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Man hätte es nicht glauben sollen, der tote Erdmann war in Mode gekommen. Herr Eugen Goedecke hatte die glückliche Idee gehabt, einen Vortrag über den so früh Dahingerafften im Literarischen Klub halten zu lassen, mit Proben aus seinen Schriften. Der Vorschlag wurde mit Akklamation angenommen; niemand Geringeres als Eisenlohr selbst hatte sich erboten, die Vorlesung zu halten. Er genügte einem inneren Bedürfnis, es schien ihm eine Pflicht, dem jungen, kongenialen Kollegen in würdiger Weise den Nachruf zu gestalten.
Der Andrang war groß, der Saal überfüllt, trotzdem man den sonstigen Eintrittspreis erhöht hatte. Im Publikum bildete sich eine Legende vom »verhungerten Dichter«. Man bedauerte das arme, junge Genie. Irgend jemand hatte herausgebracht, daß ein gewisser Heider den Verstorbenen in rührender Freundschaft unterstützt und ihm liebevoll die Augen zugedrückt hatte. Wer war dieser Heider? Ein äußerst talentvoller junger Lyriker, der wunderbar schöne Gedichte geschrieben hatte. Es traf sich gut, man konnte sie gerade noch den jungen Mädchen auf den Weihnachtstisch legen.
Maier hatte alle Hände voll zu tun gehabt. Eine Ausgabe von Erdmanns sämtlichen hinterlassenen Werken sollte veranstaltet werden. Da war zu sichten und zu ordnen; Heider stand ihm dabei zur Seite. Ein Bildnis des Verstorbenen sollte den ersten Band schmücken; der Nachruf Eisenlohrs war zur Vorrede verarbeitet worden.
Elisabeth hatte Maier in voller Arbeit getroffen, als sie eines Morgens zu ihm gekommen war und ihr Stück gebracht hatte; sie wollte ihn um Rat fragen.
»Einreichen, einreichen«, sagte Maier. Er wühlte gerade in einem Haufen kaum leserlich beschriebener Blätter, zwischendurch kamen auch nur abgerissene Papierfetzen. »Ich stecke jetzt so in Arbeit mit der Erdmann-Ausgabe. Ob ich Ihr Stück drucken will?« Er sah einen Augenblick nach ihr hin, und dann suchte er weiter. »Ja, hm, das will ich schon. Wer weiß – vielleicht läßt sich später damit – sehen Sie, wer hätte gedacht, daß mit dem Erdmann was zu machen wäre?! Nun geht er.«
»Ich möchte gern wissen, an wen ich mich zu wenden habe,« sprach sie gepreßt und plötzlich niedergedrückt – sie hatte gedacht, Maier würde erfreuter sein –, »soll ich es einem Agenten übergeben?«
»Bewahre!« sagte der Verleger rasch. »Die schneiden nur Geld. Das Geschäftliche kann ich Ihnen auch machen. Aber die Hauptsache müssen Sie selbst tun – Konnektionen, Konnektionen! Ohne Konnektion kommt man an kein Theater.«
»Auch nicht, wenn das Stück gut ist?« fragte sie mit zuckenden Lippen.
Maier lachte. »Darüber wollen wir nicht sprechen, das ist ein unerquickliches Thema. Sie kennen doch Goedecke? Wissen Sie was, der ist der Mann dazu!«
Elisabeth wehrte heftig ab. »Unter keiner Bedingung! Ich will keine Protektion, ich brauche keine Protektion!« Sie warf den Kopf hintenüber, eine flammende Röte zeichnete sich auf ihren Wangen ab. »Nein, keine Protektion«, sagte sie noch einmal ganz energisch.
»Nun, dann versuchen Sie's so.« Maier hatte die Achseln gezuckt. »Sie können ja erst mal der Reihe nach an die Theater versenden, aber schicken Sie an die verschiedenen Theater zu gleicher Zeit; hintereinander können Sie's gar nicht abwarten.« –
Elisabeth mußte an jenes Gespräch denken, als sie heute wartete, wartete wie alle Tage. Noch immer keine Antwort, von keinem Theater! Und es war Frühjahr geworden. Der kleine Wilhelm spielte im Sand in den Schöneberger Anlagen. Weiter hinaus, hinter Plankenzäunen, grünten die Stachelbeerbüsche, und an den Straßenecken boten alte Weiber Hyazinthensträußchen feil, auf Tannenzweige gebunden.
