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Frau Kistemacher und Elisabeth Reinharz begegneten sich auf der Treppe. Es war am frühen Nachmittag. Durch das geöffnete Flurfenster wehte eine verhältnismäßig reine Luft, die Luft des beginnenden Herbstes.
Ein Strom von Duft kam aus dem Körbchen, das Frau Kistemacher trug. Sie hatte Früchte geholt zum Einmachen und war sehr in Eile.
»Du läßt dich ja gar nicht mehr bei uns sehen!« rief sie. Und setzte in spitzem Tone hinzu: »Deine neuen Beziehungen nehmen dich wohl ganz in Anspruch?«
»Ich war ja erst gestern bei euch.« Elisabeth sah sie ganz verdutzt an.
»So …? Ach richtig, zwei Minuten. Ich muß dir sagen, liebe Elisabeth, mein Mann ist sehr gekränkt, und auch mit vollem Recht. Früher kamst du und fragtest um jede Kleinigkeit; es sind noch kaum fünf Monate her, da trautest du dich nicht etwas einzureichen, ehe Hans sein Urteil darüber abgegeben hatte.« Sie war ganz rot geworden und hatte Tränen in den Augen. »Wir meinen es immer gleich gut mit dir, ich will auch gar nicht persönlich werden. Aber wir finden deine letzte Geschichte – mein Mann hat sich natürlich gleich die Nummer der ›Jugend‹ gekauft – lange nicht so gut, wie du früher schriebst. Du hättest besser getan, sie Hans vorher zu zeigen.«
Elisabeth hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Gerade diese Arbeit war gut, das fühlte sie. Empfindlich sagte sie: »Da steht ihr ziemlich vereinzelt mit eurem Urteil da; sie sagen alle, daß die Novelle gelungen ist.«
Frau Julie stellte das Körbchen auf die Stufen und schlug die Hände zusammen. »Daß du das noch glaubst, was die Leute sagen! Ich habe Urteile hinter deinem Rücken gehört – aber ich will dich nicht ärgern. Wir haben all unsere Bekannten für dich interessiert, nun kommt jeder und sagt mir seine Meinung. Ich fürchte, der Kreis, in dem du dich jetzt mit Vorliebe bewegst, hat keinen guten Einfluß auf dein Schreiben. Ich bin deine Freundin und meine es wahrhaftig gut mit dir und hätte es dir längst sagen sollen!« Frau Kistemacher sprach nicht mehr gereizt, sondern im Ton wirklicher Bekümmernis.
Elisabeth stand betroffen – war das wahr, ließ sie denn nach? Ein glühendes Rot färbte ihre Wangen, und ein Schreck durchfuhr sie.
Frau Julie schlang den Arm um sie.
»Es ist wahrhaftig nicht gut, daß du so viel mit diesen jungen Literaten verkehrst. Die mögen ja sehr talentvoll sein, aber verrückt sind sie alle, das mußt du doch sagen. Und so frei! Es ist mir schrecklich, daß du dazwischen steckst ohne jeden Schutz.«
»Ich brauche keinen Schutz.« Elisabeth machte sich von dem sie umschlingenden Arm frei. »Du beleidigst meine Freunde.«
Finster sah sie vor sich hin.
»Na, sei nur nicht gleich böse!« Frau Julie streichelte sie. »Die Leute reden dir eben so viel vor, daß du die Wahrheit gar nicht mehr vertragen kannst. Aber was sie wirklich denken, das sagt dir keiner. Ich habe vorgestern die ganze Nacht nicht schlafen können, als ich dich abends noch mit dem Heider fortgehen sah. Ich traue dir freilich einen besseren Geschmack zu – so ein häßlicher Mensch! Aber was denken die Leute? Mit 'ner Schriftstellerin nimmt man's ja nicht so genau, aber du wirst dich doch am Ende mal gut verheiraten wollen. Was nutzt dir sonst die ganze Schreiberei? Wenn du mal gern ausgehen willst, sag's, mein Mann und ich begleiten dich gern. Wahrhaftig, Elisabeth,« sie sah das Mädchen an wie ein Kind das Spielzeug, das man ihm entreißen will, »wir meinen es am besten mit dir!«
»Das weiß ich.« Elisabeth gab ihr hastig die Hand. Sie fühlte plötzlich eine quälende Verstimmung. Sollte Frau Kistemacher recht haben mit dem, was sie da im Ton aufrichtiger Teilnahme sagte? Nein, nein – Elisabeth mußte lächeln – nichts als Eifersucht! Zum erstenmal hatte die sich gezeigt auf dem Fest bei Kroll. Aber es war ja nur Liebe, wirkliche Freundschaft, die diese Eifersucht hervorrief; warum also die guten Menschen kränken?
