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9.

Elisabeth Reinharz saß in ihrer kleinen Stube.

Draußen blies der Winterwind und drückte gegen die Scheiben. Hier oben spürte man ihn mehr als anderswo; er stieß mit Ungestüm gegen den hohen Seitenflügel des Hauses.

Sie hörte ihn nicht. Die Ellbogen hatte sie auf den Tisch gestützt und die weichen Wangen in die Hand geschmiegt; die Lampe warf einen hübschen Schimmer auf ihren Kopf, all die kleinen, seidenweichen Härchen an den Schläfen waren vergoldet.

Sie glühte. Ihre Wangen waren rund und rot wie Kinderwangen, ihre Gestalt von elastischer Fülle. Nichts war mehr da von der herbstlichen Blässe und dem leisen, sehnsuchtsvollen Anhauch. »Sie blühen wie eine Rose«, hatte Mannhardt gesagt. Er hatte recht, wohler, hübscher hatte Elisabeth nie ausgesehen. Ihre Augen lachten. Ein Zauber ging von ihr aus, der jeden froh machte, der in ihre Nähe kam. Selbst Kistemachers konnten sich dem nicht entziehen, sie hatten ihre Empfindlichkeit vergessen und sonnten sich im Glanze ihres Schützlings.

Alles Unangenehme, jeden trüben Gedanken, jeden Zweifel hatte ein Zauberstrom mit fortgespült, der Zauberstrom des Glücks. Wer darin badet, wird jünger, wird schöner, wird liebenswürdiger. Glücklich, glücklich! Elisabeth öffnete kaum die Lippen, aber man hätte das Wort von ihnen ablesen können. So rot, so frisch waren diese Lippen, immer die Mundwinkel lächelnd leicht gehoben. Sie hätte die ganze Welt umarmen mögen. Ihrer alten Mile fiel sie zwei-, dreimal am Tage um den Hals, so stürmisch wie nur je in der Kinderzeit; sie mußte irgend etwas haben, um es an ihr starkklopfendes Herz zu drücken.

Alle Menschen waren gut, nicht einer, der nicht freundlich gegen sie gewesen wäre. Elisabeth wußte selbst nicht, wie ihr die Tage hingingen – trübe Wintertage und doch im goldenen Sonnenschein. Sie sah ihr Buch in den Schaufenstern der Buchhandlungen, ihre »Einfachen Geschichten«, kostbar gebunden – ihr dünkte der schreiende Einband ein Wunder von Geschmack –, sie las ihren Namen in den Zeitungen, wurde bald hier, bald dort eingeladen, mit Liebenswürdigkeiten überschüttet, als eine Persönlichkeit mit Auszeichnung behandelt – und das sollte immer, immer so weitergehen? »Das kommt noch ganz anders!« hatte Leonore Mannhardt gesagt und befriedigt gelächelt.

Wie ein Rausch stieg es dem Mädchen zu Kopf. Da lagen Kritiken, ein ganzer Pack, und jede sprach ihr von Erfolg.

Was tönte in ihren Ohren nicht alles wider? Eine wunderbare, betörende Musik.

Nur Heider hatte nicht in die allgemeine Anerkennung mit eingestimmt; er hatte gesagt: »Daß Sie Talent haben, Elisabeth, erkenne ich gern an. Aber es ist noch nicht reif. Ihr Buch ist eine Talentprobe, aber kein Kunstwerk.« Sie wollte aufbrausen. Aber unbeirrt sprach er weiter: »Wenn auch die Leute platt auf dem Bauch liegen, so muß ich doch …«

Sie hatte ihn nicht ausreden lassen; empfindlich sagte sie: »Geben Sie sich keine Mühe, Sie können mir meine Freude nicht verderben und mir den Glauben an mich selbst auch nicht rauben. Ich werde fleißig sein, arbeiten. Maier will mein nächstes Buch gern verlegen. Er hatte gefürchtet, dieses wäre nicht fürs Publikum; ich sollte den Titel ändern: ›Leidenschaften‹ – ich habe auf ›Einfache Geschichten‹ bestanden. Es kommt schon wieder eine neue Auflage. Denken Sie!« Sie lachte hell auf, glückselig wie ein Kind, und klatschte in die Hände.

