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5.

Das Sommerfest des »Neuen Frauenwohl« ging zu Ende.

Die Damen des Komitees befanden sich noch in der Künstlergarderobe. Eine jede von ihnen konnte lorbeergekrönt heimgehen, das Fest war glänzend verlaufen, die Einnahme über Erwarten groß.

Das Publikum hatte sich um die Billette gerissen. Jedem war es interessant, so viel hervorragende Persönlichkeiten auf einmal zu sehen. Dazu kam das schöne Wetter, der lauschige Garten – und der gute Zweck. Man zeigte sich die Berühmtheiten.

»Da is er«, hatte eine dicke Frau mit breitem Ring am Finger ihrem Gatten zugeflüstert. Und dann lauter, so laut, daß die Umgebung davon profitieren konnte: »Weißte noch, Emil, wie der Eisenlohr bei uns im Hinterhaus jewohnt hat, in der Alten Jakobstraße, und die Miete nich bezahlen konnte? Nu is er jroß.« Sie nickte befriedigt. »Ich habe ihn wiederjesehen.«

Eisenlohr war der Stern des Abends. Das deutsche Volk liebt seine Dichter und ehrt sie, das zeigte die Popularität, deren Eisenlohr sich in allen Gesellschaftskreisen erfreute. Von höchster Stelle herab wurde er ausgezeichnet, im Salon vergöttert; sein alljährlicher Band prangte auf dem Weihnachtstisch der guten Bürgerstochter.

Auch heute – die begeisterungsprühenden Verse der Eisenlohrschen Dichtung waren kaum verklungen, Fräulein Maschka hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen – brach der Beifall los. Ein nicht endenwollender Applaus.

Als der Dichter vortrat, neuer, stärkerer Beifall. Aber als aus der Wolkendekoration im Hintergrund ein Engel hervorschwebte, den »Fürsprecher der Unterdrückten«, den »Dichter der Frauen« zum Dank mit dem Rosenkranz krönte, brauste ein Sturm los, wie er diesen Theatersaal kaum je erfüllt hatte. Man drängte vorwärts, der Bühne zu, und stürmte ins Orchester zwischen die Musikinstrumente. »Bravo! Bravo!« Man klatschte, man jubelte.

Nicht genug, daß Eisenlohr an der Hand seines Engels sich immer wieder verneigte, man wollte das ganze Komitee haben. Und sie kamen alle. Keiner schien zu wollen, jeder mußte aus seiner Bescheidenheit mit Gewalt hervorgezogen werden. Die Bühne füllte sich mit einem Gewimmel bunter Gestalten, die sich verneigten, lächelten und wieder verneigten.

»Gott sei Dank, daß das so glücklich abgelaufen ist«, sagte Frau Eleonore Mannhardt in der Garderobe mit einem leichten Seufzer. Sie war müde. Ihr Mann hing ihr eben den seidenen Mantel um und packte sie ein wie eine Kostbarkeit. »Elisabeth, du sahst entzückend aus!« wandte sie sich an das junge Mädchen, das schlank und groß am Tisch lehnte.

Elisabeth lächelte verträumt. Ja, es war ein herrlicher, ein wunderbarer Abend gewesen! Sie war wie berauscht. Da auf dem Tisch lagen ihre Flügel, aber – mit einem glänzenden Blick sah sie an sich herunter – sie trug noch das weiße Kleid des Engels. Auf ihrem Haar fühlte sie den Lilienkranz, den weißen Kelchen entströmte süßer, sommerlicher Duft. Alle, alle waren freundlich gegen sie gewesen; Leonore hatte sie mit Liebkosungen überschüttet, Alinde Rosen sie ihre Freundin genannt, Mia Widmann sie ersucht, dem Verein beizutreten, die Starzynska hatte enthusiastisch von der Freude gesprochen, sie kennenzulernen. Die Maschka hatte ihr geraten, ein Stück zu schreiben, dadurch werde man gleich berühmt; sie, die Maschka, würde die Hauptrolle darin spielen. Der große Dichter hatte sie an seinem Arm durch den Saal geführt, Hunderte von Augen blickten sie bewundernd an. Viele drängten sich heran und ließen sich ihr vorstellen. Herr Eugen Goedecke, der die Vorstellung besorgte – er folgte Eisenlohr wie ein Schatten –, verfehlte nie zu sagen: »Ein vielversprechendes neues Talent. Das Buch von Fräulein Reinharz erscheint demnächst bei Maier, das müssen Sie lesen. Ich sage Ihnen, jroßartig, einfach stupend!«

