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20.

Die Mühle zu Maarfelden stand verlassen. Zwar hatten die beiden Müller vom oberen Bach sie gekauft – es sollte sich nicht wieder ein neuer dort unten einnisten und ihnen mit dem Wasser Sperenzien machen und Aerger und Scherereien aller Art –, aber in Betrieb setzten sie sie nicht wieder. Was zu schaffen war, schafften sie in ihren zwei weißen, freundlichen Mühlen, dazu brauchten sie den dunklen Kasten am Maarbächelchen, dessen Fenster wie trübe Augen unterm hängenden Strohdach hervorguckten, nicht mehr. Und noch dazu, wer möchte da hausen, wo das Unglück so sichtbarlich gewaltet?! Es hätte sich keiner zu Maarfelden gefunden, und auch keiner von weiter her, der in der Mühle seinen Wohnsitz hätte nehmen mögen.

»Duh es einen druf kaputt gangen,« sagten flüsternd die Leute, zogen die Augenbrauen hoch, wiesen scheu mit Fingern und eilten vorüber. Die Kinder, die am Maarbächelchen im Gebüsch nach Beeren streiften, kamen eines Tages hochrot und geschwitzt ins Dorf zurückgerannt: sie hatten ein Raunen gehört, ein Murmeln und Summen, ein Tritteknirschen und Poltern in der verlassenen Mühle, daß sich ihnen die Haare sträubten. Als aber gar ein Kuckuck schrie – hu, des Müllers Kuckuck! – und die Dohlen auf den grauen Weidenbäumen am Giebel Antwort krächzten, da hatten auch die Beherztesten Fersengeld gegeben. Die Mühle war nicht mehr geheuer.

Die Müller von der Kyll ließen sie verfallen. Sie hätten die Steine des Wohnhauses wohl abbrechen und zu einem Neubau verkaufen mögen, aber niemand begehrte ihrer. Das waren Unglückssteine. Die Fachwände des Stalles waren schon eingestürzt – so ein paar Eifelwinter räumen rasch auf – Nachtstürme hatten das Strohdach teilweise abgedeckt, daß der unruhige, weißwolkige Eifelhimmel frei hineinschaute in die Mahlstube. Noch sah man die Bretter der gedielten Zimmer, aber sie waren halbverfault; auf morschen Stützen ragte die Stiege wacklig ins Obergeschoß, überall entblößten sich nackte Spuren, wie die Rippen eines halbverwesten Leichnams.

Das große Rad hätte sich am längsten bewähren sollen, aus festestem kernigstem Holze, schien es bestimmt, Generationen zu dienen; aber jetzt war der letzte Kirchweiler kaum zwei Jahre von der Mühle, und es fing auch schon an zu kranken. Ihm fehlte der rauschende, brausende Mühlengesang, das erquickende Perlen und Sprühen des Mühlenbaches. Im Winter vom Schnee allzusehr belastet, im Sommer von Sonnenglut allzusehr gedörrt, zersprangen seine Speichen. Seine Schaufeln brachen ab; hier lag eine derselben im ausgetrockneten Mühlengraben, dort eine zwischen Nesseln und Schutt.

Und der Garten wuchs ganz wild, Unkraut so hoch, daß ein Kind darin versinken konnte. Gut, daß Frau Tina das nicht mehr zu sehen brauchte! Gut auch, daß des Müller-Hannes Augen gebunden waren. Ob der nicht sonst sein Kleid zerreißen würde und sich auf den Aschensack setzen, wie weiland Hiob?!

 

Müller-Hannes saß alle Tage, die nicht Wintertage waren, auf seinem Bänkchen an der Hüttenwand des Abbaues. Wanderer, die, der Straße auf dem Plateau folgend, aus scharfen Augen zufällig einen Blick hinuntersandten ins Gewirr der Schluchten, deren sich immer und immer wieder neue bilden zwischen den vorgeschobenen Kulissen der felsigen Abstürze, sahen das einsame, graue Häuschen und den einsamen, grauen Mann. Der saß da, gleichsam aus Stein, den Kopf ein wenig vorgeneigt, wie einer, der regungslos lauscht.

