Es tut mir sehr leid, aber unmöglich – Sie sehen!« Er zeigte stumm auf den ganzen Apparat.
»Die Kunst geht über alles. Sie haben eine heilige Aufgabe!« Sie faßte ihn am Handgelenk und hob pathetisch die Rechte: »Stehen Sie auf!«
»Wie Jaïri Töchterlein: ›Stehe auf und wandle!‹« Ein zynisches Lächeln spielte um seinen Mund, er maß sie vom Kopf bis zu Füßen. »Da Sie nun einmal hier eingedrungen sind, gnädiges Fräulein – Tinchen, meinen Schlafrock, meine Pantoffeln.« Er machte Miene, aufzustehen. »Entschuldigen Sie, ich muß wandeln, aber schleunigst.« –
Ja, Wlodzimira Starzynska hatte Schweres durchzumachen gehabt, in den Busen ihrer Freundin Mia hatte sie schreckliche Dinge ausgeschüttet.
»Du bist eine Heldin!« sagte diese bewundernd.
Heute war Frau Widmann in fieberhafter Erregung; ihre Blicke flogen wie die eines Feldherrn rechts und links durchs Theater. Da war die Schar der Freunde: Bolten, Goedecke, Mannhardt, ihr Ehemann. Jetzt gab Frau Mia das Signal, und sie klatschten wie rasend. Sie erzwangen den ersten Hervorruf. Und nun klatschte das Publikum nach, gut geleitet, angefeuert wie brave Soldaten durch das Beispiel der Offiziere. Und oben vom ersten Rang neigte sich Eisenlohr und klappte lächelnd mit dem Opernglas in die Linke. Das tat noch ein übriges, wie ein Brausen ging es durchs Haus.
In einer originellen Toilette – duftiges Schwarz, mit exotischen Riesenblumen durchwebt, Hals und Arme schimmerten darunter – stand Wlodzimira Starzynska an der Rampe. Sie verneigte sich, ihre Kohlenaugen feuerten ins Parkett, ihre schlanken Hüften schienen von all den Autorsorgen und Mühen noch schlanker geworden.
»Famose Figur!« flüsterten die Herren hinter der vorgehaltenen Hand und blinzelten sich zu. »Bravo! Bravo!«
»Eine schicke Toilette!« lispelten die Damen. Sie benutzten eifrig Opernglas und Lorgnon. »Bravo! Bravo!«
Es war ein Erfolg. Ein berühmter Kritiker hatte zuerst den Urteilsspruch getan, nun war man sich einig: kein absolutes Meisterwerk, aber es war ein verheißungsvoller, Großes versprechender Wechsel auf die Zukunft. Und für eine Frau, noch dazu eine so junge, ganz ungeheuer.
»Bravo! Bravo!« Man klatschte, daß die Handschuhnähte platzten, man rief: »Heraus!«, man jubelte Beifall: »Bravo! Bravo!«
Ganz hinten im Parkett, wo der darübergebaute erste Rang drückt und die Luft heiß und dick macht, hatte sich eine Frau erhoben. Sie war aufgesprungen, hatte sich nach vorn geneigt, beide Hände aufgestützt und den Hals lang gereckt. Sie war schon groß; sie schien sich noch nicht groß genug, nun stellte sie sich auf die Zehen. Nichts entging ihr. Röte stieg auf ihre Wangen.
Jetzt brauste netter Beifall, der Vorhang hob sich noch einmal. Sie zog die Brauen finster zusammen, ihre Lippen zuckten, sie murmelte ein ungeduldiges Wort.
»Elisabeth!« Der Mann neben ihr faßte sie am Kleid und zog sie nieder. Er sah sie von der Seite an mit einem langen, liebevollen Blick; es war auch etwas von Besorgnis darin. Sie bemerkte seinen Blick nicht. Sie reckte den Hals auch im Sitzen, unverwandt starrte sie nach der Bühne.
Jetzt war's zu Ende. Schon rasselte der eiserne Vorhang herunter. Die Freunde stürmten hinter die Bühne, um die Autorin zu beglückwünschen; immer neue Freunde fanden sich dazu. Allen vorauf eilte Frau Widmann; sie feierte heute einen Triumph – hatte sie nicht großherzig und neidlos dies Talent anerkannt und der Freundin treu zur Seite gestanden? Bis auf die Wahl der Toilette hatte sich ihre Freundschaft erstreckt.