Und Eisenlohr, der ihren Arm leise an sich drückte, sagte: »Kommen Sie zu mir, ich werde Ihnen gern behilflich sein.«

Wie gut sie alle waren! Elisabeth fühlte einen Strom warmer Dankbarkeit durch ihr Herz rinnen. Sie hätte die Arme ausbreiten, die ganze Welt an die Brust drücken mögen. Eine unbeschreibliche Hoffnungsseligkeit verklärte ihr Gesicht, ihre ganze Gestalt. Sie flog wirklich.

Goedecke schleppte ein paar Redakteure heran. Sie hatten von dem großen Talent der jungen Dame gehört und baten um Beiträge. Goedecke war wirklich rührend in seinen Bemühungen; Elisabeth hatte ihm längst verziehen, daß er sie damals doch nicht zum Vorlesen aufgefordert hatte.

Doktor Bolten streifte sie im Vorbeigehen; er hob scherzhaft drohend den Finger. »Wie lange soll ich noch auf meine Humoreske warten? Denken Sie daran! Vergessen Sie ja nicht!«

»Ganz Berlin sieht auf dich!« tuschelte ihr Frau Leonore ins Ohr.

Und Mannhardt lächelte. »Meine Frau hat wieder einmal recht gehabt. Lorle, du hast Fräulein Reinharz entdeckt! Ja, meine Frau hat einen Scharfblick. Lorle, nachher werden wir dich erst absetzen, und dann bringe ich deine Freundin nach Hause!«

»Nein, nein, danke, bemühen Sie sich nicht!« hatte Elisabeth rasch gesagt. »Ich werde schon nach Hause gebracht.« Sie wäre um keinen Preis mit Mannhardt allein gefahren, er setzte sie immer in Verlegenheit. Während er seiner Frau die verehrungsvollsten Schmeicheleien sagte, ruhte sein Auge immer mit einem so sonderbaren Ausdruck auf ihrem Gesicht.

»Weißt du, Lorle,« hatte er neulich gesagt, als das junge Mädchen den Abend allein bei dem Ehepaar verbrachte, »Fräulein Reinharz hat sich schon viel von deiner Unterhaltungsgabe angeeignet, und dieses Lächeln –«, er strich dem Mädchen mit dem spitzen Finger um Wange und Kinn, »ganz dein Lächeln!«

»Schmeichler!« hatte Leonore scherzend erwidert und ihn auf die Finger geklopft. Und dann wendete sie sich zu Elisabeth: »Ich wünsche dir einen Mann, liebes Herz, dem meinen ähnlich. Nur an der Seite eines solchen Mannes kann eine Frau glücklich sein!«

»Du Schmeichlerin!« Mannhardt hatte lächelnd den Kopf geschüttelt. »Du machst glücklich!«

»Nein, du!« Sie umarmten sich. – –

Kistemachers waren auch auf dem Fest. Es wäre das Natürlichste für Elisabeth gewesen, mit ihnen nach Hause zu gehen.

Frau Julie hatte sich, eigens um das junge Mädchen zu chaperonieren, ein neues Kleid machen lassen: breitgestreifte Seide mit vielen Spitzen daran. Herr Kistemacher war im Frack; die übrigen Herren waren zwanglos im Straßenanzug erschienen. Er ging sehr stolz durch die Menge, das Ordensbändchen irgendeines kleinen Fürstentums im Knopfloch.

Frau Kistemacher war sehr aufgeregt, bis Elisabeth auftrat; sie folgte dem bis dahin Gebotenen nur mit geteilter Aufmerksamkeit. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, reckte den Hals und spähte. Als der Engel endlich erschien, mit leuchtendem Gesicht, mit schneeigem Hals und rundem Arm, so heiter, so lieblich, sprang sie vom Sitz auf: »Da ist sie!«

»Wohl Ihre Tochter oder Ihre Schwester?« fragte eine neugierige Nachbarin.

Frau Julie nickte; sie war ganz verwirrt.