Ihr Ton klang versöhnlich, als sie sagte: »Soll ich morgen abend zu euch kommen, paßt es – dir?« Das »Du« wollte immer noch schwer über ihre Lippen. Mit wem alles nannte sie sich nicht »du«! Mit Leonore Mannhardt, mit Alinde Rosen, mit der Starzynska. Wenn das so weiterging, hatte sie bald ein Dutzend Duzschwestern.
Frau Julie war jetzt vollständig versöhnt. Sie machte keine einzige Bemerkung, als das Mädchen auf ihre Frage: »Wohin gehst du?« antwortete: »Heider will mir entgegenkommen, wir machen mit seinen Freunden eine Partie.« –
Langsam ging Elisabeth über die Straße. Die große Freudigkeit, mit der sie sich zu dem heutigen Ausflug gerüstet hatte, war verschwunden. Sie hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge; immer noch hörte sie Frau Kistemachers etwas scharfes Organ.
War es denn wirklich so? Brauchte sie einen Schutz? Ihr Leben seit dem Frühjahr schoß mit Blitzesschnelle an ihr vorüber. Da war ihr reger Verkehr im Mannhardtschen Hause – jetzt war Leonore ins Bad gereist, vergeblich hatte der Strohwitwer sie gebeten, ihn zuweilen in seiner Einsamkeit zu besuchen –, da waren die Besuche auf Redaktionen, dieses Warten in Vorzimmern. Da war eine Szene im dunklen Wagen in stürmischer Gewitternacht, die sich immer und immer noch nachts in ihre Träume mengte und sie anekelte. Da war vor allem zuweilen ein Sicheinsamfühlen mitten unter vielen Menschen. Auch bei der Arbeit überkam sie dies Gefühl der großen Einsamkeit. Wie schön mußte es sein, dann, wenn die quälenden Gedanken kamen, wenn das Ringen nach Gestaltung Seele und Körper erschütterte, hingehen zu können und den heißen Kopf an eine treue Brust zu betten. Man hört den Schlag des einzigen Herzens, das einen ganz versteht. Man fragt, man zweifelt: »Wird es gelingen?« Und jenes Herz antwortet: »Ja!«
Wo war dieses Herz? Wie eine bange Frage lag es in den Mädchenaugen, sie strahlten nicht mehr so hell. An den langen Sommerabenden saß Elisabeth oft am Fenster, stützte den Arm auf und blickte zu den Sternen. Eine Flucht von Gedanken, ein Heer von Zweifeln jagte durch ihren Kopf. War das ihr Stern, der da oben funkelte? Würde sie ihn erreichen? Niemand antwortete.
Sie arbeitete viel. »Viel zuviel!« brummte Mile.
»Immer noch nicht genug, mehr, mehr!« stachelte Leonore. »Du bist auf dem besten Wege, berühmt zu werden. Sowie dein Buch heraus ist, gebe ich ein Diner.«
Und Mannhardt sagte:
»Wenn dein feiner Geist, liebe Leonore, sich mit dem Temperament von Fräulein Reinharz verbände, könnte ein geradezu hervorragendes Werk entstehen. Weißt du was, Lorle, nächstes Frühjahr, oder auch noch im Winter, entführen wir Fräulein Reinharz in irgendeinen entlegenen Winkel. Ihr beide müßt da gemeinsam etwas schreiben.«
»Das wäre herrlich! Eine wunderbare Idee von dir!« Leonore fiel Elisabeth um den Hals. »Wollen wir?«
Elisabeths Gesicht hatte nicht mehr die runde Fülle, die das ruhige Landleben gibt. Die Wangen waren von zarter Röte und ein wenig schmal geworden; ein sehnsüchtiger Hauch lag im Lächeln um die leicht gesenkten Mundwinkel. Sie ermüdete eher, denn sie hatte nicht mehr die unverwüstliche Gewißheit des Erfolges. Was waren all die kleinen Zaghaftigkeiten der ersten Zeit gegen diese Zweifel? Damals konnte ein einziges anerkennendes Wort, Herrn Kistemachers Lob schon, sie in alle Himmel erheben.