Hannes lauschte auch. Wenn ein Bienchen surrte, das hörte er, wenn sich ein Blatt regte, das hörte er auch. Immer waren da neue Stimmen; am Abend kannte er sie noch nicht, den nächsten Morgen waren sie ihm schon vertraut. Neues kam ihm über Nacht. Gestern noch, als er seine Bank gesucht, hatte er in Nesseln gefaßt, und als er heute vorsichtig nach dem Sitz getastet, um sich nicht wieder zu brennen, hatte er eine Blume zwischen den Fingern gefühlt, die, schlank, mit vielen Stengeln, an der Hauswand emporgeschossen war. Was war das für eine Blume, wie hieß sie?! Das wußte er nicht, aber daß sie weiß war, das wußte er; nur eine weiße Blume hat so feine Blütenblättchen, nur eine weiße Blume kann so lind duften und, reibt man sie, so wie zarter Seifenschaum zwischen den Fingern zergehen. Und grüne, schmale Blättchen hatte sie am Stengel, eines rechts, eines links, immer so weiter hinauf, von der Wurzel bis zur Blütendolde. Wo war sie hergekommen in der Schnelle zwischen Abend- und Morgenrot?! Hatte Fränz sie hergepflanzt? O nein, sie war geboren worden aus unmerklichen Knospen! Ja, der Herr Noldes hatte schon recht: es geschehen noch Wunder heutzutage. Man muß sie nur sehen. Und der Blinde sah sie jetzt.

In heißen Sommernächten war es in der Hütte, in der einzigen Stube, wo dicht dabei die Ziege sich unablässig an der Stallwand schabte und die Hühner im Traum gackerten, unerträglich schwül. Dann saß die Fränz beim Vater draußen.

»Ha, en Stärenschnauz Sternschnuppe.,« schrie sie dann wohl plötzlich auf und wünschte sich rasch etwas.

Und: »Ha, en Stärenschnauz,« rief der Blinde ihr nach. Er sah den funkelnden Flimmer oben am Himmel – hatte er denn den nicht tausendmal gesehen, wenn er mit seinem Chaischen fröhlich heimfuhr durch die heimatliche Bergflur? Aber so leuchtend war früher nie ein Stern niedergeschossen, wie jetzt dieser durch seine nächtliche Dunkelheit. Einen langen Schweif zog der hinter sich her von lauter Erinnerungen und blieb dann liegen hinterm vertrauten Mühlenbach. Ja, die Mühle, die Mühle! Wie sie dastand im grünen Wiesental am klaren Maarbach, ganz ohnegleichen … ah, die Mühle, die Mühle!

Und während Fränz, von der harten Arbeit des Tages ermüdet, den Kopf gegen die Schulter des Vaters fallen ließ und fest schlief, bekam Müller-Hannes sehnsüchtige Gedanken. Aber wenn auch die Fränz wach gewesen wäre, hätte er sie ihr doch nicht verraten; die würde ihn ja nun und nimmer so weit allein gehen lassen – und er mußte hin, ja, er mußte! Ganz heimlich mußte er hin, wie ein Bursch zu seiner Liebsten. Wie sie jetzt wohl aussah, nun sie so gar allein war?! Was würde sie sagen zu ihm, was würde er sprechen zu ihr? … »Mühle, Mühle, seh' ich dich wieder, o du Mühle, du Mühle!«

In dieser Nacht schlief Hannes gar nicht; aber er warf sich nicht ungeduldig wie sonst wohl, ruhig lag er: st, st, daß die Fränz nur seine Heimlichkeit nicht merkte!

Voller Ungeduld lauerte er darauf, bis sich die Tochter den nächsten Morgen anschickte, mit Spaten und Hacke auf den Acker zu gehen; da arbeitete sie, den Hang abwärts, hinter dem Haus. Vor dem Haus saß der Blinde.