Frau Mannhardt ließ sich von ihrem Gatten den kostbaren Abendmantel um die Schultern legen; sie war in Gesellschaftstoilette. Die drei Jahre schienen spurlos an ihr vorübergegangen, sie sah noch ebenso zierlich aus, ebenso pikant mit den klugen Augen und dem feinen Lächeln.
»Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!« rief sie ganz enthusiasmiert.
»Du hast es ja gleich gesagt, Lorle!« Mannhardt sah sich um: waren da nicht ein paar Bekannte? Er stellte den ersten. »Ausgezeichnet, ja, ja – meine Frau hat längst dies große Talent erkannt, sie war gar nicht von dem Erfolg überrascht. Entschuldigen Sie, wir müssen eilen, wir müssen doch wenigstens ein paar Minuten vor unseren Gästen zu Hause sein. Wir erwarten die Autorin. Darf ich bitten, Lorle?« Er reichte ihr den Arm.
Goedecke eilte geschäftig vorbei.
»Kommen Sie nicht zu spät, lieber Goedecke!« Leonore winkte lächelnd mit dem Fächer nach ihm zurück.
»Bin Ihnen sehr obligiert, jnädigste Frau, ich beordere nur soeben den Wagen für unsere jefeierte Autorin. Wir kommen sofort!« Er rief es ihnen mit lauter Stimme nach und rannte dann den Gang hinunter. Vor einer Logentür stieß er auf Bolten, der soeben Alinde Rosen einen Schleier um die rosaseidene Kapuze band. »'n Abend! Auch bei Mannhardts, lieber Bolten?« fragte Goedecke so im Vorüberstreifen.
»Natürlich!« sagte Bolten. »Ich habe die ersten Versuche der Autorin der Öffentlichkeit übergeben, ich werde doch nicht fehlen. Wir«, er zeigte auf Alinde, »waren eben bei ihr hinter der Bühne, haben beide einen«, er wischte sich den Mund und schnalzte mit der Zunge, »Kuß bekommen!«
Goedecke hatte das letzte schon nicht mehr gehört, er drängte sich durch die Menge, lief die Treppe hinunter, tauschte hier einen raschen Händedruck, erteilte dort einen Nicker und rief dort ein »Servus, Servus!« Er rannte fast gegen eine Dame, die von einem großen Herrn geführt wurde; derb trat er ihr auf den Fuß. Zwei brennende Augen sahen ihn einen Augenblick an. Wo tat er doch gleich das Gesicht hin, es war ihm so bekannt – ah! »'n Abend, 'n Abend!« Es war die Reinharz. Donnerwetter, hatte die eingepackt!
Die Wagen waren fortgerollt, die Menge hatte sich verlaufen, hier und da kamen noch ein paar Nachzügler, schwatzend und lachend. Das Theater war geleert, nur Wohlgerüche aller Art schwängerten noch die laue, verbrauchte Luft. Die Garderobieren zogen ihre abgeschabten Mäntelchen an, die Logenschließer steckten noch einmal ihre Nase in den Theaterraum. Kein Hauch zurückgeblieben von all dem Beifall, kein Wort der Ewigkeit aufgespart; alles gegangen mit den schwatzenden, geputzten Menschen, mit den Kritikern, die nach Hause eilten, um, selbst noch im Verdauen, dem Publikum das Gericht zu zerlegen, das man ihm vorgesetzt hatte.
Unter den Nachzüglern waren auch Wilhelm Ebel und seine Frau. Elisabeth hatte gezögert, ganz langsam Schritt vor Schritt gesetzt; sie ließ sich ziehen. Alle anderen hatten schon den Theaterraum verlassen, da warf sie noch einen letzten langen Blick nach der Bühne hin.
»Komm!« Ihr Mann legte den Arm um ihre Schultern und hüllte sie in den Mantel; steif und stumm ließ sie's geschehen. Als er ihr auch das Spitzentuch um den Kopf binden wollte, machte sie sich ungeduldig frei; sie trat vor den Spiegel. Ein erhitztes Gesicht mit gespannten Zügen und weit geöffneten Augen sah sie an. Man stieß sie, um sie drängte sich die Menge. Leonore Mannhardt ging vorbei und grüßte steif. Auch Frau von Lindenhayn kam an Eisenlohrs Arm vorüber; die immer noch schöne Frau nickte freundlich. Elisabeth neigte mechanisch den Kopf; sie hätte den Gruß gar nicht bemerkt, wenn ihr Mann sie nicht angestoßen hätte. Sie sah niemand.