Und jetzt? Sie hatte Nächte, in denen sie sich schlaflos umherwarf. Ihr Kinderschlaf, den sie bis dahin immer noch bewahrt hatte, kam nicht mehr; er war weggeflogen, weit weg, vertrieben vom Lärm der Großstadt, verscheucht von den Menschen. Sie kamen alle und drehten die Seele des Mädchens zwischen ihren Fingern und wollten sie formen wie Wachs, je nach Belieben. Das tat weh – und da sollte man ruhig schlafen?
Ja, sie brauchte einen Schutz. Einen, der sich wie eine Mauer zwischen sie und die Welt schob, daß sie deren Geschwätz nicht hörte. Der da wachte, daß sie träumen konnte.
Immer wieder kamen ihr Frau Kistemachers Worte in den Sinn. Was der gute Heider wohl sagen würde, wenn sie's ihm erzählte? Lachen würde er. »Ich pfeife drauf!« Er hatte gut lachen, er war ein Mann und hatte derbe Fäuste, und wenn das Wasser ihm bis an die Kehle ging, schwamm er durch. Ach, sie empfand die ganze Unzulänglichkeit des Weibes.
Die Herbstsonne schien warm, aber nicht heiß. Die elegante Welt von Berlin war noch in den Seebädern und in den Höhenkurorten. Und dennoch hatte Berlin auch jetzt seinen Reiz. Elisabeth fühlte die Luft durch die breiten Straßen streichen; die waren weniger lärmend als sonst. Arbeiter lagen ruhig zwischen aufgerissenem Pflaster und schliefen, Kinder spielten vor den Häusern; auf allen Balkonen leuchteten Blumen, Geranien und buntgefärbter wilder Wein. Vor den Obstkellern Körbe voller Früchte, blaue Pflaumen, goldige Birnen und rötliche Äpfel und schon Trauben und Nüsse. Umsurrt von Bienen, umschwebt von lockendem Duft, gaben sie ein Stück Poesie. Sie erzählten vom Land, von der Freiheit draußen, wo die Obstbäume auf grünen Wiesen stehen, wo der Wind sie schüttelt und die reifen Früchte ins Gras wirft.
Elisabeth erinnerte sich ihrer Kindertage mit einer sonst nie empfundenen Weichheit. Wäre sie doch nie fortgegangen aus ihrer Stille! Was war das nur heute? Immer stiegen ihr Tränen in die Augen.
An der Bülowstraße traf sie mit Heider zusammen. Er sah sie an mit seinen braunen Augen wie ein treuer Neufundländer seinen Herrn. Er fühlte sofort, da stimmte nicht alles. Sie hatte sich mit Sorgfalt gekleidet und trug ein helles Kleid, aber ihr Gesicht paßte nicht dazu.
Er ging neben ihr her und sah sie von der Seite an, sie beobachtend. Sie war so ernst; er wurde unruhig und biß sich den Schnurrbart. War sie böse auf ihn? Er war zu spät gekommen, jawohl, aber ein guter Bekannter, ein Freund von früher, hatte ihn aufgesucht; sie waren ins Plaudern gekommen, dann hatte er den Freund aufgefordert, an der Partie teilzunehmen. Sie würde doch nichts dagegen haben?
Zerstreut schüttelte sie den Kopf, es war ihr ganz gleichgültig.
Auf dem Großgörschen-Bahnhof sollten sie die anderen treffen, die waren direkt dorthin gekommen.