»Das nicht,« mischte sich Herr Kistemacher ein, »nur eine Freundin, aber eine uns sehr nahestehende.«

»Mein Mann hat sie entdeckt«, sprach Frau Julie in erregtem Flüsterton hinter der vorgehaltenen Hand, man hörte es aber zwei Reihen weit. »Sie ist eine ganz bedeutende Schriftstellerin. Mein Gott, wie alle Leute klatschen!« Sie wischte sich die Tränen der Rührung ab.

Als das Publikum nach der Bühne drängte, waren Kistemachers die Vordersten der Vorderen. Sie wagten ein leises: »Pst, Elisabeth!«, ein Nicken und ein Augenzwinkern.

Als der Engel im Saal erschien, nahmen ihn Kistemachers gleich in Beschlag. Herr Kistemacher bestellte Sekt am Büfett, Frau Julie umarmte das junge Mädchen, küßte es vor aller Augen und sagte immer: »Wir drei!«

Elisabeth wehrte sich mit leisem Befremden – so intim war sie doch nie mit Kistemachers gewesen? Als Herr Kistemacher beim ersten Glas sprach: »Auf unsere Freundschaft!«, als Frau Julie zum zweitenmal das Glas hob: »Prost Brüderschaft – du – Elisabeth!«, wurde sie ganz still.

Sie war froh, als plötzlich Jakob Heider im Gewühl auftauchte. Sie war nicht erstaunt, wußte sie doch, daß er hier sein würde, freilich nicht aus eigener Wahl, sondern als Reporter für irgendein Lokalblatt. »Je kleiner das Blatt, desto größer muß der Artikel sein,« hatte er gesagt, »aber was soll ich machen? Die Schieblade, ›dat Schößchen‹, wie sie bei uns zu Hause sagen, ist leer, und mein armer Erdmann verhungert mir sonst!«

Mit einem Gefühl der Erlösung, nachdem sie ihn flüchtig Kistemachers vorgestellt hatte, hing Elisabeth sich an seinen Arm.

»Wohin?« fragte Frau Julie.

»Ich muß mich noch ein wenig nach meinen anderen Bekannten umsehen«, sagte Elisabeth ganz verlegen.

»Wir gehen jetzt.« Herr Kistemacher erhob sich. »Es wäre auch Zeit für Sie, Fräulein Elisabeth!«

Verwundert hob sie den Kopf: warum dieser zurechtweisende Ton?

»Ich möchte noch bleiben«, sagte sie ruhig.

Der Abschied war kühl; Kistemachers waren sichtlich beleidigt.

Heider wanderte mit Elisabeth durch den Saal; sie waren in den paar Wochen, die sie sich kannten, gute Freunde geworden. Heute schalt er mit ihr.

»Wie können Sie sich zu so etwas hergeben, Fräulein Reinharz?«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Fühlen Sie denn nicht, wie ekelhaft das alles ist?« fragte er erregt. »Eine Schaustellung der Persönlichkeit, weiter nichts!«

»Sie vergessen den guten Zweck!« sagte sie gereizt. Und gleich darauf, in ihrem Glücksgefühl den Ärger gar nicht aufkommen lassend: »Sind Sie drollig, Herr Heider! Ich bin so vergnügt. Alle sind gut zu mir. Ich bin auch allen gut, allen!« sagte sie warm und hob das Gesicht empor, daß es hell beschienen war. »Es ist so schön hier! Ich bin so glücklich!« Sie atmete tief, ein wunderholdes Lächeln hob ihre Oberlippe und zeigte die schimmernden Zähne. Sie blieb stehen und preßte seinen Arm. Ihre Augen blitzten ihn an, frei, freudig, siegessicher. »Ich fühl's: ich werde!«

Er empfand den Druck ihres Armes in dem seinen, das weiche, volle Fleisch hob sich rosig von seinem dunklen Rockärmel. Ein Zauber ging von diesem nackten Mädchenarm aus, ein Strom von Kraft und Frische. Da war nichts von Müdigkeit, nichts von Verwelktsein. Die ganze Gestalt ging auf sicheren Füßen, geschwellt von freudiger Hoffnung, von mutiger Entschlossenheit. Diese Hände mit den schlanken und doch kräftigen Fingern würden schon zugreifen; diese Arme mit ihren starken Muskeln, in der klassischen Reinheit ihrer Form so fest wie Marmor, die würden um jeden Preis ringen, ihn tragen, halten und nicht wieder fahren lassen.