Er hatte die Achseln gezuckt. »Wenn Sie das befriedigt!«

Sie schmollte mit ihm. Oft drängte es sie, hinzulaufen, ihm dieses oder jenes mitzuteilen, aber ihr Künstlerstolz verbot es ihr; sie war gekränkt und hatte es ihm übelgenommen, daß er nicht mit einstimmte in den allgemeinen Lobeshymnus. Das war der einzige bittere Tropfen in dem Freudenbecher.

Elisabeth saß und sann nach. »Sechsundzwanzig Jahre!« sagte sie laut und hielt die gespreizten Finger gegen das Licht der Lampe. Das Blut schimmerte warm, rosig, fast glühend durch die zarte Haut – noch jung, und schon so viel erreicht! Sie schloß, wie vom Schwindel erfaßt, die Augen. Sie war einen hohen Berg hinaufgelaufen, in unglaublich kurzer Zeit hatte sie den Gipfel erreicht, nun stand sie atemlos oben, und nun … nun …

Sie dachte plötzlich an Ebel. Noch ein paarmal hatte sie ihn gesehen, bei Marie Ritter und zufällig auf der Straße; aber da hatte er sie nicht angeredet, sondern nur gegrüßt. Sie hatte ihm ihr Buch geschickt mit ein paar Zeilen der Widmung – das war sie ihm doch schuldig –, und er hatte ihr dafür in einem Brief gedankt, der weit entfernt war von jeder Schmeichelei, schlicht, ehrlich, männlich, gerade so, wie sie ihn selbst zu kennen glaubte. Aber aus jedem Wort sprach innige Verehrung. Sie hatte den Brief mehrmals hintereinander gelesen und darauf niedergeblickt, bis ihr das Blut zu Kopfe stieg.

Jetzt wollte sie ihn noch einmal lesen. Sie stand langsam auf und ging wie träumend zum Schreibtisch.

Draußen rührte sich die Klingel. Elisabeth schreckte zusammen. Rasch lief sie hin – Mile war nicht da –, und sie erwartete jetzt jeden Tag ein neues Glück. Es kam ja immer mehr, mehr, es konnte gar nicht enden.

Mit klopfendem Herzen riß sie die Tür auf – Leonore Mannhardt stand draußen.

»Ah, du?« Elisabeth zog sie herein; Leonore warf den kostbaren Pelzmantel ab.

»Fühle, wie ich glühe!« sagte sie und hielt des Mädchens Hände an ihre Wangen. »Du mußt wirklich eine andere Wohnung nehmen. Ich bin ganz außer Atem von deinen vier Treppen. Mehr in unserer Nähe. Und dann der Aufgang vom Hof aus, das geht doch nicht! Ich muß dir rasch erzählen – wunderbar, herrlich!«

»Was denn? Setz' dich doch!«

»Danke!« Leonore lief aufgeregt in dem kleinen Zimmer hin und her. »Denke, da trifft mein Mann vor acht Tagen im Wintergarten Schwertfeger, du weißt doch, den neuen Direktor! Sie sind Landsleute, sie haben zusammen auf der Schulbank gesessen. Zufällig reden sie von der Literatur – Mädchen, hast du ein Glück, müssen die gerade darauf kommen! Mein Mann verfehlte nicht, deinen Namen zu nennen. Schwertfeger kannte ihn noch nicht. Ich hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als ihm dein Buch zu schicken. Nun bedankt er sich heute bei mir und schreibt, daß er ganz entzückt sei, daß ihn besonders der dramatische Zug darin sehr gefesselt habe. Da ist es mir klar geworden,« sie machte eine Pause und sah das Mädchen bedeutungsvoll an, »du mußt ein Stück schreiben!«

»Ich?!« Elisabeth war sehr verwundert.

»Ja, du! Ich helfe dir dabei. Ein Stück, das ist der einzige Weg, um rasch berühmt zu werden. Ein Theatererfolg ist mehr wert als hundert Bücher. Wir werden das schon machen. Schwertfeger ist uns sicher. Goedecke ist pekuniär bei dem Theater beteiligt, ich werde mit ihm sprechen.«

Elisabeth wußte nicht, was sie dazu sagen sollte, sie lachte anhaltend, laut und lustig.