Aber kaum hatte er ihre Schritte verhallen gehört, so stand er mit schlauem Lächeln auf. O, keine Sorg', den Weg würde er schon finden! Erst hügelab, auf glitschigem, kurzem Moosrasen – dann auf drei großen Steinen über den Bach – hei, das war wohl geglückt! Waren die Füße ihm auch naß geworden, er stand jetzt doch wohlbehalten drüben. Aengstlich hielt er den Atem an und lauschte: kam die Fränz ihm auch nicht nach?! Horch, rief sie da nicht?! Nein, es war nur der Wind – Westwind – weich fühlte er ihn auf der linken Wange.

Nun durch den Busch hinauf! Hier sich an der jungen Buche gehalten – ei, wie biegsam die noch war, und das Stämmchen so glatt, noch kein Riß in der Rinde, gewiß erst ein Bäumchen von ein paar Jahren. Jetzt hier an der Eiche angepackt – aber die war schon älter, man fühlte es gleich an der genarbten Borke. Hopla, jetzt über die Kiefer gestolpert – warum streckt die denn auch die knorrigen Wurzeln so fürwitzig in die Luft? Ach, das arme Ding! Der Blinde bückte sich und fühlte nach: das hatte einen gar schlechten Stand, nicht spatentief Erde, um die Wurzeln darein zu versenken, nur klippiges Schiefergeröll, 's ist gar nicht zu begreifen, wie eines so arm leben kann.

Horch, da ist der Baumpicker, der Specht – der Kerl hat Hunger; wie emsig er klopft! Alle müssen sie heraus, die Larven und Maden, aus der Baumrinde. Jetzt klopft er hier, jetzt klopft er da. Und nun fangen zwei Häher an zu zanken, flattern, daß man die schönen, himmelblauen Flügelbinden sieht, sträuben die hellbraunen Schöpfe – gleich werden sie sich hacken, daß die Federn fliegen.

Aber weiter, weiter, nur nicht so lange zugeguckt!

Brombeeren hielten den Blinden fest und zerstachen ihm Hände und Gesicht.

»Brameln, verflixte, haalt mech net uf!«

Immer rechts muß man sich halten, immer rechts, daß der Felshang rechts bleibt und links unten im Grunde die Kleine-Kyll – so – nun ist der Weg glücklich erreicht, der tiefspurige Holzweg, auf dem die Ochsen in den Wald fahren, die gefällten Stämme heimzuschleifen.

»Hallo, dao sein mir!« Der Blinde schlug sich erschrocken auf den Mund: »Pst, net esu laut!«

Wie ein Dieb schlich er weiter. Jetzt ging's viel besser. Ei, nun hatte er ja schönen, ebenen Weg unter den Füßen. Er gewahrte nicht all das Geröll, das unter seinen Schuhen knirschte, die Schieferstückchen, die, von seinem Tritt gelöst, abgrundtief neben ihm hinunterprasselten; mit der Rechten konnte er sich den Hang entlang tasten, und abwärts ging es jetzt geschwind. Jetzt kam eine Felsecke – holla, rief da nicht eine Stimme?!

»Müller-Hannes! Komm, komm!«

»Ech kommen jao schuns! Ech kommen!« Mit mächtigen Sätzen stürmte der Blinde dahin. Er strauchelte, er fiel, er raffte sich auf – wo war der Weg? Da, da!

Wiesen – Hecken – einsame Ackerflur.

Nun konnte er nicht mehr irren. Die Stimme, die Stimme, die lockte und murmelte, die führte ihn.

Am Maarbach entlang kam der Müller-Hannes zur Mühle. – – – – – – – – – – – – –

Was half es der Fränz, daß sie in tausend Aengsten den Vater gesucht, ihm, als er endlich heimfand, berechtigte Vorwürfe machte? Kaum war sie anderen Tages zu ihrer Arbeit gegangen, stahl auch er sich wieder von dannen.

So ließ sie ihn denn gewähren. Und er ging immer sicherer und sicherer seinen einsamen Weg.