Er sah in ihr frisches Gesicht und erwiderte ihr Lächeln.

Sie wurden getrennt. Andere kamen, ein ganzer Schwarm, Herr Eugen Goedecke und Fräulein Starzynska an der Spitze. Sie entführten Elisabeth. Die Starzynska schlang den Arm um des Mädchens Taille.

Heider sah Elisabeth verschwinden, wie eine Vision glitt sie an ihm vorüber, lächelnd, nickend. Ihr Engelsgewand leuchtete, es wehte wie ein weißes Blütenblatt durch das Bunt der Umgebung.

Er stand und starrte ihr nach und vergaß, sich weitere Notizen zu machen. –

Und nun war das Fest zu Ende, die Menge hatte sich verlaufen. Heider wartete am Ausgang, er hatte Elisabeth versprochen, sie nach Hause zu bringen.

Über ihm schaukelte die Kugel der elektrischen Lampe. Vom Königsplatz her kam ein schwüler Jasminduft, die Bäume des Tiergartens rauschten. Der mitternächtige Himmel war dunkel, ganz schwarz. Heider schlug sich den Rockkragen in die Höhe; ein Gewitter war im Anzug. Prüfend streckte er die Hand aus: noch fiel kein Tropfen, aber bald würde es regnen. Wenn sie doch käme!

Jemand klopfte ihm auf die Schulter. »Ah, du bist es, Ebel«, sagte er enttäuscht.

»Kommst du mit nach Hause?« fragte der junge Mann. »Wir könnten noch eine halbe Stunde in irgendeinem Lokal sitzen, wenn das Wetter 'raufkommt. Wir haben uns so lange nicht gesehen, heute auf dem Fest auch nur ein paar Minuten. Ja, kommst du?«

»Ich kann nicht. Vielleicht treffen wir uns morgen abend bei Siechen. Ja, morgen sicher! Heute kann ich nicht,« er sah unruhig nach der Tür, »ich bringe eine Dame nach Haus.«

»Dann will ich dich nicht stören.« Der andere lüftete den Hut und trat bescheiden zurück. »Also auf Wiedersehen morgen!« Er nickte freundlich und ging. Seine große, elastische Gestalt verschwand bald im Dunkel.

Andere kamen heraus, Nachzügler, die ängstlich den Himmel betrachteten, Schirme aufspannten und nach Wagen riefen. Die Damen knüpften ihre Kopftücher fester und schürzten ihre Röcke. Die ersten Tropfen fielen.

Kam sie denn noch nicht? Die Tür klappte im Wind hin und her, die langen Ranken des wilden Weins am Eisengitter wurden gepeitscht – endlich! Er hörte ihre volle Stimme, ehe er ihre Gestalt sah. Sie rief lachend: »Es regnet!«

»Sie können unmöglich zu Fuß gehen«, sagte eine andere Stimme.

»O doch!«

Da war sie. Sie hielt den Regenmantel über dem weißen Kleid zusammen, der Saum schimmerte unten vor. Den Lilienkranz hatte sie abgenommen und sich über den Arm gehängt; das wirre Haar hing ihr unter einem Tüchlein in das glühende Gesicht.

Zwei Herren kamen dicht hinter ihr her. »Unmöglich, Sie müssen fahren, Fräulein Reinharz, ich fahre Sie nach Hause«, sagte der eine. »He, Droschke!«

Der andere stürzte vor: »Ich besorje Ihnen eine. He, Kutscher, wo haben Sie denn Ihre Ohren?!« schrie er aufgeregt. »Da ist schon ein Droschkong. Hier! Bitte, bitte, verehrter Kollege, placieren Sie sich!«

»Ach, da sind Sie!« Elisabeth sprang auf Heider zu. »Das ist – schön!« wollte sie sagen, aber ein plötzlicher Windstoß riß ihr das Wort vom Munde. »Ah – ah!« Sie hielt sich den Mantel fester zusammen.

»Hier, Herr Kollege, hier, verehrter Maestro!« rief Goedecke und riß den Schlag auf.

»Bitte, Fräulein Reinharz!« Der Dichter faßte nach ihrer Hand.