Frau Leonore mußte auch lächeln, des Mädchens Lachen wirkte so ansteckend; aber dann sagte sie ein klein wenig ärgerlich: »Du bist kindisch!«

»Ich? Hahaha!« Elisabeth schüttelte sich. »Ich soll ein Stück schreiben? Kann ich ja gar nicht, fällt mir gar nicht ein!«

»Du mußt nicht eigensinnig sein. Höre auf meinen Rat!« Frau Leonore machte ein ernstes Gesicht. »Nun haben wir dich so weit lanciert – mit Glück, das mußt du doch sagen –, nun mußt du aber auch das Deinige tun!«

»Das Meinige?« Elisabeth sah sie groß an, ihr Lachen war verstummt. »Und habe ich denn nicht das Meinige …?« Sie stockte.

»Natürlich, natürlich. Du bist ein großes Talent. Du mißverstehst mich!« sagte Leonore nach einem raschen Blick in des Mädchens Gesicht.

Es klopfte an die Entreetür.

»Das ist Frau Kistemacher!« Elisabeth sprang auf. »Die schellt nicht, die klopft nur.«

»Wie unangenehm!« Leonore zog das Näschen kraus. »Das ist wohl die Zahnarztfrau? Ich wundere mich, Liebchen, daß du dich mit denen so angefreundet hast. Sind es denn wirklich gebildete Leute?«

»Oh, sehr!« Elisabeth ging, um zu öffnen. Sie blieb eine ganze Weile draußen; man hörte murmeln. Dann kam sie allein wieder zurück. »Frau Kistemacher kommt gleich wieder,« sagte sie. »Als sie hörte, du wärest hier, wollte sie nicht hereinkommen, sie war in Morgenrock und Schürze.«

»Das ist doch wirklich nicht nötig – wenn mein Mann noch hier gewesen wäre! Aber vor mir?« Leonore lächelte bescheiden.

»Sie ist eine sehr liebe Frau, und er ist wirklich ein kluger Mensch!« Elisabeth fühlte sich gedrungen, Kistemachers herauszustreichen, und erzählte von ihnen.

Leonore hörte zu, eine gewisse Herablassung in der Miene.

»Sie sind sehr gut zu mir«, schloß das Mädchen.

Da klopfte es schon wieder.

»Das ist ja sehr rasch gegangen.« Frau Mannhardt setzte sich aufs Sofa.

Elisabeth führte Frau Kistemacher herein. Diese war sehr rot und heiß. Sie machte der Dame im zartgrauen Tuchkleid, die so vornehm auf dem Sofa saß, eine förmliche Verbeugung. Dann umarmte sie Elisabeth und küßte sie schallend.

Frau Mannhardt verzog den Mund.

Elisabeth fühlte sich einigermaßen peinlich berührt; die zwei paßten schlecht zueinander, und sie hatte doch jede von ihnen lieb. Man sprach von diesem und jenem, die beiden Frauen sich einander gleichsam mit Fühlfäden betastend. Leonore war sehr zurückhaltend, und das Gespräch quälte sich so hin.

Plötzlich sagte Frau Kistemacher: »Es freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen, gnädige Frau. Elisabeth hat uns schon so viel von Ihnen erzählt, daß ich ganz neugierig war.«

Leonores Miene wurde entgegenkommender. »Mein kleines Genie!« sagte sie zärtlich und zog das Mädchen an sich.

»Sie haben sich auch so für Elisabeth interessiert, gnädige Frau!« Frau Kistemacher hätte nicht mehr Dankbarkeit in ihre Stimme legen können, wenn sie von einer ihrem leiblichen Kinde erwiesenen Freundlichkeit gesprochen hätte.

Leonore verneigte sich verbindlich. »Ich bitte Sie, das würde doch jeder getan haben. Mein einziges Verdienst ist, zuerst ihr Talent erkannt zu haben. Ich habe sie entdeckt.« Ihre zierliche Gestalt schien zu wachsen, sie nickte Elisabeth zu.

»Entdeckt?« Frau Kistemacher strich an einer kleinen Falte, die ihr gutes Kleid im Schoß warf, auf und nieder. »Gekannt haben wir sie, glaube ich, noch früher; und daß sie was Besonderes war, hatten wir gleich weg. Namentlich mein Mann; er hat durch seinen Beruf solch große Menschenkenntnis.«

»Ihr Herr Gemahl ist Zahnarzt?«

Elisabeth errötete, sie fühlte den Stich, der in dieser Frage lag. »Ja, wir kennen uns schon lange!« sagte sie und legte rasch den Arm um Frau Kistemachers Schulter.

