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6.

Der Maarfeldener Noldes, wie sie den Herrn Pfarrer Arnoldus Cremer zu Maarfelden gemeinhin nannten, saß in seiner Stube und flocht eine Aalreuse. Er freute sich: Ostern war vorbei, nun mußte es bald lenzen; dann waren die Aale dick und fett, und er hoffte ihrer recht viele in den Gräben des bäuerlichen Wiesenlandes zu fangen.

Vor sich im Wasserbottich hatte er Weiden eingeweicht; sie waren schon recht storr und zerstachen ihm die Finger. Ei, nur Geduld, bald gab's ja wieder junge Ruten, die den Händen nicht so weh taten; dann wollte er wieder Körbe flechten mit Eifer und Lust, und wenn das Engelchen die dann bis nach Daun trug oder gar nach Wittlich, ei, Maria sei gelobt, da konnte sie wohl ein gut Stück Geld dafür kriegen. Dann langte es wohl auch endlich zu einem neuen Rock – der alte war zwar noch recht gut, das Engelchen hatte die blanken Nähte mit Kienruß bestrichen –, aber wenn der Herr Dechant einmal vorsprechen sollte oder gar die hohe Kirchenvisitation, dann würde es sonst doch wieder einen Wischer absetzen wegen unstandesgemäßen Auftretens.

Der alte Mann lächelte, ein bißchen Wehmut und ein bißchen Schalkheit war dabei: Jesus, wenn die Herren alles wüßten! Wer flocht denn die schönen Körbe so glatt und fein und weiß und rund von geschälten Weiden, die weithin berühmt waren? Taten das die Wichterchen in der Lay oder die weißen Frauen am Bach in den Grotten? Das war sein Geheimnis.

Nachdenklich betrachtete der Maarfeldener Noldes die Binsenschuh, die ihm an den von der Gicht geschwollenen Füßen saßen. Ja, ein Paar neue Pantoffeln täten auch not, die hier waren ganz zermürbt, das Engelchen konnte sie bei aller Geschicklichkeit nicht mehr mit hänfenem Bindfädchen zusammenflicken. Ja, ja, gut, daß es endlich Frühling ward! Aber nun hieß es auch: früh heraus, ehe noch die Hähne im Dorf den Morgen ankrähen, und zum Maar gewandert, das im Nebel verschwiegen liegt, und die Binsen geschnitten, eh's jemand sah! Sacht, nur sacht, daß der Flurwärter nichts merkte!

Mit einem zufriedenen Schmunzeln sah der Pfarrer sich um. Da waren die vier kahlen, grauen Wände, die, vom Alter rissig geworden, längst der Tünche nötig hatten; da waren der hölzerne Schemel, der hölzerne Tisch und der alte zersessene Lehnstuhl; da war das graue Maar draußen mit dem Kranz seiner nackten Höhen, aber die liebe Gottessonne glitt jetzt recht freundlich über alles. Gelobt sei der da oben, der vom Himmel herab die Welt so weise regieret, der auf den Frost Tauwind kommen läßt und auf den Schnee Sonne! Jetzt hob die gute Zeit an, nein, sie war schon angebrochen!

Nachdem so lange alles, was Gräten und Flossen hat, sich im Grunde verborgen, war ihm heute der erste Fisch beschert worden, ein Weißfisch zwar nur, aber ein großer. Wie David den Goliath mit der Schleuder, hatte er den erlegt mit einem Steinwurf, gerade als er nach einer frühen Mücke schnappte, die im Sonnengeflimmer des April überm Wasser tanzte. Herausgeholt hatte er den Erschlagenen und im Schnupftuch heimgetragen zum Engelchen.

Nun briet sie in der Küche das leckere Gericht. Ha, wie gut das roch! Pfarrer Cremers freundliches Gesicht, das immer rot glänzte – nicht vom Wohlleben, nur vom Wind und Wetter –, strahlte.

»Engelche, Engelche!« rief er nun schon zum soundsovielten Mal, »is eweil den Fisch noch net fertig?«

Die Jungfrau Engelchen trat herein. Jung war sie nicht mehr, auch nicht schön; ihren alten Kopf deckte ein Scheitel von kastanienbrauner, grobfädiger Seide.

»Dat dauert ja eso lang!«

»Noren Geduld, Hochwürden!« sprach Engelchen vorwurfsvoll und verschwand wieder.