»Ich danke vielmals, hier, Herr Heider bringt mich schon nach Haus.«

Der berühmte Dichter rührte flüchtig an seinen Hut. »Es ist besser, wenn Fräulein Reinharz fährt. Danke sehr!«

Ehe Elisabeth sich's versah, war sie in den Wagen gehoben, Eisenlohr saß neben ihr und zog den Schlag zu, Goedecke wollte gerade nachsteigen; nun stand er verdutzt draußen.

»'n Abend!« Der Dichter nickte ihm flüchtig zu. »Los, Kutscher!«

Das Pferd zog an, fort rasselte der Wagen. Noch einmal tauchte Heiders Gesicht auf, dann umfing sie Dunkel. Und Regen an den Fenstern, mit großen, harten Tropfen pochend. Jetzt ein Donnerschlag, jetzt ein Blitz.

Elisabeth fuhr zusammen. Nicht des Gewitters wegen; Eisenlohr hatte den Arm um ihre Taille gelegt.

»Fürchten Sie sich nicht!« sprach er halblaut.

»Ich fürchte mich ja gar nicht.« Sie wollte lachen, aber das Lachen kam nicht recht heraus, es blieb ihr in der Kehle stecken. Es war so beklommen in der Droschke, schwül zum Ersticken. So unbehaglich – warum nur? Und so dunkel. Sie fühlte seinen Fuß sich auf den ihren stellen – war das Zufall, war das Absicht? Hastig zog sie ihren Fuß so weit als möglich unter den Sitz.

Sein Atem wehte dicht, ganz dicht an ihrem Gesicht. Sie rückte noch mehr in die Ecke und drückte sich ganz zusammen.

»Mein liebes Fräulein,« sagte er, »mein liebes Kind!« Er suchte nach ihrer Hand. Sie saß wie gelähmt; sie wollte sie ihm entziehen, und doch fürchtete sie, sich lächerlich zu machen. Er sprach so väterlich.

»Ich werde sofort Ihr Buch lesen, wenn es erscheint, es wird mich sehr interessieren.« Er rückte kaum merklich näher. »Das Geschick hat Sie zu verschwenderisch bedacht – so viel Liebreiz, dazu noch Talent!«

Mit einem Zusammenzucken entriß sie ihm ihre Hand – ein greller Blitzstrahl zuckte –, sie hatte sein Gesicht gesehen. Er lächelte. »Ein scheußliches Gewitter«, sagte er in gleichgültigem Ton. Und dann wieder flüsternd: »Ich bin dem heutigen Abend sehr dankbar, obgleich ich nicht schlafen werde.« Er machte eine Pause, dann flüsterte er noch leiser: »Die ganze Nacht nicht.«

Was sollte sie sagen? Ihr Herz klopfte, nur das eine dachte sie: wäre die Fahrt doch zu Ende! Ihre Blicke suchten das Dunkel zu durchbohren. Mit einem Zipfel ihres Mantels wischte sie über die Scheibe – da, draußen Lichter, matt den Regenschleier durchdringend. Man war aus dem Tiergarten heraus. Erst aus dem Tiergarten?! Ein Angstgefühl überkam sie – um Gottes willen, noch so lange zu fahren! Unerträglich langsam rumpelte der Wagen.

Das Fenster auf! Sie erstickte sonst. Ungeschickt mühte sie sich, das Fenster herunterzulassen.

»Gestatten Sie?« Er beugte sich über sie und drückte sie dabei fest an seine Brust.

»Lassen Sie nur – nein – lassen Sie zu – ich will nicht!«

Sie lehnte sich ganz hintenüber.

Seine unruhige, heiße Hand lag auf ihrer Schulter und brannte durch alles durch; ihr war, als fasse jemand ihren nackten Hals.

Eisenlohr atmete rasch. »Verlassen Sie sich nur auf mich, liebes Kind«, flüsterte er. »Sie werden etwas erreichen!«

Seine heiße Hand glitt hin und her; jetzt lag sie ihr im Genick.

»Ich schreibe Ihnen eine Vorrede. Ich …«

Ihr Herz stand still. Sie wagte nicht Atem zu holen.

»Ich bin Ihr Freund!«

Ihr Kopf saß wie in einer Klammer.

»Ihr bester Freund!«

Seine Lippen näherten sich den ihren – schon fühlte sie die heiße Berührung. –

»Ich will aussteigen!« schrie sie laut.