»Na, Elisabethchen!« Frau Kistemacher tätschelte sie. »Jawohl, mein Mann ist Zahnarzt, aber er hat nebenbei noch viele Interessen, besonders für Literatur, nicht wahr, Elisabethchen?« Sie blinzelte dem Mädchen zu. »In seinen Mußestunden besteigt er zuweilen den Pegasus, wie er sagt.«

»Also ein Sonntagsreiter!« Frau Leonore lächelte seltsam.

Frau Kistemacher lachte herzlich. »Ja, das ist er, hahaha! Sie werden nun begreifen, daß er sofort Verständnis für Elisabeth hatte. Es hat ihm ein riesiges Vergnügen gemacht, nach besten Kräften ihr Talent zu fördern. Ich bin immer ganz beglückt, ganz gerührt, wenn ich all die schönen Kritiken lese.«

Frau Mannhardt war wieder ganz Zurückhaltung, ihre Stimme klang unleugbar scharf: »Das wahre Talent bricht sich immer Bahn, es braucht keine Protektion. Sogenannte gute Freunde schaden oft mehr als sie nutzen.«

»Das sage ich auch!« Frau Kistemacher wurde lebhaft. »Das freut mich, daß Sie das auch sagen, gnädige Frau! Siehst du, liebes Kind,« sie legte Elisabeth die Hand auf die Schulter, »habe ich's dir nicht schon gesagt? Dieser Umgang – du weißt schon, welchen ich meine – ist nicht gut für dich. Sehen Sie, gnädige Frau,« sie rückte erregt dem Sofa näher, »diese jungen Literaten, der Heider, der Erdmann und wie sie alle heißen, dieses Fräulein – Ritter heißt sie ja wohl? –, die sind doch kein passender Umgang für ein feines Mädchen. Ich habe immer Angst, sie …«

»Ich bitte dich, schweig!« Elisabeth schüttelte die auf ihrer Schulter ruhende Hand ab und reckte sich hoch auf, Zornesröte im Gesicht. »Ich habe dir's schon einmal gesagt: ich lasse meine Freunde nicht beleidigen!«

»Nun, nun,« Leonore sprach, wie man einem unvernünftigen Kinde zuredet, »nur nicht gleich so heftig! Von ›beleidigen‹ ist doch gar keine Rede. Ich finde, Frau Kistemacher hat ganz recht!« Sie nickte dieser zu. »Es ist mir sehr lieb, daß ich davon höre. Ich wußte das ja gar nicht so.«

»Es sind meine Freunde«, sagte Elisabeth finster. »Es tut mir schon weh, wenn nur in diesem … in diesem … nun, in diesem gewissen Tone von ihnen gesprochen wird!«

»Nun, dann müssen sie sich auch danach benehmen!« Frau Kistemacher lief leicht die Galle über, es empörte sie, in Frau Mannhardts Gegenwart zurechtgewiesen zu werden. »Ist das eine Art von dem Heider, ein junges, alleinstehendes Mädchen so zu kompromittieren? Als hätte er dich gepachtet! Von dem Erdmann ist nicht zu reden, der sieht ganz verrückt aus, der kann einem leid tun.« Frau Kistemacher erhitzte sich immer mehr. »Frage mal die gnädige Frau, ob es ihr paßt, daß du mit der Ritter so intim verkehrst, dieser Person, die ein Kind hat und nicht mal verheiratet ist. Oh, mein Mann hat sich wohl erkundigt! Finden Sie das passend, gnädige Frau?«

»Durchaus nicht. Ich bin ganz Ihrer Meinung. Hätte ich das gewußt! Herzchen, wie kannst du dich nur so mit dieser Bohème …«

»Passend oder nicht passend!« Elisabeth schnitt ihr das Wort ab und sprach stark: »Es ist nun mal so. Ihr werdet euch daran gewöhnen müssen.« Eine schmerzliche Entrüstung zitterte in ihrem Ton. »Ich bin doch kein Kind, dem man Vorschriften machen kann. Ich bin alt genug, ich muß allein vertreten, was ich tue.«