 

Das Wasser im Maarbach rinnt, Welle um Welle, Tropfen um Tropfen, wie es immer geronnen. Der Müller-Hannes hört es rauschen. Er hatte sich ein Plätzchen erkoren, so versteckt, daß er es nur finden konnte. Erst mußte man von der Straße, die gen Maarfelden führt, links hinuntertappen – noch war der Mühlenweg da, aber er war verrast, und die weißen Steine, die ihn eingefaßt und den mutigen Pferdchen am Chaischen den Weg vorgezeichnet hatten, lagen halb unsichtbar unter der wilden Stachelbeerhecke –, dann hinein in die Haustür, deren verrostete Klinke schwer dem Druck nachgab. Verschlossen war die Tür nicht, wer sollte denn auch hier etwas stehlen? Alles, was im Haus nicht niet- und nagelfest, war fortgetragen, verstreut in die Welt. Einer zu Manderscheid hatte dies auf der Auktion erstanden, ein anderer zu Bettenfeld das, der dritte zu Bleckhausen jenes. Am schwersten war das Klavierchen fortgegangen. Die Müller an der Kyll, die gleich die Hand auf das Wertvollste, auf die gesamte Mühleneinrichtung gelegt, wollten vom Klavierchen nichts wissen: sie waren doch keine Tagediebe, die Zeit hatten, auf einer Drahtkommod' Dideldum zu machen!

Wer wohl das Klavierchen gekauft haben mochte?! Das hätte Hannes gern gewußt. Hier – hier hatte es gestanden, als es neu in die Mühle gekommen war, hier in der guten Stube! Und wo war das Gewehr am grünen Gurt geblieben? Und wo der junge Hannes auf dem Schecken, der überm Kanapee gehangen hatte?!

Der Blinde, der alle Ecken durchsuchte und an den Wänden hinauftastete, so hoch er nur reichen konnte, fand sein Jugendbildnis nicht mehr. Das hätte die Fränz doch mitnehmen müssen, es war unrecht von ihr, daß sie das so wenig geachtet; nun lag's irgendwo unter Gerümpel. Er wollte zornig werden, aber er besann sich: die hatte es ja nur vergessen dazumal in all der Not der Zeit – nein, kein Wort auf die Fränz, die war brav. Da hat gar mancher einen Sohn, auf den er stolz ist – der alte Mann schüttelte den Kopf und seufzte tief: war er nicht auch ein Sohn gewesen, auf den der Vater stolz war? – und so ein Sohn rackert sich noch nicht halb so ab, ist nicht immer so bei der Arbeit, wie alleweil die Fränz! Und es war der doch auch nicht an der Wiege gesungen.

Ihre Wiege – ja, ja, hier hatte die gestanden, hier in der Ecke! 's war doch immer ein staatses Mädel gewesen, die Fränz, schon, als sie noch im Stechkissen lag. Ja, da konnte man lange suchen, eh man eine fand, die ihr glich! Von der Mutter hatte sie's nicht – ach, die Tina, ein kreuzbraves Weib war sie, aber nein, für ihn war sie nicht gewesen, eine zarte Blume schickt sich für den Garten, auf einen Berg aber schickt die sich nicht. Die war ihm an der Brust vergangen, wie zerdrückt. Fränz war anderer Art, mehr von der seinen, so wie – so wie – ei, warum fiel ihm nur jetzt manches Mal der Schatz ein, den er vor langen, langen Jahren gehabt hatte?! Schwarze Haare, schwarze Augen, und Feuer im Blut, und Kraft in den Knochen und starken Sinn – die ähnelten sich! Aber die Fränz hielt mehr an sich, der würde das heiße Blut so leicht keinen Possen spielen; das machte: sie hatte eine gar keusche Mutter gehabt.

»Verzeih mir, Tina,« sagte der Einsame plötzlich laut und faltete die Hände, wie man tut, wenn man bei einem Grabe steht, »esu wär dat Fränz nie net geworden, wann dat schwarze Seph sein Modder gewesen wär! Sei bedankt, Tina!«

Da rührte es sich seltsam im leeren Haus. Horch! Der blinde Mann lauschte. Es war nur ein leiser Hauch. Aber er spürte ihn.