Jeden Tag eine neue Knospe, ein neues grünendes Blatt; wenn das so weiterging, war bald der Sommer da. Und immer noch keine Antwort! Elisabeth hatte einen gespannten Zug um die Mundwinkel und einen spähenden Blick in den Augen. In den ersten Wochen war das Warten leichter gewesen, da hielt die Gewißheit baldigen Erfolges stand und verkürzte die Zeit; da träumte sie die schönsten Träume, immer von der Aufführung ihres Stückes. Dann verging die Zeit schon weniger angenehm, gelinde Zweifel tauchten auf – würde das Stück auch gefallen? Mit diesen Zweifeln sich herumzuschlagen war kein Vergnügen, sie schwirrten unheimlich heran wie Fledermäuse in der Dämmerung, ehe das Licht brennt; man mattet sich ab im Kampf gegen dies gespenstische Ungeziefer, und dann versinkt man allgemach in eine müde Resignation. Warten, warten, in Geduld warten!
Aber dann kam die dritte Periode, die schlimmste: die der verzehrenden Ungeduld. Keinen Morgen klingelte der Briefträger, ohne daß Elisabeth ihm entgegengestürzt wäre; er kam immer um neun Uhr, aber schon lange vorher stand sie auf der Lauer. Nichts, wieder nichts! Oder nur ein paar gleichgültige Briefe. Es verletzte sie weiter gar nicht, daß ein Zirkular unter den bedeutenden Schriftstellern und Schriftstellerinnen der Hauptstadt herumging mit der Bitte, Bild und Biographie einzusenden; es sollte ein Prachtwerk erscheinen: »Die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts.« Elisabeth Reinharz hatte man vergessen. Maier war wütend darüber; sie zuckte die Achseln, es war ihr ganz gleichgültig – sie wartete nur; wartete immer. Nachts lag sie wach, der Schlaf floh sie beharrlich. Dann schrieb sie Briefe in Gedanken, daß sie nun endlich Antwort haben wolle: entweder – oder. Am Tage schrieb sie die Briefe wirklich; sie bat und drängte und wurde brüsk. Keine Antwort! Als hätte sie in ein noch nie erreichtes Land jenseits des Nordpols Tauben entsandt, so verflatterten ihre Briefe, wie jene im ewigen Schweigen, in Nacht und Eis.
Es war nicht mehr zu ertragen.
Draußen schwollen die braunen Knospen mächtiger, heimliche Veilchen fingen an zu duften. Heute mußte Bescheid kommen. Elisabeth hatte vom Aufstehen an ein Beben in den Knien, eine bleierne Schwere in den Gliedern, das Gefühl eines lastenden Schicksals über sich. Ihr Mann war schon um acht Uhr fortgegangen; noch eine ganze Stunde mußte sie allein sein, bis der Postbote kam. Sie wartete in fieberhafter Ungeduld und rannte wie eine arme Maus in der Falle im Zimmer hin und her. Da – endlich –, jetzt klingelte es! Ein plötzlicher Schreck lähmte sie; für Augenblicke stand sie starr, die Augen weit aufgerissen – was würde er bringen, Gutes oder Böses? Nun stürzte sie zur Tür, ihre zitternde Hand konnte kaum den Schlüssel umdrehen.
Der Postbote hielt ihr ein Paket in Buchform hin.
Da – sie kannte das Format –, ihr Stück! Zurück …?!
Schwindelnd, taumelnd erreichte sie die Stube. Sie riß die Verpackung ab, schnitt sich die Finger an dem Bindfaden blutig und fühlte den Schmerz nicht. Ein Brief lag dabei.
»Sehr geehrte Frau!
Ich bedaure, das am 5. Dezember vergangenen Jahres freundlichst eingesandte Manuskript nicht annehmen zu können. Die hochinteressante Arbeit hat meinen vollen Beifall, doch ist dieselbe für mein Theater leider nicht geeignet.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Die Direktion.«
Weiter nichts …?! Nicht angenommen …?! Nicht einmal gesagt, weswegen abgelehnt?! Mit einer Redensart abgefunden, wie man einen verschämten Armen von seiner Tür weist, dessentwegen man sich nicht in Unkosten stürzen will.
Elisabeth lachte bitter. Es stieg ihr etwas in die Kehle, bis auf die Zunge, das schmeckte wie lauter Galle. Oh, diese Enttäuschung, diese schreckliche Enttäuschung! Darum hatte sie also gehofft, geharrt wie ein Narr, monatelang?! Deswegen nicht arbeiten, die Gedanken nicht konzentrieren können?! Ja, ja, Narr, Narr, dreimal Narr!