Ihre Stimme zitterte nicht mehr, sie war zum Schluß fest geworden, fast hart: »Ich versichere euch, ich lasse mich nicht beeinflussen, weder für noch wider!«

Frau Leonore lächelte, sie fühlte, hier mußte sie andere Saiten aufziehen. Sie hatte sich getäuscht, die war noch kein gefügiges Werkzeug in ihrer Hand. Nur nichts verderben! Elisabeth gefiel ihr besser denn je mit den fest geschlossenen, ein wenig aufgeworfenen Lippen und der stolzen Haltung. »Du hast recht, Liebchen, es kommt uns gar nicht zu, dich irgendwie beeinflussen zu wollen.« Sie blinzelte Frau Kistemacher zu. »Komm, sei wieder gut, Liebchen!«

»Ich bin ja gar nicht böse.« Elisabeth versuchte zu lächeln, aber ihr Blick blieb ernst, fast düster. Ihre Finger waren eiskalt und zuckten leicht in Leonores Hand.

Frau Kistemacher empfahl sich freundlich, sie küßte sogar Elisabeth.

Als sie gegangen, war Leonore ärgerlich.

»Uns so das Beisammensein zu stören! Ärgere dich nicht, Liebchen, ich sage dir, nichts als Eifersucht!«

»Das mag sein.« Elisabeth hatte Kopfschmerzen und lehnte die heiße Stirn an die Schulter der Freundin. »Es ist recht schwer«, klagte sie. »Nun bin ich so glücklich, so sehr glücklich. Aber immer kommt allerlei, was mein Glück stört und an mir herumnörgelt. Ich kann das gar nicht vertragen. Es ist schlimm, ich habe nicht Vater, nicht Mutter, nicht Geschwister.«

»Hast du nicht Freunde? Hast du nicht uns? Mich?« Leonore streichelte zärtlich die heiße Wange.

»Jawohl, ihr!« murmelte das Mädchen. »Aber da ist doch nicht ein einziger, der ganz zu mir gehört. Oh, sei still,« sie hob die Hand, »ich weiß wohl, meine liebe Leonore, du hast mich lieb, du bist so sehr gut zu mir, aber dein Leben ist ausgefüllt, du hast deinen Mann, deine Verwandten, deine Freunde, deine Interessen, deine Geselligkeit. Ich bin dir nicht nötig. Und ich möchte einem Menschen alles sein. Du weißt ja,« sie lächelte schwach, »ganz oder gar nicht. Man braucht eine zweite Seele, nicht bloß im Leid, ich fühle es deutlich, auch im Glück.«

»Du mußt dich verheiraten«, sagte Leonore leichthin. Sie hatte wenig Verständnis für solche Ergüsse. »Apropos, Liebchen, Scherz beiseite, was mir eben einfällt, was hast du denn eigentlich mit Eisenlohr gehabt? Er war doch auf unserem Diner so komisch zu dir, ging dir, man möchte sagen, aus dem Wege. Ich wollte dich längst fragen. Gestern auf dem Diner bei Goedecke – es wunderte mich schon sehr, daß der dich nicht eingeladen hatte – saß ich neben Eisenlohr. Ich brachte die Rede sehr geschickt auf dich. Er verhielt sich ablehnend. Da fragte ich ihn geradezu, was er gegen dich hätte. ›Ich?‹ Er tat sehr verwundert. Und dann sagte er, du wärest so komisch gegen ihn gewesen, er wollte nicht weiter darüber sprechen, aber eigentlich – unartig. Jedenfalls, gelinde ausgedrückt, seiest du eine etwas merkwürdige junge Dame. Mehr war nicht aus ihm herauszubringen; er brach sofort ab. Ich erzählte es zu Hause gleich meinem Mann, der schien nicht überrascht, Goedecke hatte ihm schon was anvertraut, kurz vor unserem Diner; er hatte es mir nicht gesagt, um mir nicht die Freude zu verderben, um mich überhaupt nicht aufzuregen. Daß aber Eisenlohr wegen der Kritik auf dich böse sein soll, glaube ich einfach nicht. Das hat ein Eisenlohr doch nicht nötig.«

»Das ist es auch nicht!« Elisabeth schnellte empor. »Nun will ich's dir sagen! Dieser Heuchler!« Sie ballte empört die Hände. Mit funkelnden Augen, mit brennenden Wangen, hastig, sich überstürzend, erzählte sie ihr ganzes Erlebnis mit Eisenlohr. Sie vergaß nichts. »Und da stand ich auf der Straße«, schloß sie fiebernd vor Erregung.