In Gedanken verloren, kauerte er sich nieder. Ein Felsstein, roh behauen, hatte sich aus dem Mauergefüge gelöst, nach innenwärts war er niedergestürzt samt Lehm und Verputz; auf ihm nahm Hannes jetzt seinen Sitz, ließ den Stecken fallen und stützte das Haupt in beide Hände. Er sann und sann: rings um ihn die Leere, er allein übriggeblieben vom Leben der vollen, der reichen, der fürnehmen Mühle – jetzt ein Bettler auf einem Stein!

Der Schmerz überkam ihn. Aufheulen hätte er mögen wie ein Hund, sich das Haar zerraufen, gegen die Wände mit Fäusten schlagen: meine Mühle, meine Mühle! Wer hatte sie ihm genommen? Der verfluchte Laufeld, die beiden Müller, die anderen Gläubiger, die er nicht zahlen gekonnt?! O, die! Ein geringschätziges Lächeln zog für einen Augenblick seine Mundwinkel herunter: die wären dazu alle zusammen nicht stark genug gewesen! Und der Mühlstein hatte es auch nicht gemacht, von dem die Frau immer sprach, daß der ihr drohend über dem Kopf hinge – nein, nein, er allein, er, der Kerl mit den starken Fäusten, er, er – hatte er sein Glück nicht selber von sich geschmissen?!

Das traf ihn wie ein Blitz; jäh und grell sah er den am Horizont aufleuchten, trotz aller Dunkelheit seines Blickes. Wie, sollte er andern fluchen?! Nein, nicht anderen fluchen, er selber, er selber, er ganz allein trug ja die Schuld! Jetzt wußte er's.

Tief duckte sich der Blinde und bückte den Rücken wie einer, der bereit ist, eine Last zu tragen.

Draußen murmelte der Bach, und im vertrockneten Graben unterm toten Mühlrad sang eine Unke. Die hütete dort wohl einen Schatz unter ihrem großen Stein. »Unk – unk,« rief sie, »wer den Schatz hebt, wird reicher wie ein König – unk, unk – aber der Stein will erst gesucht sein, erst gesucht mit Geduld, und wenn gefunden, dann abgewälzt mit Geduld – immer mit Geduld – unk – unk!«

Der einförmige Unkenruf schläfert ein. Der Bach singt ein Wiegenlied. Kein Wind regt sich, auch die Grillen im verlassenen Gemäuer halten Ruh. Wie verzaubert liegt der versunkene Garten und die verlassene Mühle im Sonnenschein. – – –

– – – – Da hörte Müller-Hannes wieder sein Mühlenrad gehen, rauschend, geschwind, und sah das Wasser perlend über die Radschaufeln fließen. Aus seiner Uhr schrie's lustig: Kuckuck!, in seiner Mahlstube klapperten die Gänge, das Läutewerk läutete, und seine Knechte sangen dazu. Sie sangen das Lied, das der Noldes das letzte Mal auf dem Klavierchen gespielt: »Freut Euch des Lebens« – – ha, war das schön!

 

Müller-Hannes sah und hörte viel.

Die Vögel sprachen und alle Wellen im Bach. Bald hingen die Wolken am Himmel schwer, bald segelten sie leicht durch lichtes Blau. War der Himmel dick, dann hingen die Blätter der Bäume schlaff und glitten welk durch seine Hand, kein Windhauch half sie aufrichten; die Vögel piepten ängstlich, die Blumen im Gras neigten die Köpfe. Aber wehte der Eifelwind frisch über die Berge, alles Grau am Himmel verjagend, dann schwangen sich die Lerchen trillernd über den Rain, Baum und Kraut strömten eine herbe Würze aus; dann rann auch durch seine Glieder ein neues Leben.

Den Sommer sah der Blinde durch die Felder schreiten – seine tastende Hand streifte die reifen Aehren –, den Herbst sah er kommen, seine Hand fühlte es den Blättern an, daß sie sich braun färbten. Die Schwalben, die sich auf dem Telegraphendraht der Chaussee sammelten, sagten ihm Lebewohl, die Brombeeren strichen ihm mit ihren bereiften Ranken über Hände und Gesicht. Bald würde er auch den ersten Schnee sehen.