Was würde Wilhelm sagen? Er war so gewiß, so siegessicher, er hatte das Stück gelesen und war begeistert. »Es kann ja gar nicht anders sein,« hatte er gesagt, »es muß gleich angenommen werden.«
Ihr Gesicht verzerrte sich in Schmerz. Das wurde nie angenommen, nie! Das war schlecht, das war erbärmlich! Warum redete Wilhelm ihr so etwas vor, er tat es doch nur, um sie zu beruhigen. Hätte er lieber das Gegenteil behauptet, die Enttäuschung wäre nicht so furchtbar gewesen. Eine zornige Lust überkam sie, mit ihm zu schelten. Sie wollte ihm nach, hin auf die Bank, ihn – ja, was wollte sie denn eigentlich?! Wie zerbrochen sank sie auf den nächsten Stuhl. Sie weinte sich die Augen rot und ging umher, als sei ihr das Liebste gestorben; sie brachte die Stunden hin in dumpfem Brüten, bis er endlich wiederkam.
Sie sprach mit ihm, als habe er sie persönlich beleidigt. »Du hast auch gesagt, mein Stück wäre gut, und nun, nun … es ist zurückgekommen … lies, da!« Sie reichte ihm den Brief.
Er las ihn und legte ihn dann wieder in dieselben Kniffe. Sie starrte ihren Mann an – nicht einmal seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert, er war nicht rot und nicht blaß geworden, und er lachte. Er konnte lachen?!
»Und dein Stück ist auch gut!« sagte er dann und streichelte ihr sanft die Wange. »Ich kenne dich ja gar nicht mehr! Was hat das zu bedeuten: eine abschlägige Antwort?!«
»Ich habe keine Hoffnung mehr«, sagte sie tonlos und senkte den Kopf immer tiefer und tiefer.
»Was ist aus dir geworden?!« Eine plötzliche Ergriffenheit sprach aus seiner Stimme. »Das Warten hat dich nervös gemacht. Wer weiß, morgen schon schreibt vielleicht ein anderes Theater und nimmt es an.« Nun war es wirklich keine trostreiche Redensart mehr, er sprach aus innerster Überzeugung. »Ich weiß es gewiß, du wirst siegen. Mut, nur kurze Zeit noch Mut!« Er sprach so herzlich und sah ihr so innig in die Augen; sie schöpfte noch einmal Mut, für kurze Zeit.
Als hätten sie sich alle miteinander verschworen, so liefen nun die Antworten der Theater ein. An fünf hatte man's geschickt, fünf schickten's auch wieder zurück. Die Begleitbriefe waren mehr oder minder freundlich, Redensarten ohne Belang. »Bedaure sehr, mit Stücken überhäuft zu sein …«, »leider an eine Aufführung wegen des überaus modernen Sujets nicht zu denken …«, »ein schönes Versprechen für die Zukunft, falls die geschätzte Autorin andere Wege einschlägt …«, und so weiter.
Der eine schrieb kurz, der andere länger; es kam alles auf dasselbe heraus: zurück!
Elisabeth las die Briefe nicht zu Ende, nur immer die ersten Worte, dann hatte sie genug. Sie war krank, nicht nur seelisch, auch ihr starker Körper wollte nicht mehr Widerstand leisten; dieses Warten, dieses monatelange Harren hatte die Nerven aufs äußerste angespannt, nun rissen die Fäden. Nun begriff sie Erdmann: ein Erfolg, nur ein Erfolg, nur der macht wieder gesund!
Sie schleppte sich am Arm ihres Mannes zu Maier; konnte der denn nicht helfen? Sie ging allein in sein Bureau; Ebel wartete unten, er mischte sich grundsätzlich nicht in ihre literarischen Besprechungen.
Er wartete lange. Immer hin und her marschierte er auf dem Trottoir. Frühlingssonnenschein spielte auf den grauen Steinen und vergoldete sie; da war nichts mehr von Wintertrübe und Winterrauheit in der Luft, ein warmes, lindes Wehen kam gezogen und umschmeichelte das Herz mit sanftem Flügelschlag. Ebel fühlte es, es strömte plötzlich ganz in ihn über mit einer zauberhaft schnellen Freudigkeit. Machte es das Grün in den Vorgärten, das rosige Blühen der kleinen Mandelbäume? Im Getriebe des Alltags, in den täglichen Sorgen, im Gram seiner Häuslichkeit, in den getäuschten Hoffnungen hatte dieses Gefühl oft entschwinden wollen, in der letzten Zeit glaubte er es völlig fort; nun war es wieder da.