»Ahnte mir doch so was!« Leonore brach in ein herzliches Gelächter aus. »Aber das ist doch nicht so tragisch zu nehmen! Hahaha! Und deswegen springst du aus dem Wagen, mitten im Regen, bei Donner und Blitz? Liebchen, nimm's mir nicht übel, das war kindisch. Eine Person wie du muß doch Verständnis für solche Situation haben. Du bist doch nicht das erste beste Gänschen!«

»Es war eine Unverschämtheit!« Auf Elisabeths Stirn zeigte sich eine Zornesfalte.

»Liebes Kind, was willst du? Er ist ein Dichter!«

Elisabeth sagte kein Wort, sondern sah die andere nur groß an.

»Ja, sieh mich nur so an,« Frau Leonore lachte wieder, »hahaha! Du mußt doch Eisenlohr nicht mit dem Maßstab messen, mit dem du andere Männer mißt. Da hättest du ganz recht gehabt, empört zu sein, aber hier …! Solch eine impulsive Künstlernatur läßt sich eben hinreißen. Du hast ihm gefallen, er hat es dir gezeigt – nun, was weiter? Eisenlohr wird von den Frauen sehr verwöhnt.«

»Mögen sie ihn verwöhnen!« In des Mädchens Ton lag Verächtlichkeit.

»Ich finde das nicht etwa nachahmenswert«, sagte Leonore rasch, und ihr lächelndes Gesicht wurde ernst. »Aber ein bißchen Klugheit muß man doch walten lassen. Konntest du denn nicht eine liebenswürdige Art der Zurückweisung finden?«

»Nein.« Elisabeth sprach das »Nein« sehr schroff.

»Die Geschichte ist sehr fatal.« Frau Mannhardt stützte nachdenklich den Kopf. »Was soll er von dir denken? Hm, hm, ärgerlich!« Plötzlich fuhr sie auf. »Du hast dich unglaublich töricht benommen, Kind! Das vergißt er dir nie. Er wird es dir nachtragen.«

»Mag er!«

»Ach was!« Leonore wurde nun wirklich böse. »Man sagt das nicht so leicht hin! Er ist ein berühmter Mann. Ein Wort, eine Zeile von ihm gilt viel. Es ist durchaus nicht gleichgültig, ob er dein Freund ist oder dein Feind; er kann dir sehr schaden.«

»Ich mache mir nichts daraus!« Elisabeth zwang sich, ruhig zu bleiben, aber Leonore sah, wie es in ihr stürmte. »Mag er denn mein Feind sein, ich werde doch meinen Weg finden!« Sie lachte, aber es war nicht das ihr eigene, frische, schöne Lachen, es klang gezwungen. Wie ein Hauch ahnungsvoller Bangigkeit flog es über ihr Gesicht. »So etwas sollte mich hemmen?« Ihr Auge flammte, und sie trat der anderen einen Schritt näher. »Mein Freund Heider sagt: ›Ich pfeife drauf!‹« Sie wandte sich ab und ging zum Fenster; mit brennenden Augen starrte sie hinaus ins Dunkel.

Der Wind war stärker geworden, er heulte; dazwischen prasselte Regen, ganze Schauer von Tropfen wurden gegen die Scheiben gepeitscht. Eine böse Nacht. Der Himmel unheilschwanger, von undurchdringlichem Schwarz bedeckt; kein Stern. Ein scharfer Zug drang durch die Ritzen des Fensters. Es fröstelte Elisabeth. Wie Gespensterfurcht ein einsames Kind beschleicht, so kamen ihr unheimliche Gedanken.

Es war still im Zimmer. Nun rauschte Frau Leonores Kleid; sie kam und legte ihre Hand auf Elisabeths Schulter.

»Schon wieder böse, Liebchen? Ich meine es doch so gut mit dir. Ich denke ja gar nicht daran, an deinem Vorankommen zu zweifeln. Du mißverstehst mich.«

»Ja, wir verstehen uns nicht.« Elisabeth legte plötzlich die Hände vors Gesicht und stand dann regungslos.