Der Blinde hatte keine Zeit, nach dem zu fragen, was die Welt des Dorfes bewegte. Was ging's ihn an, daß die fleißigen Müller noch anbauten, daß an den dunklen Abenden das neue elektrische Licht wie ein Stern über ihren Mühlen strahlte. Was kümmerte es ihn, daß der Laufeld mager geworden war, trotz all seines Reichtums, und die Leute davon zu erzählen wußten, wie garstig der Joseph gegen seinen Vater sei, nicht rasch genug ans Geld kommen konnte, auf dem ihm der Alte viel zu lange und viel zu fest saß. Böse Wortwechsel sollte es geben in dem stattlichen Haus dicht bei der Kirche, der Junge war frech, der Alte eigensinnig. Und die Schwiegertochter, die der Joseph ins Haus zu bringen gedachte, war aus einer Familie, die den lieben Gott einen guten Mann sein ließ, sich aber kein Gewissen daraus machte, Freitags mit vollen Backen Fleisch zu kauen; die stand dem frommen Laufeld noch lange nicht an.

Es war ein arges Geschwätz droben zu Manderscheid; aber kein Laut kam bis zum Abbau hinunter.

Und nichts auch wußte Hannes davon, daß der Herr Pfarrer Noldes nun bald Maarfelden verlassen sollte. Der taugte wirklich nicht, die Gemeinde zu leiten, viel zu lange hatte man ihn schon da belassen – nicht nur die kirchlichen Vorgesetzten fanden das, nein, auch die Gemeinde selber war der Meinung. Ein Pfarrer, der Körbe flicht, noch dazu von unberechtigt geschnittenen Weiden, ein Pfarrer in Binsenhut und Binsenschuhen, in kienruß-geschwärztem Rock, den uralten »Perpel« unterm Arm, ein Pfarrer, der nicht von der Kanzel eifert und so leicht verzeiht –, das ist ein Pfarrer, vor dem kein Mensch Respekt hat. Man hatte ihn nur vergessen gehabt. Der Herr Dechant zu Manderscheid aber bekam eine Nase, daß er das Aergernis so lange unter seinen Augen geduldet hatte.

So wurde denn der Pfarrer Arnoldus Cremer, in Anbetracht seines sehr hohen Alters, seines Amtes enthoben unter Belassung eines Ruhegehaltes, das für so ein paar letzte Lebensjahre reichlicher bemessen war, als es je das Einkommen in all den vielen Jahren eines langen Lebens gewesen. Der Achtzigjährige hatte es anfangs gar nicht fassen können: was, er, er sollte fort von Maarfelden, wo die Weiden am Moor wachsen und an den kahlen Hängen die Brombeeren, die Eifeltrauben? Fort von Maarfelden, wo er alle Kinder hatte geboren werden sehen und die Eltern der Kinder auch schon, wo er die Toten kannte, die in den Gräbern schlummerten, wo auch er zu schlummern gedacht hatte, die Berge zu Häupten, das Maar zu Füßen, bis zur Auferstehung am Jüngsten Tag?! Ihn lockten nicht Ruhe, nicht Ruhegehalt – nein, hier in Maarfelden wollte er bleiben!

Er weinte wie ein Kind.

Dem Herrn Dechanten oben zu Manderscheid, der's ihm beibringen gemußt, waren selber die Tränen in die Augen gekommen. Endlich, als der Noldes wirklich begriffen hatte, ging er still davon. Den Hut hatte er vergessen aufzusetzen, der Herbststurm wühlte ungehindert in seinem weißen Haar, und der Herbsthimmel strömte Tränen darauf hernieder. Er hatte es nicht gemerkt. Seine Seele war zu Tode betrübt, bis daß er gesprochen, wie fromme Kinder sprechen:

»Heiliger Schutzengel mein,
Laß mich Dir befohlen sein!«

 

Müller-Hannes tappte heute wieder einmal aus seiner Mühle, in der er lange gesessen hatte, zurück zur Straße hinauf. Es war ein schauriger Tag; der Zugwind, der zwischen den Höhen daherpfiff, brachte den Verwesungsgeruch des schwarzen Kartoffelkrauts von den Aeckern. Da hörte er einen Tritt. Und er hörte das Flattern eines Mantels, den der Oktobersturm treibt.