Cremer nahm wieder seine Arbeit auf. Die harten Weiden verletzten ihm die Hände, aber er lächelte: ei, das Engelchen war klug, das wußte, wie man's macht, die Vorfreude zu verlängern! Der hungrige Magen knurrte, aber nur getrost, bald würde sie den Fisch hereintragen und ihn auf den Tisch stellen, und der kräftige Duft würde aufsteigen wie ein süßer Ruch zu Gottes Thron, zu dem Geber aller guten und vollkommenen Gabe.

Er schlug das Kreuz und faltete die Hände; er konnte vorerst ja schon mal beten.

»Komm, Herr Jesu,
Sei unser Gast
Und segne …«

Weiter kam er jedoch nicht. Draußen vor dem Fenster, das sich niedrig, nur wenig überm Erdboden erhob, tönte ein klägliches Weinen. Unruhig horchte er: ach je, da waren schon wieder die armseligen Kinder der armseligen Breuersch Leis, deren Mann sie letzthin begraben! Hatten sie denn so gute Nasen, daß sie gerade kommen mußten, nun er zu Mittag essen wollte? Er pochte ans Fensterchen und drohte ihnen mit dem Finger; als sie aber nicht weggingen, öffnete er und lehnte sich hinaus. Bleich und hungrig standen sie draußen.

»He, Ihr, wat wollt Ihr dann eweil hei, geht nach Haus bei die Mamma!«

Gerade jetzt kam Engelchen mit dem Fisch – wie fatal! Er konnte doch nicht hier innen sitzen und essen, wenn die da draußen nichts zu essen hatten!

Die matten Augen der fünf Kleinen starrten gierig durch das Fenster auf den Tisch. Der Duft des Fisches stieg lockend auf. Der Maarfeldener Noldes schnüffelte und schalt dabei:

»Eso geht doch, Ihr Kinder! Macht, dat Ihr wegkommt!«

Der Hunger zwickte ihn im Magen, die Hand zuckte ihm schon, nach der Schüssel zu greifen – wie appetitlich das Fischelchen roch! Das Wasser lief ihm im Mund zusammen – aber allein essen?! Nein! Nun, vielleicht tat der Herr Jesus auch heuer ein Wunder, wie zur Zeit der Speisung der fünftausend Mann!

Engelchen starrte mit offenem Mund; schon hatte ihr Herr Pastor die Schüssel aufs Fensterbrett gestellt, schon mit dem Messer, mit dem er die Weiden geschält, redlich geteilt: fünf Teile gab's, mehr nicht.

Was?! Was?! Engelchens Augen wurden immer starrer – weiß Gott, da hatte der Herr wahrhaftig jedem der fünf Kinder ein Teil ins ausgestreckte Händchen gelegt! Nur der Kopf blieb übrig, und den kriegte die Katze. Aller Respekt verging ihr, sie wollte zetern und schelten, aber …

»Grombieren Kartoffeln. schmecken ja auch sehr lecker,« sagte der geistliche Herr mit einem leisen Seufzer und schloß das Fenster. »Und Deine besonders, Engelche!«

 

Es war um die Stunde, da die Dämmerung im Maarfeldener Kessel alle Farben verwischt, als jemand den Klingelzug an der Pfarrei rührte. Er war verrostet und quietschte erbärmlich, ehe er sich entschloß, einen heiseren Laut von sich zu geben.

Engelchen öffnete mit verweinten Augen; sie trug Trauer um den Fisch, den ihr Herr nicht gegessen hatte. Schlechter Laune war sie, aber ihr Gesicht hellte sich auf, als sie die Frau aus der Mühle erkannte, die schüchtern nach dem Herrn Pastor Noldes fragte.

»Hän es derbinnen, elao, gieht noren erein in de Stuw,« sagte Engelchen beflissen und lächelte so süß sie nur konnte, war das doch des reichen Müller-Hannes Frau. Ach je, wenn der doch dem Herrn einen andern Fisch schenken wollte! Der konnt' es!

Unter vielen Komplimenten und »Angtrees« und »Exkusörts« stieß sie die Stubentür auf.

Der Pfarrer war wieder beim Flechten. Verlegen warf er die Weiden unter den Tisch – auf des Müllers Uferland hatte er die geschnitten, und da stand des Müllers Frau! – aber sie achtete auf gar nichts; sie war auch verlegen. Ihre samtigen Augen blickten noch tiefer nach innen als sonst, und ihre Lippen waren zusammengekniffen, wie bei einem, der weinen möchte und doch an sich hält.

Der Pfarrer dienerte vor des Müller-Hannes Frau; voller Höflichkeit nötigte er sie zum Sitzen und fragte nach dem Begehr.