»Mein Gott!« Leonore wußte nicht recht, was sie sagen sollte. »Du bist ungeheuer sensibel. Du bist überreizt. Nun, du bist eben eine Künstlernatur. Hätte ich geahnt, daß dich mein Vorwurf – es war ja nicht einmal ein Vorwurf – so schmerzen würde, ich hätte nichts gesagt. Verzeih! Du hast ganz recht, was soll dir Eisenlohr oder irgendein anderer schaden? Dir? Lache, habe nur keine Angst! Liebchen, hat dich mein dummer Vorwurf geschmerzt?« Sie umarmte Elisabeth.

Einen Augenblick sah es aus, als wollte die große Gestalt die kleine abschütteln. Dann ließ sich Elisabeth ans Licht ziehen. Schwer setzte sie sich auf den Stuhl am Tisch, ihr blonder Kopf neigte sich tief.

Leonore glitt nieder, in einer anmutigen Stellung lag sie vor der Sitzenden auf den Knien. »Liebchen, sieh mich an!« bat sie. »Was hat denn nur heute unser kleines Genie? Ja, es war unrecht von mir, dir einen Vorwurf zu machen. Schmerzt er dich noch?«

»Der schmerzt nicht.« Elisabeth schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich verdiene einen Vorwurf; was wage ich mich auch allein – oh!« Sie legte plötzlich den Kopf auf den Tisch, ein heftiges Schluchzen erschütterte ihre Gestalt.

Leonore war betroffen. »Tränen …? Was hast du denn nur, mein Kind, mein Liebchen, meine süße Elisabeth? Das kann dir ja in der Tat gleichgültig sein, was Eisenlohr sagt. Da gibt's auch noch andere Leute. Laß mich nur machen. Wer weiß auch, ob ich mich nicht irre; vielleicht ist er gar nicht böse, oder du hast dich überhaupt bei der ganzen Sache geirrt, er hat es gar nicht so gemeint. Weine nur nicht! Du weinst dir deine lieben Augen ganz rot. So höre doch, Liebchen!« Sie streichelte das Mädchen und erschöpfte sich in Liebkosungen. »Du bist jung, du bist hübsch, du hast Talent, du bist auf dem besten Wege, berühmt zu werden – wenn ich nur wüßte, warum du weinst?«

»Ich bin allein.« Es klang wie ein Stöhnen. Weiter sagte Elisabeth nichts.

Leonore sann nach – also das war's! Aha! Sie lächelte flüchtig, dann waren Gesicht und Stimme ganz Teilnahme.

»Du wirst dich verheiraten, mein Schatz!« flüsterte sie zärtlich. »Wir werden einen Mann für dich finden, einen Mann, der dir eine Position gibt. Dann kannst du freier schreiben, dich freier bewegen, unbeirrt; du kannst ganz ungestört deiner Kunst leben. Es wird mir zwar schwer, sehr schwer werden,« sie zog des Mädchens Kopf liebkosend zu sich herab, »aber ich gebe dich ja nicht her, im Gegenteil, ich gewinne noch einen Freund dazu.«

Elisabeth sagte nichts, langsam, wie träumend, richtete sie sich auf und strich sich das wirre Haar aus der Stirn.

»Sei nur wieder vergnügt«, schmeichelte Leonore. »Wofür bin ich denn da?«

»Leonore …!« Elisabeth sprach zögernd, stockend; Röte stieg ihr so jäh ins Gesicht, als wollte ihr die heiße Lohe aus den Wangen schlagen. »Leonore, ich möchte dich wohl mal um etwas bitten. Du bist doch meine Freundin. Willst du einmal mit mir … willst du einmal dabei sein, wenn ich … ich … ich möchte gern …« Sie gab sich einen Ruck; ihre Lippen waren so spröde, die Worte wollten gar nicht darüber weg. »Ich möchte, daß du … einen Mann kennenlerntest, den ich … kenne.« Jetzt war es heraus; sie preßte die Hände in tödlicher Verlegenheit ineinander.

»Ei, ei!« Leonore lachte. »O du! Sieh mal einer an!« Sie drohte mit dem Finger.