Ganz draußen, wo die Grunewaldstraße nach Wilmersdorf zu ins öde Feld führt, da wohnten sie alle. Ringsherum Proletariat. Arbeiter, die mit der frühen Morgenstunde ausrücken, spät abends heimkehren; bleichsüchtige Mädchen, die in die Fabriken gehen; unzählige Kinder auf dem Trottoir. Wo die Häuser enden, ist flaches Feld, die sandige Erde mit Scherben und Schutt vermengt. Hie und da ein Stückchen Drahtumzäunung und eine Bretterlaube; ein paar rotblühende Bohnen, kümmerliche Salatstauden und dürftige Rüben, von Unkraut halb erstickt – ein Garten der Armut.
Elisabeths Gesicht war ernst gewesen, seltsam bänglich, als sie zum erstenmal diese lange Straße hinunterschritt, um Fräulein Marie Ritter einen Besuch zu machen. Heider hatte sie dringend darum gebeten. »Ich muß Sie mit unserer Mutter Maria bekannt machen, Fräulein Reinharz«, hatte er gesagt. »Eine famose Frau! Was Sie von ihr lernen sollen, ist nicht die Kunst, ein gutes Buch zu schreiben, es ist was anderes. Ich sage Ihnen weiter nichts, Sie haben ja selbst Augen.« Er lächelte nicht ohne Sarkasmus. »Was freilich das Urteil vieler über Fräulein Ritter anbelangt …«, er zuckte die Achseln und pfiff. Und dann bekam seine Stimme den Klang einer innigen Verehrung. »Uns ist sie eine Verehrungswürdige, unsere Mutter Maria!«
Was war mit dieser Marie Ritter? Elisabeth hatte nie ihren Namen als Schriftstellerin gehört. Sie erkundigte sich bei Herrn Kistemacher.
»Ritter – Marie Ritter? Kenne ich nicht. Wird wohl das Verhältnis von dem jungen Menschen sein. Bohème!«
Und Leonore hatte bei des jungen Mädchens Frage einen Augenblick nachgedacht, dann in heller Empörung ausgerufen: »Da willst du hin? Das erlaube ich nicht! Schatz, sage du,« ihr Mann war gerade eingetreten, »kann ich's zugeben, daß Elisabeth mit dieser Ritter – du weißt schon, Marie Ritter! – verkehrt?«
»Ach nein!« Mannhardt lehnte energisch ab. »Das ist nichts für Sie, Fräulein Elisabeth! Folgen Sie da nur ganz meiner Frau.«
»Warum denn?« wollte Elisabeth fragen. Leonore schien diese Frage zu ahnen und kam ihr zuvor. »Fräulein Ritter stammt eigentlich aus guter Familie. Nach ihrem Roman, der vor mehreren Jahren großes Aufsehen erregte, hatte ich die Absicht, sie in meinen Salon einzuführen. Wie froh bin ich jetzt, daß ich damals vorsichtig war! Es ist auch nichts aus ihr geworden.« Sie zuckte die Achseln. »Übrigens, du kannst mal ihre Geschichte in einer Novelle verarbeiten – ein ganz interessanter Stoff. Die Starzynska verkehrte mit ihr, hat sich aber auch ganz zurückgezogen.«
Ein geheimnisvoller Schleier wob sich um Marie Ritter. Elisabeth wagte nicht, Heider um Aufklärung zu bitten, aber sie ließ sich mit hinnehmen.
Es war an einem Sommernachmittag gewesen, gegen Abend, als Elisabeth die Wohnung von Fräulein Ritter zum erstenmal betrat. Durch das einzige Fenster der Stube sah man hinaus auf die Öde der Felder. Elisabeth war geblendet; die schlanke Gestalt, die ihr vom Fenster entgegentrat, war ganz in Glanz gehüllt. Draußen sank der große runde Sonnenball hinter die magere Erdscholle. Hier oben im dritten Stock trafen noch die Lichtstrahlen; sie schienen ein stilles, heiliges Feuer entzündet zu haben in dieser beschränkten Häuslichkeit.
Nebenan klang es wie das Schwatzen eines Kindes im Einschlafen – süße, kindlich-frohe Laute.
Marie Ritters durchsichtiges Gesicht hatte einen rosigen Schimmer.