Er sah sehnsüchtig nach den Fenstern – wenn sie doch jetzt herunterkäme! Wie eine Eingebung kam es plötzlich über ihn – sie mußte fort von hier, fort aus diesen durchlärmten Straßen, den hohen Häusern, diesem Stein- und Menschenmeer, hinaus in Luft und Sonne. Sich in irgendeinem Waldwinkel vergraben, nichts von der Welt mehr wissen, nur sich geliebt fühlen – das mußte ihr gut tun!
Er blieb nachdenklich stehen und überlegte: wenn er Urlaub nähme und mit ihr und dem Kinde fortreiste, in ihre Heimat vielleicht?! Sie sprach in letzter Zeit viel von den blauschimmernden Kiefernwäldern und den niedrigen Dorfhütten und hatte dabei stets ein eigentümliches Flimmern in den Augen; er glaubte ihrer Stimme eine gewisse Sehnsucht anzuhören. Ja, das würde ihr gut tun, in der heimatlichen Natur würde sie gesund werden! Bessere Zeiten würden kommen, ach ja, bessere Zeiten!
Es war kein selbstisches Empfinden, was ihn seufzen ließ; er dachte nur an sie. Er sah, wie sie sich quälte, und er litt mit ihr. Hilflos dabeistehen und sehen, wie ein geliebtes Wesen leidet, das ist doppelt schwer. Er nahm den Hut ab und ließ den weichen Frühlingswind um seine heiße Stirn fächeln. Es würde schwer zu machen sein, ein Haushalt hier, ein Haushalt dort – aber es mußte gehen. Er rechnete und rechnete.
Da kam sie; er erschrak über ihre finstere Miene.
»Weißt du was, Elisabeth,« sagte er und trat hastig auf sie zu, »sowie es warm ist, wollen wir fort von hier! Ich werde um Urlaub bitten.«
Sie sah ihn erstaunt an.
Er nickte und lächelte. »Ich sehe es gar nicht ein, warum du nicht einmal dahin kommen sollst, wohin du dich doch sehnst.«
»Woher weißt du das – woher?«
»Ich weiß es.« Weiter sagte er nichts, aber sie errötete – merkwürdig, wie er sie durchschaute! Es wurde ihr fast unbehaglich.
»Ich kann nicht fort,« sagte sie rasch, »erst muß mein Stück aufgeführt sein. Es ist mir nun klar, ich muß es durchsetzen, koste es, was es wolle!«
»Ruhe dich erst aus, schone dich und fange dann mit frischen Kräften an!« bat er.
»Nein!« Eine hartnäckige Zähigkeit zeichnete sich um ihre Mundwinkel. »Nein, erst das Stück, dann die Erholung. Wie könnte ich ruhig sein, wenn sich mein Schicksal nicht entschieden hat. Wenn einer zum Tode verurteilt ist und man läßt ihn angebunden auf dem Henkerblock noch eine Stunde leben, was hat er dann von dieser Stunde Leben? Ich danke dir!« Sie nahm seinen Arm und drückte ihn. »Nachher, nachher so gern, aber erst das Stück! Maier sagt, ich muß …« Sie brach ab und sah ihren Mann düster und zerstreut an. »Geh nach Hause, Wilhelm, ich muß noch einen Gang machen.«
»Soll ich dich nicht begleiten?« fragte er besorgt; sie sah so blaß aus.
Sie richtete sich straff auf, in jeder Muskel trotzige Entschlossenheit. »Du kannst mir nicht helfen, ich muß allein gehen.«
Sie trennten sich. Er ging ohne Widerspruch, er wußte, der reizte sie nur; aber an der Ecke drehte er sich noch nach ihr um – da stand sie und sah ihm nach. Ihre Blicke begegneten sich, rasch kam sie noch einmal zurückgelaufen, faßte seine Hand und sah ihm in die Augen. »Du bist sehr gut!« – –
*
Herr Eugen Goedecke wohnte Klopstockstraße 90. »Sprechstunde 5–7 Uhr«, stand an der Tür. Breite, marmorne, mit roten Läufern belegte Treppen führten zum zweiten Stock; auf jedem Treppenabsatz stand eine Palme vor dem Butzenscheibenfenster und ein altdeutsches Stühlchen darunter.