Ein Mann kam eilig des Weges: »Dag, Müller-Hannes!«

»Wän es et dann, wän es et dann?« fragte der Blinde, die starren Augen hin und her rollend. Und dann die Hand ausstreckend, um den andern zu betasten: »Ech erkennen Euch net!«

»Laoßt noren,« sagte der Fremde und wehrte die tastende Hand ab, »ech haon kein Zeit, ech muß nao Maarfelden. Dän Noldes haot de Herzkränkt Hitziges Fieber, Lungenentzündung., dän will eweil himmeln!«

»O Jesses, Jesses!« Heftig erschrocken schlug Hannes die Hände zusammen: »Ons guden Hähr Noldes – on esu lang haon ech dän net gesiehn!« Auf einmal fiel es ihm ein: der hatte ja weißes Haar, wie sein Alter es gehabt hatte – nein, noch viel weißeres – grau war das schon dazumal gewesen, als er selber, als Junge, mit der Seph auf der Kommunionsbank gesessen. Vom Pläsier und Wohlleben war dem Noldes sein Haar nicht so weiß geworden.

»Himmeln will dän, saot Ihr?! Duh giehn ech eweil gleich mit. Waart!«

Von einem plötzlichen Wunsch lebhaft bewegt, faßte Hannes den Mantel des anderen. »Holt mech met, dat ech 'schwinder bei dän Noldes kommen! Dän moß mer noch e Händche schenken, ehnder hän bei meinen Alden in den Himmel gieht! Esu waart doch, waart! Hä, Ihr!«

Aber schon hatte der Mann mit seinen kalten Fingern des Bittenden Hand von seinem Mantel gelöst. Der Blinde hörte Tritte sich eilends entfernen, vergebens schrie er hinterdrein: »Holt mech doch mit, holt mech doch mit!«

Ganz von weitem bereits antwortete die Stimme: »On wann Ihr Euch hees heiser. schreit, ech holen Euch net mit. Ihr seid jao noch forsch, Ihr seid noch lang net müd – lauft noren noch wacker allein!«

Der Blinde stand einen Augenblick verdutzt: oh, wie unfreundlich! Er sah sich hilflos um in der herbstlichen Einsamkeit und fühlte das eiskalte Wehen des Windes, der zum fauchenden Sturm geworden, plötzlich stärker. Aber dann raffte er sich entschlossen auf, tastete mit dem Stecken, fühlte Wagengleise im Kot der Landstraße und ging tapfer darauf los, den Räderspuren nach. Ein inniges Begehren trieb ihn an; nun der Herr Noldes zu sterben ging, verlangte es ihn gar sehr, dessen Stimme noch einmal zu hören. Er lief, daß er schwitzte.

Bald war er in Maarfelden. Dort standen die Leute auf der Gasse beisammen und riefen ihn an. Sie wunderten sich gar nicht, daß auch der Müller-Hannes kam – der Tod war ins Pfarrhaus getreten, eben war ja der Herr Noldes gestorben. Mit gesenkten Köpfen standen sie und niedergeschlagenen Mienen.

Ein Kind rief: »Wän wird mer eweil ze äßen schenken, wann ech hongrig sein?!«

Und eine Mutter schrie: »Dän haot alleweil ebbes for ons Könder in der Tasch gehatt!«

»Jao, dän haot for jeden en Herz gehatt,« sprach ein Bauer.

Und ein altes Mütterchen aus dem Armenhaus fiel auf die Knie und rang die zitternden Hände:

»Wän wird mech eweil trösten in meiner letzten Not?!«

Da beweinten sie ihn alle.


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