Ohne ein Wort ging sie an seinem Arm durch die klare Herbstnacht. Eine wunderbar reine Luft, wie nie im Sommer, fächelte die breite Straße entlang.
»Das tut wohl«, sagte Ebel aufatmend, »nach dem da drinnen. Was für ein ungesundes Zeug!«
Ein paar Theaterbesucher, gleich ihnen verspätet, überholten sie. »Genial!« sagte einer. Er schien ein Mann vom Fach. »Ich werde nicht verfehlen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Stück zu lenken!«
»Da hörst du's! Da hörst du's doch!« Elisabeth lachte laut auf. »Du stehst vereinzelt mit deiner Ansicht.« Ihr Lachen klang nervös und gereizt.
»Möglich,« sagte er ruhig, »darum ändere ich meine Ansicht doch nicht.«
»Du verstehst nichts.« Sie sprach mit schneidender Ironie.
Er drückte ihren Arm. »Meine Elisabeth,« sagte er, sich zu ihr beugend und ihren Blick suchend, »sei nicht verstimmt. Sieh, wie hell die Sterne scheinen! Atme – die Luft ist ein Labsal! Und dann kommen wir nach Haus, und du machst uns den Tee, dann gehen wir noch einmal zu unserem Kind,« seine Stimme erhielt einen innigen Klang, »zu unserem lieben Kind!«
»Ja«, sagte sie tonlos. – – – – – –
Drei Jahre waren Wilhelm Ebel und Elisabeth verheiratet. Sie waren also noch ein junges Ehepaar, und doch – Elisabeth fühlte sich alt. Lange, lange Jahre zurück lag der Abend ihrer Verlobung. Da hatten Lichter am dunklen Baum gestrahlt, hoffnungsfroh und siegesfreudig war sie aufs Meer der Zukunft hinausgesegelt. Da war ihr Schiff mit Rosen bekränzt gewesen, lustig flatterten die Wimpel im Morgenwind. Freunde begleiteten ihre Fahrt. Freunde?
Als Elisabeth Frau Mannhardt ihre Verlobung mitgeteilt hatte, starrte diese sie an, als spräche sie in einer fremden Sprache. Das verstand Leonore nicht – einen solchen Menschen heiraten? Mit der Freundschaft war es vorbei; ein eiskalter Hauch wehte plötzlich von ihr zu Elisabeth. Diese fühlte das kalte Wehen und zog sich zurück. Sie machte mit ihrem Bräutigam wohl noch einen Besuch bei Mannhardts, empfing auch eine Einladung, aber sie sagte lachend ab. Je größeres Erstaunen die Leute über ihre Verlobung zeigten – und das Erstaunen war allgemein, man zeigte es ihr mehr oder minder unverhohlen –, desto trotziger hob sie den Kopf. Was wollten sie alle? Gott sei Dank, daß sie niemand brauchte. Keinen, nur ihn! Ein eigensinniger Zug setzte sich um ihren Mund fest, und sie war in der Verlobungszeit oft gereizt.
»Das verliert sich in der Ehe sofort,« hatte Frau Kistemacher zu dem Bräutigam gesagt, »ich war geradeso.«
Kistemachers erwiesen sich sehr treu; sie fühlten sich Elisabeth nun doch eine Stufe näher gerückt; ein Geschäftsmann, noch dazu aus kleinen Verhältnissen wie sie auch, das paßte. »Sie haben das Rechte getan«, sagte Kistemacher. »Eine solide Basis, liebe Freundin, dann blüht das Geschäft.« Er bot Ebel das »Du« an.
Frau Kistemacher besorgte für Elisabeth alles, die Aussteuer an Wäsche, die ganze Wohnungseinrichtung. Tagelang lief sie umher, gehetzt wie ein Jagdhund, stürzte alle Augenblicke zu Elisabeth hinauf, zeigte ihr Proben, dieses, jenes, kam mit Katalogen, mit Porzellan, mit Emaillegeschirr, füllte die kleine, stille Stube mit ihrem Geschwätz, lachte, stöhnte, je nach Bedürfnis, und stellte die Kochtöpfe auf den Schreibtisch.