Als Elisabeth klingelte, öffnete ihr ein niedliches Mädchen in Hamburger Häubchen und rosa Kleid. Auf einem silbernen Tablettchen nahm sie die Karte in Empfang; ganz wie in großen Häusern.
»Herr Goedecke läßt bitten!«
Es öffnete sich ein pompös eingerichtetes Zimmer mit Smyrnateppich, geschnitztem Paneelsofa, schweren Übergardinen und vielen Ölbildern. Lauter Porträte von Verwandten, man sah es an den seidenen Kleidern der Damen, an der Behäbigkeit der Herren mit dem dicken Siegelring am Zeigefinger. Überall Nippes und Kunstgegenstände, bunt durcheinandergestellt; Goedecke hatte die Manie, auf allen Auktionen zu kaufen. Da waren Meißener Tassen und Schäferpaare, da Tanagrafiguren, da bronzene Statuetten, da Gipsbüsten, da venezianische Gläser; auf dem Tisch vor dem Sofa eine riesenhafte Alabastervase mit künstlichen Blumen.
»Womit kann ich dienen?« Goedecke kam aus dem Nebenzimmer gerannt; er schien Nachmittagsschlaf gehalten zu haben, seine linke Wange war dunkelrot und zeigte den Abdruck eines gestickten Kissens. »Lange nicht jesehn! Wollen Sie sich nicht placieren?!«
Er hatte es nun einmal im Griff, diensteifrig die Sessel zu rücken. Im stillen überlegte er: was wollte die eigentlich von ihm, tauchte die auch mal wieder auf? Etwas wollen wollte sie. Er setzte sich in Positur.
Elisabeth sah ihn an. In den drei Jahren war er noch röter geworden, noch aufgeblasener; es wurde ihr schwer, die Worte zu finden. Ohne jeden Übergang sagte sie: »Ich wollte sie um Ihren Rat bitten, Herr Goedecke.«
Aha! Er rieb sich die Hände.
»Ich weiß nicht, ob Sie etwas von mir gelesen haben, ich …«
»Na, erlauben Sie mal!« Das ging doch nicht anders, wenn jemand seinen Rat wollte, mußte Goedecke liebenswürdig sein, das war ihm angeboren. »Ich bin doch kein Prolet!« Er tat ganz beleidigt. »Ich jehe mit der jesamten Produktion unserer modernen Literatur Hand in Hand. Ich die geschätzte Autorin von ›Einfache …‹, ›Einfache …‹« Er konnte nicht gleich auf den Titel kommen, zum Glück war ihm noch die Hälfte davon eingefallen. Nun verbarg er das Fehlende unter einem gekränkten: »Hm, hm – nicht kennen?! Apropos, da war ich vorigen Sommer in Pontresina, habe lebhaft an Sie jedacht, habe da einen Stoff jefunden – Landleben, Stallduft, Sennerin, Messerstiche und so was –, jroßartiger Stoff, janz was für Sie!«
»Sie sind sehr gütig!« sagte Elisabeth mit eigentümlich ironischer Bedeutung; am liebsten wäre sie aufgestanden und fortgegangen. Aber was half's? Sie brauchte ihn. Konnektionen, Konnektionen allein, hatte Maier gesagt. Sie fühlte, daß sie rot wurde; sie schämte sich. »Ich habe ein Stück geschrieben«, sprach sie dann leise.
»Nanu? Sie …?!« Er sah sie unter hochgezogenen Augenbrauen an. »So. Das ist ja sehr nett.«
»Es soll gut sein.« Der Stolz kam ihr. »Leute, die viel verstehen, haben es mir gesagt.«
»So.« Er stützte das glattrasierte Kinn in die Hand und sah wichtig drein. »Hm. Es jibt heutzutage vielleicht im janzen fünf, sagen wir sechs Leute, die ein Drama zu beurteilen verstehen. Hm.«
»Es ist gut!« Mit einer hoheitsvollen Gebärde hob sie den Kopf und sah ihn mit ihren düsteren grauen Augen an, als wollte sie ihn zu Boden schmettern.
Er wurde ganz klein. »Sie sind ja janz exzeptionell bejabt, habe ich ja immer jesagt: starke dramatische Ader. Jewiß sehr interessant!« Er spitzte den Mund.