Elisabeth hielt ihr die Hand fest. »Nicht so! Es ist nicht zum Spaßen. Bitte, ich möchte wissen, wie er dir gefällt!«

»Du wirst doch keinen schlechten Geschmack haben? Ich bin riesig neugierig.« Leonore erhob sich lebhaft von den Knien. »Und das sagst du mir erst jetzt? Wer ist es denn? Wo hast du ihn kennengelernt? Kenne ich ihn denn noch nicht? Wohl was ganz Besonderes?«

»Er ist so ruhig, so sympathisch,« Elisabeth lächelte träumerisch, »so in sich gefestigt. Anders als die jungen Männer, die ich kenne.«

»Das ist ja sehr schön. Und wenn du ihn liebst …?«

»Ich liebe ihn nicht.« Elisabeth sagte es ruhig, mit einer großen Klarheit. »Ich kann auch keinen Menschen so lieben wie meine Kunst. Aber ich glaube, er würde einer Frau eine große Stütze sein.«

Leonore war einigermaßen verdutzt. »Nun,« sagte sie, »die Liebe findet sich ja in der Ehe, du hast ganz recht. Er ist wohl in brillanten Verhältnissen?«

Jetzt lachte Elisabeth, es war wieder viel vom alten, fröhlichen Klang in diesem Lachen. »Nichts weniger als das! Er ist Buchhalter, einer von vielen, an der Deutschen Bank.«

»Was …?« Frau Mannhardt sah Elisabeth an, als spräche sie Unsinn. »Buchhalter …? Kein Vermögen …? Buchhalter …?!«

Elisabeth nickte. »Kein Vermögen,« sagte sie sorglos, »ich glaube das wenigstens; ich habe mich doch nach seinen Verhältnissen nicht erkundigt!«

»Buchhalter … kein Vermögen …!« Leonore war sprachlos. Dann lachte sie plötzlich hell auf und schlug die Hände zusammen. »Liebchen, was sind das für extravagante Ideen? Du – haha –, nein, daraus wird nichts! Das kann ja nicht dein Ernst sein!«

»Wenn er mich liebte, würde ich ihn heiraten«, erwiderte Elisabeth ernst. »Aber davon ist ja vorderhand gar nicht die Rede.« Sie saß sinnend.

Leonore sah sie an und schüttelte immerfort den Kopf. »Was so ein Dichterhirn nicht alles ausbrütet! Nein, unglaublich! Gar nicht zu sagen!«

»Willst du ihn einmal kennenlernen? Sieh mal!« Sie ging an ihren Schreibtisch. »Hier ist auch ein Brief von ihm.«

Leonore las. »Ganz nett. Sehr verehrungsvoll. Ein bißchen Verliebtheit ist auch zwischen den Zeilen.«

»Willst du ihn kennenlernen?«

»Gott, wenn du's denn gern haben willst, Schatz! – – Aber wozu? Konsequenzen hat das doch weiter keine.«

»Wieso … Konsequenzen … was meinst du damit?«

»Nun,« Frau Leonore wand sich ein wenig hin und her, »nun … ich … ihn auffordern, uns zu besuchen, kann ich doch unmöglich. Er paßt nicht in unseren Kreis. Und du selbst wirst bald diese kleine Marotte vergessen haben.«

»Meinst du?« sagte Elisabeth und behielt immer den gleichen Ernst.

In Frau Leonores Augen funkelte es. »Liebes Kind, im Leben jeder Frau kommen Stunden, in denen sie … sie …«, sie suchte nach einem Ausdruck, »sagen wir, in denen sie – Hirngespinste hat. Wer will dir es verargen? Meinetwegen, Liebchen, wenn er dir gefällt!« Sie lachte.

Elisabeth sah sie starr an. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen; es war sehr bleich.

»Ich drücke da ein Auge zu. Es gibt dir vielleicht eine hübsche Anregung. Aber dann –«, sie machte eine energische Handbewegung, »Strich drunter. Heiraten …? Unmöglich! Einfacher Unsinn! Weißt du, mein Herz, daß die Heirat mit einem solchen Menschen die größte Dummheit deines Lebens wäre? Und selbst, wenn er nicht deine Karriere untergrübe, die Zeit würde kommen, in der du dich seiner schämtest. Aber,« sie hob mit zwei Fingern das gesenkte Kinn des Mädchens in die Höhe, »wozu über so etwas reden!«

»Wozu über so etwas reden!« wiederholte Elisabeth.


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