Elisabeth konnte nicht arbeiten; abends lag sie schlaflos im Bett und machte sich Vorwürfe darüber. Eine Reihe von Entwürfen, eine Kette von Ideen, die sie vorher gehabt, standen um ihr Bett – ungeborene Kinder, die nach Leben schrien. Sie versuchte zu schreiben, sie quälte sich; es gelang nicht. Aufgeregt warf sie die Feder hin, und dann beruhigte sie sich selber: bald war ja die Hochzeit, und danach würde sie wieder arbeiten – ja, arbeiten! Sie beschleunigte die Hochzeit und sehnte sie mit Ungeduld herbei.
Ebel war kein anspruchsvoller Bräutigam, tagsüber war er auf der Bank, nur abends wollte er gern bei seiner Braut sein. Er führte sie auch ins Theater, und da fiel es ihr auf, welch natürliches und gesundes Urteil er hatte; sie freute sich darüber, es war eine Genugtuung, und doch – dort trafen sie andere, die verdarben ihr das Vergnügen. Elisabeth war bekannter gewesen, als sie selbst es geahnt hatte; man gaffte sie an. Und sie merkte Verwunderung an jedem Blick, an jedem Gruß.
Eines Tages erhielt sie die erste schlechte Rezension; Maier schickte sie ihr, ebenso, wie er ihr die guten gesandt hatte. Er schrieb freundlich an den Rand: »Man muß auch solche Käuze hören.«
Es war das erste scharf Tadelnde, das sie über sich las. Da stand etwas von »maßloser Überschätzung«, »Geschöpf der Clique« und so weiter. Sie war außer sich. Frau Kistemacher, die gerade in höchst wichtiger Mission, mit den ersten Mustern der Bettwäsche, kam, wurde beiseite geschoben. »Sehr schön, sehr schön, bitte nachher!« sagte Elisabeth und lief zu Marie Ritter; die war nicht zu Hause. Dann ging sie zu Heider; seit dem Weihnachtsabend war sie nicht mehr hier hinaufgestiegen. Auf den Treppen wieder Kindergequarr, hinter allen Türen Poltern, Töpfeklappern und Gesang. Selbst die Ziehharmonika piepte wieder. Alles wie damals – nur der Weihnachtsgeruch fehlte, dieser süße Duft. Und in ihrem Herzen fehlte auch etwas. Das pochte wohl ebenso rasch wie damals, vielleicht noch rascher, aber nicht in ahnungsvoller Erwartung, nicht in unbestimmter Sehnsucht. Kein bräutliches Gefühl war in ihr – sie dachte nur an die Rezension. Stürmisch nahm sie Stufe um Stufe. Sie riß an der Klingel und fiel Heider fast in die Arme; sie hielt ihm die Kritik vor die Augen.
Er sah sie verwundert an. »Und darüber erregen Sie sich so? Pfeifen Sie drauf! Diese Kritik hat ein Ihnen persönlich Übelwollender geschrieben, darauf will ich wetten. Hahaha!«
Er konnte lachen?!
»Übrigens ist bei aller Bosheit ein Körnchen Wahrheit darin. Die Clique ist mächtig, auch bei Ihnen ist sie's gewesen.«
»Bei mir?!« Wie konnte er das sagen? Sie wurde böse.
»Lache drüber!« hatte ihr Bräutigam gesagt, als er spät am Abend zu ihr kam; er hatte viel zu arbeiten gehabt, hungrig und müde saß er nun in der Sofaecke. Mile brachte das Abendessen herein; gleich würde Frau Kistemacher kommen, die sich als Anstandsdame opferte.
Elisabeth schob die Schüssel zurück. »Hier, lies erst!«
Er las. »Lache!« sagte er und lachte selbst. »Wenn sie dich angreifen, mußt du etwas wert sein. Unbedeutende greift man nicht so an.«
Sie beruhigte sich und lehnte den Kopf an seine Schulter.
»Elisabeth, meine Elisabeth,« flüsterte er, »bald meine geliebte Frau!« Zärtlich streichelte er ihre Wangen.