Unruhig rückte die junge Frau auf dem Bretterstuhl und starrte hilflos durchs Fenster hinauf zum lichtlosen Himmel, aber Worte fand sie auch da nicht; immer wieder verschlang sie die Hände im Schoß und tat sie voneinander und zerwand ihre Finger.

Was wollte sie nur? Auch Herr Noldes fand keine Worte, bis er zuletzt sprach:

»Schönes Wetter heut!« Das Hochdeutsch ging ihm schlecht über die Lippen; dabei stockte er leicht, so wie in der Predigt.

Die Frau nickte nur und ließ dann den Kopf auf die Brust sinken.

So blieben sie wieder ein Weilchen stumm, bis der Geistliche sich endlich doch ein Herz faßte – sah die nicht aus wie eine geknickte Weide? – ihr seine Rechte auf die Schulter legte und mit der Linken ihr gebeugtes Haupt aufrichtete:

»No, wat dann?«

Da fing sie bitterlich an zu weinen; als hätten die Tränen nur auf diese Frage gewartet, so strömten sie jetzt hervor.

Was war denn geschehen? War ein Unglück passiert?!

Ach nein! Aber wohin sollte sie denn klagen gehen? Ihr Vater war weit, die Fränz noch zu dumm, die Alten im Dorfe gar zu parteiisch und die Heiligen stumm! Es tat ihr so wohl, vor jemandem zu weinen; sie weinte sich recht satt.

»Ei, wat dann, wat dann?!« Der geistliche Herr schüttelte den Kopf, rieb sich die Nase und machte: »Hm, hm!«; er konnte es gar nicht fassen, war es möglich, die hier hatte zu weinen? Des reichen Müller-Hannes Frau weinte mehr als die armselige Wittib, die Breuersch Leis?! Unwillkürlich faßte er unter den Tisch und zog wieder seine Weidenruten hervor; so beim Flechten kamen ihm immer die allerbesten Gedanken, also daß er auch jetzt sprach:

»Eweil – sagt mir ehs, warum weint Ihr dann eso, liebe Frau?«

Da begann sie zu erzählen: der Hannes kam immer später nach Haus – den ganzen Winter schon war's jedesmal Mitternacht, jetzt aber, seit der Schnee schmolz, kehrte er erst zurück beim Morgengrauen – und dann lag er bis gegen Mittag im Bett, und die Mühle feierte. Aber das würde sie ja noch alles nicht so grämen, das konnte ja auch wieder besser werden, wenn – wenn – nein, bös war ihr Hannes nicht, das sollte der Herr Pfarrer nur nicht etwa glauben, nein, gewiß nicht!

Lebhaft stimmte der geistliche Herr zu: sicher, der war gut, sehr gut, so einen Guten gab's gar nicht mehr, des hatte er Beweise. Hatte er nicht der Leis drei Taler zum Sarg des Mannes geschenkt?! Bettler gespeist und so oft was in die Kollekte gegeben?! Hatte er nicht Holz vor die Pfarrei gefahren und gar Taler regnen lassen zu Manderscheid?!

Die Frau weinte nur noch stärker. O Jesus, wie der mit dem Geld um sich schmiß, als wär's Häckselspreu! Lichtmeß hatte er nicht pünktlich die Löhne zahlen können – die Knechte mußten erst darum murren. Der Wind hatte Schiefern vom Dach gerissen – nur mit Stroh war's ausgeflickt worden. Fenster waren zerbrochen – er hatte sie nicht neu glasen lassen. Im Kuhstall tat eine neue Krippe not – mochte das Vieh von der Erde fressen! Und noch gar so viel anderes war in Unstand, er dachte nicht daran – später, später! Es wurde beiseite geschoben. Aber auf die Holzauktionen fuhr er, und Stämme wurden auf den Hof geschleift in eisernen Ketten, so groß und schwer und teuer! Und statt einer jungen Milchkuh, an Stelle der alten Bleß, wurde noch ein neues Kutschpferd eingestellt! Ob das bezahlt war, wußte sie nicht, sie durfte ihn nicht darum fragen; denn wenn er jetzt heimkam, zur Stunde, wo anderwärts die Mühlenräder sich längst drehen, die Gänge aufgeschüttet sind und das Schellchen sich meldet, ward er unwillig, empfing sie ihn nicht wie eine Braut, und war sie vor Aerger und Sorge unlustig zur Zärtlichkeit.