»Würden Sie es lesen?« fragte sie. Sie hätte lieber gleich sagen sollen: »Sie werden es lesen!«, so befehlend war ihr Ton. Sie ließ den Blick nicht von ihm.
Sie imponierte ihm. Donnerwetter, hatte die ein paar Augen! Er wurde geschmeidig. »Lesen? Ich bitte Sie, mit Verjnüjen!« Er legte die Hand aufs Herz. »Mir 'ne Ehre. Wieviel Stücke habe ich nicht schon protegiert! Und das muß ich sagen, ich habe mich nie jeirrt. Schwertfeger hat den Sukzeß mit der Starzynska auch nur durch mich jehabt. Kassenstück – Kassenstück!«
»Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mein Stück lesen wollten.« Sie zwang sich, eine gewisse Verbindlichkeit in ihren Ton zu legen. »Vielleicht, daß Herr Direktor Schwertfeger dann …«
Goedecke zog die Achseln hoch. »Schwertfeger ist sehr schwierig!« Er wiegte den dicken Kopf bedenklich hin und her. »Aber na, wollen mal sehen!«
»Direktor Schwertfeger hat das Stück bereits gehabt, aber mein Verleger Maier sagte mir, daß ich mich trotzdem durch Sie noch einmal an ihn wenden sollte.«
»Hat er das jesagt? Sagte er das? So.« Über Goedeckes Antlitz glitt ein geschmeicheltes Lächeln.
»Der Direktor schrieb mir nicht, warum er es abgelehnt hätte.«
»Jott, meine verehrte Frau, er hat es jar nicht jelesen. Ich kenne Schwertfeger, er schiebt jerne auf die lange Bank. Und dann,« Goedecke zwinkerte ihr vertraulich zu, »entre nanu, er hat keine Ahnung, keine Initiative. Mit Wadler, seinem Regisseur, arrangiere ich alles!«
Elisabeth erhob sich. »Ich schicke Ihnen also mein Stück, Herr Goedecke.«
Ihre großen Augen sahen ihn an mit einem seltsam verwirrenden Blick. »Und wenn es Ihren Beifall hat, dann …«, sie verzog keine Miene, nur ihre Nasenflügel zitterten leicht, »dann … dann …«
»Na, dann«, lachte er, »verlassen Sie sich janz auf mich. Wird Schwertfeger jesteckt! Meinen Freund Wadler, den«, er schlug sich auf die Tasche, »hab' ich hier.« Er hielt ihr siegessicher die Hand hin. »Also schicken Sie mir man jleich das bewußte Opus. Morjen, übermorjen schon werde ich mich dafür einsetzen. Aber nur, wenn es meinen Beifall hat!«
Als Elisabeth die Treppe hinunterstieg, mußte sie sich am Geländer festhalten, das Blut sauste ihr in den Ohren; es war ihr glühend zu Kopf gestiegen und legte ihr einen Schleier mit roten, tanzenden Punkten vor die Augen. Nein, so konnte sie nicht nach Hause gehen! Sie fühlte die klaren Augen ihres Mannes auf sich gerichtet und hörte ihn fragen: »Wo warst du?« Sollte sie ihm sagen, bei Goedecke, bei diesem … diesem …! Sie hatte selbst in übermütigen Stunden über ihn gespottet, und nun hatte sie bei ihm – gebettelt!
Eine grenzenlose Scham kam über sie; sie hätte sich auf das Trottoir hinwerfen und rufen mögen: »Tretet alle auf mich! Ich bin nichts anderes wert, als euch unter die Füße zu kommen!«
Wie auf der Flucht jagte sie die Straße hinunter. Nur fliehen, fliehen vor sich selber, das eigene Ich loswerden, dies verzweifelte, gemarterte Ich! In allem Kummer, in allen Enttäuschungen war wenigstens der Stolz geblieben, der Stolz auf sich selber – nun war auch der dahin! Sie wagte die Augen nicht aufzuschlagen: sahen ihr denn nicht alle die Demütigung an? Sie war unten, ganz tief unten. Gehetzt, gepeitscht, rannte sie davon, sie selbst wußte nicht, wohin. Ihre Kleider flatterten im Frühlingswind; die Vorübergehenden sahen ihr nach.
Nun war sie im Tiergarten. Weiter, weiter. Immer dichter wurde der Park, verstohlener die Wege. Oh, sich wie ein wundes Reh im Dickicht verbergen und da verbluten, verbluten ungesehen!