Sie versanken beide in Träumereien; das Essen auf dem Tisch dampfte nicht mehr, es war schon kalt geworden. Plötzlich richtete sie sich auf. »Ich werde arbeiten,« sagte sie hart, »ich werde ihnen zeigen, wer ich bin.« Eine gereizte Entschlossenheit klang aus ihrem Ton, ihre Augen fuhren unruhig umher. »Bald sind wir verheiratet, und dann …«, sie hatte ihn zerstreut angesehen, ihre Blicke schienen sich einzubohren, »dann kann ich arbeiten!«
*
Nun hatten sie schon ein Kind.
Der Knabe schlief fest, als die Eltern an sein Bettchen traten. Wie hübsch er war! Sein blondes Köpfchen lag in die Kissen eingewühlt, und zwei geballte Fäustchen zeigten sich oben auf der Steppdecke.
Ebel zog seine Frau näher heran. »Sieh mal, was er sich für rote Bäckchen geschlafen hat! Prächtig gesund sieht er aus, Gott sei Dank!« Er kniete hin und küßte die kleinen Fäuste.
Um Elisabeths Mund irrte ein flüchtiges Lächeln, sie stand in Gedanken, das Gesicht geradeaus gerichtet. Sie war nicht mehr in dieser kleinen Stube, in der Windeln am Ofen trockneten und der ruhige Atem des schlafenden Kindes einzig zu hören war – sie war weit weg. Sie sah die wechselnden Bilder auf der Bühne und hörte den Beifall des Publikums. Sie sah sich selbst an der Rampe erscheinen, sich verneigen – es war nicht der Zuschauerraum, der sich endlos im Schein strahlenden Lichtes dehnte, in dem immer neue Köpfe auftauchten, immer neue Gestalten – Reihen, endlose Reihen – – – es war die ganze Welt. Alle Menschen drängten herzu, lauschten ihren Worten, und ihre Worte zündeten ein Feuer an, das brannte wie Osterfeuer auf den Bergen. Die Herzen brannten, Tausende von Augen blickten zu ihr auf, Hände reckten sich ihr entgegen – – – – – –
Sie schrak zusammen, Ebel hatte ihre Hand gefaßt. »Laß doch, Wilhelm!«
Er wies auf das schlafende Kind, das zu träumen schien; es bewegte die kleinen Lippen und lächelte.
Sie sah es an mit krauser Stirn. Da lag es so unschuldig, und es hatte ihr doch so viele Schmerzen gemacht, sie gehindert, gehemmt; ihre Schwungkraft gelähmt vor seiner Geburt. Und nach seiner Geburt …?! Bereitete es ihr von seinem ersten Schrei an nicht jeden Tag neue Sorgen? Der kleine Körper wollte gepflegt sein, der kleine Geist auch schon. Es war ihre Pflicht, sich dem zu unterziehen, sie war moralisch dazu gezwungen. Und doch war noch anderes da, was sie mächtiger zwang, gebieterischer, was sie zum Schreibtisch riß, ihr befahl, wie ein Herr seinem Leibeigenen, ihr die Feder in die Hand preßte. »Schreibe!«
Gewiß liebte sie ihr Kind. Sie drückte es oft an sich in stürmischer Zärtlichkeit und küßte sein flaumiges Köpfchen, legte seine Händchen an ihre Wangen, an ihre Stirn, streichelte seine nackten Beinchen, seinen sammetweichen kleinen Nacken. Wer konnte sagen, daß sie ihr Kind nicht liebte?! Es schnitt ihr durchs Herz, wenn sie es rufen hörte; es war an die Tür gekrochen – lieber Gott, auf allen vieren –, »Mam! Mam!« Und nun hatte es sich gestoßen, sich weh getan. Es weinte. Und sie preßte die Hände an die Ohren und starrte auf das Papier – oh, das Weinen drang doch bis zu ihr. Nein, nichts hören! Immer fester die Ohren zugehalten, nicht gehört, nicht gesehen, nicht aufgesprungen! – – –
Sie sah auf ihren Mann nieder. »Laß das Kind schlafen,« sagte sie herb, »sonst haben wir keine Ruhe. Mile ist schon zu Bett, ich kann nicht mehr von ihr verlangen, als sie tut; sie ist alt und schwach.«
»Wir werden noch ein Mädchen nehmen«, sagte er und sah sie besorgt an. »Ich will nicht, daß du dich übernimmst.«
»Wirst du das denn können?« Ein Zug qualvoller Unruhe irrte über ihr Gesicht. »Du hast schon so viele Ausgaben.« Sie setzte sich plötzlich schwer auf den nächsten Stuhl und ließ die Hände in den Schoß fallen.