Um den reichen, blonden Flechtenkranz, der ihren Kopf umgab, webte der Abendschein eine Glorie. Also das war die, vor deren Umgang man sie gewarnt hatte? Unendlich sympathisch berührte die sanfte Stimme, und voller Spannung sah Elisabeth in dies Gesicht. Es mußte schön gewesen sein. Jetzt war es verblüht; eingegrabene Linien zogen sich über die Stirn, und an den Schläfen zeigte sich viel Grau im Blond.
Fräulein Ritter hatte eine zurückhaltende und doch herzgewinnende Freundlichkeit; Elisabeths Scheu zerstob. Da war nichts, gar nichts, was ihr mißfallen hätte, sie fühlte sich mit linder, vertrauter Hand berührt in dieser bescheidenen, ein wenig altmodischen Häuslichkeit. Nichts von Zigeunerwirtschaft. Elisabeth hätte lachen mögen, wenn sie an Herrn Kistemacher dachte.
Dann war Jakob Heider gekommen und war beglückt, Elisabeth zu finden. Er brachte eine Wurst zum Abendbrot mit und eine Tüte Kirschen. »Für Heidi«, sagte er.
Erdmann erschien. Hier war er wie von einem Bann befreit; hier war er zu Hause. Er zog ein paar Rettiche aus der Tasche; er hatte kein Geld, um anderes zu kaufen.
Mit ungeheuchelter Freude, wie ein großes Geschenk, nahm Marie Ritter sie an. Es war rührend zu sehen, wie der blasse Erdmann strahlte.
Und nun kam noch Peter Sörensen. »Mein dritter Sohn«, wie Fräulein Ritter sagte. Sie war anmutig, wenn sie lachte, ein Hauch von Jugend schien dann zurückzukehren; und sie lachte beim Anblick des durchfetteten Paketchens, das ihr Sörensen entgegenhielt. »Spickaal!« erklärte er schmunzelnd. Das »Sp« sprach er ganz fein, ganz spitz; er war von der Westküste.
Man hatte Elisabeth nicht fortgelassen, sie mußte zum Abendbrot bleiben; und sie blieb gern. Die drei jungen Leute aßen wie die Wölfe, sie waren gewohnt, hier gedeckten Tisch zu finden. Jeder rechnete es sich zur Ehre, etwas zur Mahlzeit beisteuern zu dürfen. Es hatte Elisabeth lange nicht so gut geschmeckt; dieser Appetit steckte an, und man fühlte, es wurde gern gegeben. Sie sah es wohl, wie Marie Ritter besonders für Erdmann sorgte; der war ihr kränkelnder, der ihrer am meisten bedürftige Sohn.
Elisabeth fühlte den Strom der Mütterlichkeit, der von diesem gewiß schon ältlich zu nennenden Mädchen ausging, das nicht mehr jung war, nicht mehr schön, kein geistreiches Wort sprach. Und doch hingen die jungen Leute an dessen Lippen.
Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um Literatur. Man sprach von Eisenlohr. Elisabeth saß ganz betroffen, als der Name fiel. Da hätte sie auch erzählen können! Aber sie hatte Heider nichts von ihrem Abenteuer gesagt, sie, die sonst so aufrichtig gegen ihn war.
Erdmann schien unruhig, als Eisenlohrs Name genannt wurde. Er rutschte hin und her; plötzlich sprang er auf, seine schwanke, immer vornübergeneigte Gestalt wurde kerzengerade.
»Und das nennt ihr Literatur? Den Instinkten des Publikums schmeicheln? Ihm seine Eitelkeiten ablauschen, sie verherrlichen und dadurch das Wohlgefallen des großen Haufens erbuhlen? Sind das Dichter? Ich sage euch, das sind Verräter an der Kunst. Dem Dichter ist eine Gabe verliehen, die ihn erhebt über viele – aber auch eine Aufgabe. Er soll seiner Zeit den Spiegel vorhalten: ›Seht, so seid ihr!‹«
Erdmann streckte den hageren Arm aus, seine sonst so leise Stimme wurde stark.
Er stand da wie ein Richter, jede Muskel straff; sein Zeigefinger schien die Luft zu durchbohren.