Ihre zitternde Hand faßte den Griff, sie stieß mit aller Kraft gegen die Tür.

»Was fällt Ihnen denn ein!« Er faßte sie um die Taille. »Seien Sie doch nicht so kindisch!«

»Lassen Sie mich!« Sie weinte fast und rüttelte an dem Griff, verzweifelt in Angst und Zorn. Die Tür sprang auf – er wollte sie wieder zuziehen. Elisabeth stieß ihn zurück. »Halt, Kutscher!«

»Zum Donnerwetter, voran, Kutscher!«

»Nein!«

Der Wagen fuhr noch – ein Sprung – sie strauchelte, sie raffte sich wieder auf – jetzt stand sie auf dem Pflaster. Sie fühlte wieder den Boden unter den Füßen; der Regen schlug ihr ins Gesicht.

Er machte Miene, ihr nachzuspringen.

Der Wagen hielt, der Kutscher grinste vom Bock. »Nanu?«

»Fahren Sie!« Elisabeth krachte den Schlag zu. »Ich danke Ihnen, Herr Eisenlohr! Weiter, Kutscher!«

Ein unglaublich verblüfftes Gesicht starrte sie hinter der Scheibe an; der große Mann war sehr klein in diesem Augenblick.

Da stand sie, allein auf der nächtlichen Straße. Mitten in Pfützen; der Regen goß. Der Wind riß ihr das Tuch vom Haar, zerrte es ihr in den Nacken, faßte ihren Regenmantel und blähte ihn auf wie ein dunkles Segel.

Sie war taub gegen den Donner, sie sah nicht das Blitzen – aber jetzt, die Straße herauf, gerade auf sie zu, kam einer mit raschen Schritten. Er schien sie neugierig anzusehen. Sonst war sie nicht ängstlich, aber heute – die Knie waren ihr schwach, die Füße wie Bleiklumpen. Ganz benommen, umtost vom Wetter stand sie da. Ihr weißes Kleid hing wie ein schmutziger Lappen um ihre Füße; der Kranz an ihrem Arm hatte sich gelöst, die Lilien fielen in den Kot. Sie starrte den Näherkommenden an. Jetzt fuhr sie zusammen. Der Herr zog den Hut.

»Haben Sie sich verletzt? Ich hörte Sie rufen, ich sah Sie aus dem Wagen springen.«

Seine Stimme klang angenehm, sein Benehmen war höflich und ruhig. Was sollte der Fremde wohl von ihr denken? Sie nahm sich zusammen und neigte den Kopf. »Ich danke.« Sie wollte recht ruhig antworten, aber sie hörte es selbst, wie ihre Stimme schwankte. »Ich habe mir nichts getan.« Sie zitterte am ganzen Leibe und hatte ein unerträgliches Gefühl der Scham.

Während sie ihr nasses Kleid aufraffte, riß ihr ein Windstoß den Regenmantel weit auseinander. Man sah ihre ganze weiße Gestalt.

»Darf ich Ihnen behilflich sein?« Er half ihr den Mantel zusammenfassen. »Sie werden sich erkälten!«

»Danke!« Sie wandte sich ab und wollte weitereilen. Nur wenige Schritte bis zur Ecke kam sie, da blies ihr der Wind mit aller Heftigkeit entgegen und verfing sich in ihren Kleidern. Donner und Blitz hatten nachgelassen, aber der Regen goß nieder mit wolkenbruchähnlicher Gewalt; die Straße stand unter Wasser. Kein Wagen, kein Mensch zu sehen. Vom Kanal her tönte ein dumpfes Brausen, und man hörte das Plätschern des Regens auf den Blättern der Kastanien.

Elisabeth fühlte sich ganz hilflos; Zorn und ein klägliches Gefühl der eigenen Erniedrigung trieben ihr Tränen in die Augen. Sie sah nichts mehr.

»Sie können jetzt nicht allein gehen, so spät in der Nacht, bei diesem Wetter«, sagte wieder die angenehme Stimme. »Mein Name ist Ebel, Wilhelm Ebel. Gestatten Sie, ich werde Sie begleiten. Wohin darf ich Sie bringen?«

»O bitte, nach der Lützowstraße.« Sie waren gerade bei einer Laterne, und sie wagte einen raschen Blick auf ihn zu werfen. Was hatte er für ein nettes Gesicht! Das Wetter hatte ihn zwar arg zugerichtet, seine Hutkrempe war die reine Dachtraufe; der Sturm hatte ihm die Haare in die Stirn gefegt, das Wasser floß an den Strähnen nieder. Seine Augen blickten sie mit einem gütigen Ausdruck an.