Sofort erhob er sich von den Knien und trat vor sie hin, ihren Kopf an sich ziehend. »Ach, solche Sorgen!« Er bemühte sich, seinen Worten einen scherzhaften Anstrich zu geben. »Ich brauche doch nicht in ein paar Jahren gleich ein Krösus zu werden. Das kommt schon nach und nach von selbst. Ich werde schon noch ein Mädchen bezahlen können.« Und ernster fügte er hinzu: »Vorderhand verbrauchen wir eben noch, was wir verdienen.«
»Was du verdienst.« Und dann murmelte sie: »Ich wollte dir helfen. Ich müßte dir helfen!«
Er schien das nicht zu hören und streichelte unablässig ihr blondes Haar. »Es ist eigentlich unverantwortlich von mir, daß ich dir nicht längst ein zweites Mädchen gehalten habe – ich mache mir Vorwürfe.«
»Du?!« Sie sagte es in einem ganz eigentümlichen Ton, hob rasch den Kopf und sprang auf, eine qualvolle Unruhe schien sie zu peinigen, mit großen Schritten ging sie vor ihm hin und her. »Was bin ich?!« Sie erhob leidenschaftlich die Stimme, ohne Rücksicht auf das schlafende Kind. »Was leiste ich? Nichts! Gar nichts!« Die Hände an die Schläfen legend, starrte sie zu Boden. »Ich wäre so stolz, auch etwas zu geben; ich habe dir nichts in die Ehe gebracht als die lumpige Aussteuer, mein kleines Erbteil ging dabei zur Hälfte drauf. Du arbeitest, du plagst dich – oh, ich weiß es wohl!« Sie hob den Kopf und sah ihn an mit brennenden Augen. »Du revidierst Bücher, du suchst allerlei Nebenverdienst. Denkst du, ich sehe nicht, wie müde du oft bist? Und ich …«, eine heftige Gereiztheit gegen sich selbst brach sich Bahn, sie sprach ohne jede Logik, »ich faulenze. Ich quäle mich, aber ich schaffe nichts; ich kann nichts mehr, es war ein Zufall, der mir den ersten Erfolg in den Schoß warf. Ich habe kein Talent. Ich sitze am Schreibtisch, ich empfinde und kann's doch nicht in Worte kleiden, ich sehe und kann's doch nicht beschreiben. Alles ekelt mich an; mein eigenes Schreiben, es genügt mir nicht, es ist erbärmlich. Ich verzweifle!« Sie brach mit einem Seufzer ab, der wie ein Stöhnen klang. Mit schlaff herunterhängenden Armen stand sie da und tief gesenktem Kopf. »Ich versprach mir Erfolg,« murmelte sie, »mir, dir! Ich habe gelogen.«
Er hatte ihren leidenschaftlichen Erguß nicht unterbrochen, sondern sie ruhig ausreden lassen. Seine Stirn war zusammengezogen, seine Augen sahen traurig darein, aber er unterdrückte den schmerzlichen Klang seiner Stimme. »Elisabeth, du bist so ungerecht gegen dich!« Er zog sie in die Arme. »Du gibst so unendlich viel, viel mehr, als du selbst weißt!« Er küßte sie zärtlich. »Meine liebe Frau!«
Sie ließ sich seine Küsse gefallen, aber erwiderte sie nicht. Plötzlich riß sie sich los, faßte ihn mit beiden Händen vorn am Rock und sah ihm starr ins Gesicht. Ganz nahe funkelten ihre Augen den seinen. »Kann die etwas?« stieß sie hervor. »Sage mir, war der Erfolg gerecht? Kann sie mehr als ich? Du, lüge nicht!« Sie rüttelte ihn.
»Eifersüchtig, Elisabeth?« Er blickte sie ernst an. »Das solltest du nicht sein, du hast es nicht nötig!«
Von einem plötzlichen Impuls getrieben, warf sie sich ihm an die Brust. Das Kind wachte auf mit einem hellen Schrei, die Eltern beachteten es nicht. Elisabeth schluchzte, dazwischen lachte sie.