Ach – die schmächtige Frau rang die Hände und sah mit einem Seufzer darauf nieder –, ihr war wohl die Lust dazu vergangen. Was hatte sie getan, daß der liebe Gott sie so gestraft?! Zweimal noch nach der Fränz hatte sie Mutter werden sollen, und zweimal hatte sie so leiden müssen und hatte dann doch kein Kleines in der Wiege gehabt. Und der Hannes wollte doch einen Sohn. Ach, wenn der Herr Pastor ihr doch nur sagen wollte, was sie Uebles getan?!

»Hm, ja – hm, ne – hm, hm!« Herr Noldes stammelte verlegen. Gar manches war schon an sein Ohr geflüstert worden, von ehelichem Wunsch und ehelicher Not – aber so's einer nicht am eigenen Leibe erfährt! »Seid Ihr dann schon wallfahren gewest,« fragte er, »nach Kloster Buchholz, den Stationsweg erauf, oder nach Trier, zur hohen Mariensäul' auf dem Markusberg?«

Freilich, das hatte sie ja schon längst alles getan und gebeichtet und gebetet – ach Du lieber Gott! – aber ihr hatte der Engel noch keinen Sohn verkündet. Und sie wußte doch, hätte der Hannes einen Sohn, ach, dann würde alles besser! Sparen würde er vielleicht auch für den. So schaffte er nichts; die Fränz war ihm wohl lieb, aber er achtete sie gering. Was sollte nur einmal werden?! Die Sorge darum wurde sie nicht los, nicht bei Tag, nicht bei Nacht.

»Mir is et alleweil eso, als hing mir den Mühlstein justement überm Kopf. Als könnt hän erunnerstürzen jeden Momang. O, Jesmarijoseph!«

Der geistliche Herr schüttelte den Kopf: ei herrje, die arme Seele war ja ganz verwirrt! Der Mühlstein, und den Sohn, den sie nicht hatte, das kaputte Dach, 's liebe Vieh und den Hannes, alles das brachte sie ja durcheinander! Er rieb sich das stoppelige Kinn. Und dann, was hatte sie doch noch gesagt? Zu Lichtmeß hätte ihr Mann die Löhne nicht zahlen können? Ei, das war doch nur purer Unsinn, der Müller-Hannes sollte um Geld verlegen sein? Für den waren das doch nur ein paar Groschen, der war ja so reich! Unwillkürlich faßte er sich nach der eigenen Stirn: bei dem armen Weib war's da oben gar nicht richtig! Daß der Hannes ein Pläsierlicher war und gern eins trank, das wollte er glauben, aber war das denn so schlimm?!

»Da müßt Ihr eben Geduld haben, liebe Frau,« sagte er, »und Räsong annehmen. Ehestand – Wehestand, das mag wohl ein wahres Wort sein. Sei Sie nur recht brav und freundlich zu Ihrem Mann, da wird er auch schon zu Haus bleiben – ei, warum denn nicht?!«

Sie hatte stumm den Kopf geschüttelt.

»No sicher, er hat et da ja auch sehr gut. Wann ich bedenken, die schöne Mühl –« Herr Noldes sah sich in seiner kalten, kahlen Stube um, deren einzige Zierde ein kleines, hölzernes Kruzifix war, hinter dem ein wenig geweihter Palm steckte – »fürwahr und enklich, den hat et ja noch besser wie ich!«

»O, die Angst, die Angst,« stöhnte die Frau. Sie hörte gar nicht recht auf das, was der geistliche Herr zu ihr sprach, sondern starrte immer vor sich hin mit dem gleich zagen, bangen Gesicht.

Was wollte die nur immer mit ihrer Angst?! Angst – ei, warum denn, ei, wovor denn? Der Pfarrer fragte sie, aber sie antwortete nicht, schüttelte nur stumm den Kopf und rang die Hände.

Durchs Fenster sahen die Berge schwarz und ungeheuerlich in die Stube. Dem Noldes waren sie bisher nie düster erschienen, heute, angesichts der schwer sinkenden Nacht und dieser Frau, die wie gebrochen auf dem Schemel saß, wollte ihn etwas beklemmen. Da faltete er rasch die rauhen, von Mühsal und Körbeflechten knotigen Hände, faltete sie fest und innig, wie ein gläubiges Kind.

»Liebe Frau – ja, da muß sie beten, alle Abend, wie heut:

»Im Namen meines Herrn Jesu Christ,
Der für mich am Kreuz gestorben ist,
Leg' ich nieder mich.
Derselbe segne mich,
Derselbe wolle mich behüten in Gefahren
Und vor allem Uebel mich bewahren. –
Heiliger Schutzengel mein,
Laß mich Dir befohlen sein.«


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