»Was müssen Sie von mir denken!« sagte sie rasch. Sie wußte nicht, wie sie ihre Situation erklären sollte.

»Halten Sie sich an mir fest, bitte, jetzt kommt die Brücke, da ist es doppelt schlimm!«

Sie hatte versucht, allein weiterzukommen, nun war sie doch froh, seinen Arm nehmen zu können. Halb bewußtlos stützte sie sich auf ihn; sie war schwach wie ein Kind.

Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie, war sie doch nicht mehr allein; sie faßte ein plötzliches Zutrauen.

Er führte sie sorgsam und sagte: »Treten Sie hierhin und dann dorthin!«

Zwischen keuchenden Atemzügen bei angestrengtem Gang stieß sie heraus: »Ich komme von einem Fest, es sollte mich jemand nach Hause bringen, ich … ich …« Der ganze Zorn packte sie wieder, sie biß die Zähne auf die Unterlippe.

»Ich komme auch von einem Fest,« er schien ihre Aufregung nicht zu beachten, »von einem großen Wohltätigkeitsfest.«

»Ich auch.« Sie sah ihn voll an. »Wie merkwürdig!«

Er faßte plötzlich an seinen Hut und blieb einen Augenblick stehen. »Jetzt erkenne ich Sie! Ich habe Sie heute abend auf der Bühne gesehen. Sind Sie – sind Sie nicht …«, er zögerte nun doch wieder, »sind Sie nicht Fräulein Reinharz?«

Sie nickte. »Mein Gott, wie gut, daß ich Sie getroffen habe!« Wie erlöst atmete sie auf. »Ach, ich bin Ihnen so dankbar!« Sie preßte in der Erregung seinen Arm. »Was hätte ich wohl machen sollen, wenn Sie nicht gekommen wären? Ich danke Ihnen vielmals!«

Er fragte mit keinem Wort, wie sie in diese merkwürdige Lage gekommen, als wäre es etwas ganz Natürliches, daß junge Damen spät nach Mitternacht allein auf der Straße umherirren.

Der Regen goß weiter; sie kamen mühsam, Schritt für Schritt, voran. Niemand auf der breiten Straße; jeder hatte sich geflüchtet. Die Häuser an der Straßenseite lagen ausgestorben, kein Licht schimmerte hinter den endlosen Fensterreihen. Die Restaurants hatten die Türen geschlossen, und ihre Rolläden waren heruntergelassen. All das Leben der Großstadt schien erstorben in dieser ungeheuren, nicht endenwollenden Sintflut. Sie waren die einzigen auf der Welt. Sie drückte sich näher an ihn. Er beugte sich vor, um sie vor dem Wind zu schützen. Noch nie in seinem Leben hatte er jemand beschützt; es war ihm ein schönes Gefühl, diesen Mädchenarm in dem seinen halten zu dürfen. Es war ihm nicht kalt, obgleich der dünne Sommeranzug wie eine Haut an seinem Leibe klebte und das Wasser in seinen Stiefeln bei jedem Schritt quatschte. Er fühlte ihr Vertrauen, ohne daß sie davon sprach; das machte ihn warm.

»Sie haben mir heute sehr gut gefallen«, sagte er leise, fast schüchtern. »Am allerbesten.«

Er sah nicht, daß sie rot wurde. Die scheue Bewunderung, die aus seinem Ton herausklang, tat ihr wohl. Nach dem Erlebnis der letzten Stunde hatte sie ein heißes Verlangen, sich wieder vor sich selber erhoben zu sehen; dieser hier stellte sie hoch, das fühlte sie ganz genau. Lag es im Ton seiner Stimme, in der Art, wie er von ihr Abschied nahm?

Sie waren endlich angelangt, das schützende Haus hatte sich geöffnet; er wagte nicht, ihre Hand zu nehmen, sondern stand draußen im Regen und machte eine respektvolle Verbeugung.

Da gab sie ihm die Hand. »Ich danke Ihnen, ich werde Sie nicht vergessen!«


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