Jetzt kreuzte sie die Fahrstraße zum Neuen See; viele Leute spazierten, eine Equipage rollte heran, Elisabeth mußte zur Seite treten. Zwei Damen saßen darin; die eine mit eleganter Einfachheit gekleidet, die andere auffallend in jugendlich hellen Farben und blumenbeladenem Hut. Es durchfuhr Elisabeth.
»War das nicht die Reinharz?« fragte Wlodzimira Starzynska ziemlich laut und drehte sich neugierig um.
»So?« Eleonore Mannhardt zeigte kein Interesse.
Die Einsame am Weg, der die sich drehenden Räder den Staub ins Gesicht wirbelten, hatte die Worte gehört. Oh, Marter auf Marter! –
Schaudernd sah Elisabeth sich um: jetzt hatte sie die betretenen Wege verlassen, ganz allein ging sie auf dem schmalen Pfad am Wasser, ein feuchter Dunst stieg zu ihr auf, und im Gebüsch lagerten noch die gestorbenen Blätter des vergangenen Jahres und moderten. Tot, tot sein wie sie! Tiefer wurden die Schatten des Abends, der Seespiegel zeigte sich dunkler und dunkler an den Rändern; der Pfad war kaum erkennbar.
Eine ungeheure Todessehnsucht kam auf den Schwingen dieser feuchten Luft. Sie stieg aus der schwarzen Tiefe auf mit verführerischen, lockenden Armen. Sie flüsterte im Rauschen der Bäume.
Sonst kein Laut, kein Ruf, kein Fußtritt.
Sterben, sterben! Elisabeth stand unten am Wasser und starrte hinein, und dann irrte ihr Blick geistesabwesend in die Runde. Kein Mensch … ruhig der See, ruhig der Himmel … aber da … da … ihr starrer Blick belebte sich, ihr steinernes Gesicht zeigte eine Regung: da zog ein Stern auf, blaß, kaum sichtbar am noch nicht ganz dunklen Himmel. Da stand er.
»Mein Stern!« Halb stöhnend, halb schluchzend kam es über ihre Lippen; sie wankte auf den Weg zurück, ihre Füße waren so schwach, aber sie mußte voran, sie mußte. Taumelnd erreichte sie die nächste Bank und sank darauf nieder. – –
Ebel wartete lange auf seine Frau; immer wieder sah er nach der Uhr – wo blieb sie? Er sah zum Fenster hinaus und schaute nach jeder Seite. Es war dunkel auf der Straße. Der kleine Wilhelm war längst zu Bett gebracht worden, der Vater ging und blickte auf das schlafende Kind nieder. Er hatte sich hierher geflüchtet; hier fand er einen Anhalt in der Unruhe, die ihn gepackt hielt, hier mußte er stillstehen, hier konnte er nicht hin und her rennen, immer auf und ab. Wo blieb sie? Er suchte sich in die Züge des ruhigen Kindergesichts zu vertiefen – – so unentwickelt, so inhaltsleer, und doch für ihn eine ganze Welt. Sein Glück. Er wagte nicht, es sich einzugestehen: sein einziges Glück!
Er beugte sich nieder und sog den Atem seines Kindes ein. Wer so ruhig atmen könnte! Wo blieb sie? Eine Angst um sie erfüllte ihn, ihm war, als schwebe ein Unheil über ihr, als müsse er sie halten und schützen.
»Ich werde nervös«, murmelte er und strich sich über die Stirn. Da – er fuhr zusammen –, es hatte geklingelt, sie war's!
»Gott sei Dank!« Er trat ihr entgegen und zog sie in die Stube. »Wo warst du so lange? Du bist ja ganz blaß, ganz kalt! Ich habe mich geängstigt.«
»Geängstigt?« Sie sah ihn mit einem eigentümlich leeren Blick an. »Du hast dich geängstigt?« wiederholte sie; ihre Stimme klang ganz tonlos. »Das tut mir leid.« Sie reichte ihm die Hand, aber es war kein Druck in der Berührung dieser eiskalten Finger; schlapp entglitten sie seinem Griff wieder. »Sei so gut, packe heute abend noch mein Stück ein,« sagte sie, immer mit der gleichen Tonlosigkeit, mit demselben leeren Blick, »es muß an Herrn Eugen Goedecke geschickt werden, Klopstockstraße 90. Ich war eben bei ihm.«
»Bei Goedecke?!« Er sah sie verwundert an.