»Es ist lächerlich – hahaha –, oh, ich weiß es, es ist schlecht von mir! Ich werde schlecht! Wilhelm,« sie klammerte sich mit beiden Armen an ihren Mann, »das waren Höllenqualen. So dazusitzen, das zu hören, zu wissen: Du kannst das besser machen … und doch … doch … ja, ich bin eifersüchtig!« Sie zitterte am ganzen Leib. »Ich schäme mich, ich kann nicht dafür, ich beneide sie alle, alle haben Glück, ob verdient oder unverdient – nur ich nicht!«
»Du bist unbescheiden, Elisabeth! Da sind doch viele, die dich hochstellen, Heider, Erdmann zum Beispiel. Erdmann ist so krank, aber er läßt sich immer deine Sachen vorlesen. Es gibt Kritiker …«
»Oh, nur die Parias der Literatur! Sei still,« unterbrach sie ihn, »die zählen nicht.«
»Und Maier, was hat er gestern noch gesagt?«
»›Gut, sehr gut.‹ Aber er freut sich nicht, wenn ich komme. Der Mann will ein Geschäft machen, mit mir macht er keins. Und ich werde auch nicht mehr schreiben, nein, keine Zeile mehr!« Sie gab sich einen Ruck und richtete sich auf. »Nein, nie mehr!«
»Das wäre Sünde«, sagte er vorwurfsvoll.
»Was willst du?« Sie ballte die Hände. »Ich will mich nicht zerquälen, zermartern, mein Leben am Schreibtisch verbrauchen – um nichts. Sieh mich an,« sie breitete die Arme nach den Seiten und stand wie ans Kreuz geschlagen, »wie sehe ich aus?! Das macht das Nagen inwendig, immerfort – es frißt. Es läßt mir keine Ruhe Tag und Nacht. Ich habe etwas in mir, das treibt mich fortwährend: voran, voran! Es steht immerfort mit der Hetzpeitsche hinter mir. Und nachts – ach, du weißt nicht, was ich leide!«
War das ein Aufschrei? Kein lauter, und doch gellte er durchs Zimmer, drang in jeden Winkel, packte das Herz und preßte es zusammen. Das Kind im Bettchen richtete sich auf und starrte die Mutter mit großen, verständnislosen Augen an.
»Meine arme Frau!« Ebel war sehr bleich geworden. »Ich weiß es wohl. Was soll ich für dich tun?« Er sah umher, wie hilfesuchend. Sie saß wieder auf dem Stuhl, ganz in sich zusammengesunken.
Er kniete vor ihr nieder und legte beide Arme um ihren Leib. »Ich liebe dich, liebe dich so sehr!«
»Ich will Anerkennung haben,« sie stieß ihn zurück, »ich will Ruhm haben, Ruhm, ja, Ruhm! Nur der genügt mir. Ich will nicht im Staube kriechen, ich will fliegen, hoch über den anderen. Ich muß Anerkennung haben,« sie fuhr sich in die Haare und krampfte die Hände in die schweren Flechten, »ich kann sonst nichts schaffen. Ich bin ausgetrocknet, verschmachtet. Gib mir das!« Sie packte ihn bei beiden Schultern und sah ihn mit glühenden, gierigen Augen an. »Wenn du mich liebst, gib mir das!«
»Ich kann nicht«, sagte er tonlos.
»Siehst du, was vermag die Liebe?« Sie lachte bitter auf. »Nichts!«
Er antwortete nicht, sondern ging mit schwerem Tritt aus der Stube; an der Tür wandte er sich noch einmal um. »Ich werde den Tee jetzt machen.«
»Papa!« krähte das Bübchen hinter ihm drein.
»Sei still, schlafe!« Elisabeth fuhr auf, trat an das Bettchen und rüttelte unsanft an dem Gitter. »Du sollst sofort schlafen!«
Das Kind weinte erschrocken. Da zog es wie Schamröte über das Gesicht der Mutter, sie beugte sich hastig nieder. »Schlaf, Kindchen, schlaf!« Mit zittriger Stimme sang sie, stoßweise kam der Atem; plötzlich versagte ihr der Ton. Sie stürzte neben dem Bettchen auf die Knie, verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte herzbrechend, verzweifelt.
Das Kind lachte dazu, es war ihm ein Spaß; spielend zauste es in ihren Haaren.