»Und wenn sie nicht sehen wollen, soll er ihnen die Augen aufzwingen. Wenn sie nicht hören, soll er Donnerworte in ihre Ohren schreien. Keulenschläge für die Gemeinen, Verheißungen für die Hoffenden, Trost für die Leidenden. Wir, wir sind, was die Propheten des Alten Bundes waren: wir sind die Stimme Gottes!«
Seine Stimme wurde immer stärker: »Solche Pfuscher, solche Heuchler! Werft sie aus dem Tempel der Kunst, ehe die Kunst selbst sie richtet; denn sie wird richten, ob nach Jahrhunderten, ob nach Jahrtausenden. Die Menschheit wird reifen. Dann werden sie den Tempel stürmen und mit erhobenen Händen flehen: ›Heilige Kunst, vergib uns, jetzt erkennen wir dich!‹ Steinigt die Verräter!«
Elisabeth wagte keinen Atemzug; scheu saß sie, die Hände im Schoß gefaltet. Erdmanns Wangen glühten; seine Augen blickten schwärmerisch, ihr Blau war dunkler geworden, sprühend von einem inneren Feuer.
Er sprach wie im Fieber. »Ich werde hungern und frieren, und ich werde verlacht sein. Wenn ich sterbe, werde ich allein sterben, keiner wird mich zu Grabe geleiten, aber«, er stieß die letzten Worte mit wilder Energie heraus, »ich werde der Kunst immer wahrhaftig dienen!«
»Und du wirst einen Freund haben. Du wirst nicht allein sterben!« Heider fiel ihm um den Hals. »Erdmännchen, was sind das für Gedanken!«
Erdmann schrak zusammen und sah um sich, wie aus einem Traum erwachend. »Entschuldigt,« sagte er leise und setzte sich nieder, »ich hatte mich vergessen.« Er hustete dumpf.
»Und soll ich krepieren wie ein Dorsch auf dem Trockenen,« Sörensen schlug auf den Tisch, »Erdmann hat recht!« Sein blondes Friesengesicht verfinsterte sich. »Und wir werden auch kein Vaterland haben. Aber ›Lewwer duad üs Slaav!‹ Schönredner und Lügner sind wir nicht. Sie haben mich aus Schleswig-Holstein meerumschlungen hinausbugsiert wie schon einen anderen, größeren Dichter vor mir – aber meine Zeit wird auch kommen.«
Er setzte sich fest und zuversichtlich hin, der Stuhl knackte unter ihm.
»Der friesische Dickkopp!« Heider lachte; das Gespräch war ernst geworden, und er bemühte sich, ihm eine heitere Wendung zu geben. »›Pitter‹, wie sie bei uns am Rhein sagen, ›wat fällt dich ein?‹ Ein politisch Lied, pfui, ein garstig Lied! Bleib uns mit der Politik vom Leibe! Was geht die uns an? Wir sind Dichter.« Er hielt sich die Ohren zu, als der andere erwidern wollte. »Ich will nichts hören, stör' mich nicht!
Zu einer Kette füg' ich Lied an Lied,
Von jungen Mädchen, wenn sie still erröten,
Von schmalen Gräbern, wo der Flieder blüht,
Von blauen Wünschen, die im Wind verwehten,
Von Regennächten, da ich wachend lag,
Von Lüften, die ein Hauch herbeigetragen,
Von Träumen und von Nachtigallenschlag
Und einer Sehnsucht, ach, nicht auszusagen …«
Heiders Organ klang voll und weich, er sprach in einem melodischen Rhythmus; wie Musik, in einer zarten Schönheit, schwebten die Verse hin. Er heftete die Augen auf Elisabeth.
»Und einer Sehnsucht, ach, nicht auszusagen …!« Leise wiederholte Marie Ritter die letzte Zeile.
Eine traumhafte Stimmung sank auf alle nieder. Da – plötzlich ein Ruf! Nebenan ein Kinderschrei: »Mutter!«
»Heidi ist aufgewacht.« Marie Ritter war aufgesprungen. »Entschuldigen Sie mich!« Sie hatte sich an Elisabeth gewendet, ein leises Rot war in ihre Wangen gestiegen, ihre Augen sahen offen in des Mädchens verwundertes Gesicht.
Mit einem Lächeln hatte sie gesagt: »Mein Kind ruft mich!«