»Jawohl.« Für einen Augenblick stockte ihr der Atem; sie wurde noch bleicher. »Ich habe ihn um seine Protektion gebeten.«
»Du …? Ihn …?!« In Ebels Gesicht stieg langsam eine Röte. »Du machst wohl Scherz?« Sein Blick ruhte durchdringend auf ihr.
»O nein! Ich habe um seine Protektion gebeten, Herrn Goedeckes Protektion!« Sie betonte jede Silbe und verschmähte es, einen milderen Ausdruck zu wählen. Noch einmal sagte sie: »Herrn Goedeckes Protektion. Ich brauche Protektion.«
Ebel setzte sich schwer auf den Stuhl am Tisch. »Du um Protektion bitten?! Und bei diesem Gecken, den du selber für nichts hältst?!« Er stützte den Kopf in die Hand. »Das tut mir sehr leid.«
»Packe nur das Stück ein,« sagte sie, »es hilft nichts mehr.« Sie biß die Zähne aufeinander.
Er sah sie ernst und traurig an. »Das hättest du nicht tun dürfen, Elisabeth!« Seine Stimme klang strenger, als sie sie jemals gehört hatte. »Du stehst zu hoch, um dich so zu demütigen. Früher warst du stolzer. Wie konntest du … Protektion … und von … Goedecke!« Er faßte sich an den Kopf. »Wie konntest du das tun?«
»Konntest du … konntest du …«, sprach sie ihm nach. »Stolzer?! Hahaha!« Sie lachte grell auf. »Du hast keine Ahnung, was weißt du von der Kunst?!« Sie stemmte beide Hände auf den Tisch, beugte sich vornüber und starrte ihren Mann mit glühenden Augen an. »Die frißt einen mit Haut und Haar, sage ich dir; mit allem, was an einem ist. Die saugt einem das Mark aus den Knochen. Da,« sie streckte ihre beiden durchsichtigen Hände aus, »das sind nicht mehr meine Hände, meine Arme, mein Kopf, meine Brust, mein Herz,« mit fieberhafter Geschwindigkeit tastete sie an sich herum, »alles gehört ihr, alles! Oh,« sie fuhr sich mit einem Stöhnen nach den Schläfen, »sie macht einen unbarmherzig gegen sich selbst, gegen andere. Man geht über Leichen. Man hat keine Ehre mehr, keinen Stolz, kein Gewissen. Sie macht einen zitternden, hündischen Sklaven aus einem, sie macht einen toll, rasend!« Sie beugte sich immer weiter über den Tisch, in ihren Blicken schien sich der Wahnsinn zu entzünden, rastlos fuhren ihre Augen hin und her. »Glaubst du, ich, ich selbst bin es gewesen, die da hingegangen ist und gebeten hat und Protektion erbettelt? Meine Füße wollten nicht – sie wurden gezwungen. Schritt für Schritt mußten sie machen … mußten … sie gingen die Treppe hinauf … sie standen vor der Tür … sie traten in die Stube. Und dieser Mund, wollte der sprechen? Er mußte. Die Zunge rührte sich, die Lippen formten Worte, die Stimme gehorchte – – ich mußte, ich mußte!« Sie wußte nicht mehr, was sie sprach; die Leidenschaft riß sie fort. »Ich würde mich noch mehr demütigen,« schrie sie, »ich würde sogar zu Eisenlohr gehen, ich würde zu Frau Mannhardt gehen, ich würde alle bitten, alle! Ich bin verrückt, ich weiß es. O Gott, nur ein Erfolg! Ich bin besessen, ja, ich bin schlecht!« Sie schrie es laut in wilder Selbstanklage, ihr blasses Gesicht stierte unheimlich, jede Fiber an ihr zitterte; ihre hohe Gestalt duckte sich tiefer und tiefer. »Oh, ich bin schlecht, ich bin erbärmlich!«
»Elisabeth!« Er suchte ihren Vorwürfen Einhalt zu tun. »Du sollst nicht so sprechen. Du versündigst dich, du bist krank, du …«
Sie überschrie ihn. »Ich möchte sterben, hörst du, sterben! Aber sie läßt mich nicht sterben – ich muß leben. Immer gepeitscht, immer gehetzt, immer gequält, unglücklich … verzweifelt …!« Die Stimme versagte ihr.
»Und das ist die Kunst?« Verstört, entsetzt sah er sie an.
» Das ist die Kunst!« sagte sie schneidend.