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So war Müller-Hannes aus seiner Mühle gezogen. Der arme Kerl! Man sah recht an dem, wie wahr das Sprichwort ist: »Viel vertun und nichts erwerben, ist der Weg zum Verderben!« Aber daß es ihm so schlecht erging, wie jetzt, das hatte er doch nicht verdient! Es waren ihrer manche, die im ersten Sommer fleißig hinauswanderten nach dem entlegenen Abbau und ums Häuschen herum vigilierten. Wie mochte es dem Hannes drin zumute sein?!
Die Kinder belagerten förmlich den kleinen Hang mit dem grauen Nest; aber auch sie kriegten kaum jemand zu sehen, selten, daß sich die finstere Fränz blicken ließ, um an der Quelle Wasser zu schöpfen.
Wovon das arme Volk nur leben mochte?! Der Acker trug doch nichts. Der Rauch, der ab und zu aus dem baufälligen Schornsteinchen aufstieg, sah nicht aus nach vollen Töpfen; ganz dünn und mager war er und verflüchtigte sich gleich, wie ein leichtes, bläuliches Nebelsäulchen in der starken Luft. Die Ziege, die angepflöckt am Haag graste, hatte kein strotzendes Euter, und die wenigen Hühner, die beim Brunnen scharrten, fanden da keine Haferkörner. Dem dicken Fresser, der früher nur Gutes geschleckt und sogar »Schambanijer« getrunken, mochten die Happen, die es jetzt gab, wohl nicht schmecken.
Die Gutherzigkeit der Dörfler regte sich zugleich mit der Neugier. In Maarfelden und Bleckhausen, den beiden nächstbenachbarten Gemeinden, fanden sich barmherzige Seelen, die nur um einen Gotteslohn hinunterstiegen in die Schlucht, dort den einsamen, nackten Hügelkegel hinankletterten und auf der notdürftig zurechtgezimmerten Bank am Häuschen ihre Wohltaten niederlegten: Brot, Mehl, Speck und auch sonst noch allerlei. Gingen sie dann in den nahen Busch und rasteten ein wenig im Schatten, waren derweil gewiß die Gaben weg.
Der Winter machte solchen Liebestaten ein Ende; dunkle Regenwolken hingen dräuend über der Schlucht, bald schneite der Abbau ein bis zum Dach, der Weg dorthin ward fast unmöglich. In dunkelster Versunkenheit dunkler Tage und dunkler Nächte lag das dunkle Schicksal der Einsamen. Beinah vergessen hätte man sie, wäre nicht eines Mittags, blau gefroren, fast erstarrt und erschöpft zum Umsinken, ein Mädchen oben vor der Dorfwirtschaft am Eingang von Bleckhausen erschienen, hätte dort angepocht und mit zuckenden Lippen niedergeschlagenen Blickes eine Gabe geheischt.
Herrje, war das nicht die Müller-Fränz aus dem Abbau?! Der mußte es aber schlecht gehen, daß sie bettelte. Die Müller-Fränz bettelte?! Ja, ja, der Hunger treibt den Fuchs aus der Höhl! Die mitleidige Wirtin gab einen Topf Suppe und Brot. Etliche, die gerade im Wirtshaus saßen, rannten geschwind heim und holten auch etwas – es tut so wohl, den »Danke« sagen zu hören, der sich vormals nie dazu geschickt.
Kein anderer Bettler hätte so viel bekommen; beladen trat des Hannes Tochter den Heimweg an. Einige folgten ihr verstohlen von ferne und sahen, wie sie lief und dabei im Laufen schon sich vom Brot in den Mund stopfte, und dann immer schneller, schneller rannte, als sei den tiefen Schnee zu überwinden ein leichtes, weil daheim die Not noch viel tiefer.
Die Bleckhausener gewöhnten sich daran, daß dann und wann das Mädchen aus dem Abbau erschien und sich etwas holte. Aber als einst ein Bursche, dem sie gefiel, ihr nachschlich, sie von hinten her umfaßte und ihr einen Kuß aufpreßte, stieß sie einen kurzen, zornigen Schrei aus, schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht und kam nicht mehr wieder.
Der Winter war vergangen, und der Frühling war erschienen. Der Abbau sah jetzt nicht ganz so traurig mehr aus als vor einem Jahr. Die zwei Pflaumenbäume hatten heuer viel Blüten, und die Henne hatte gegluckt; zwölf goldgelbe Hühnchen piepten in der Sonne vor der Schwelle, und die Mutter lief mit gespreizten Flügeln um sie herum und schrie ängstlich, sobald ein Falke hoch in der Luft über dem Hügel stand.
Dann machte der Mann, der, einen Haselstecken zwischen den Knien, auf der Bank an der Hauswand saß, ein scheuchendes »Kß, kß!«, fuchtelte mit dem Stock und drehte den Kopf, den Gegenstand der Gefahr suchend, nach allen Richtungen.
Des Müller-Hannes Haar war weiß geworden vor der Zeit. Den ganzen vergangenen Sommer, von jenem Tage an, da er die Mühle verlassen, bis zum Herbst hatte er auf dem Bett gelegen, in einer Dumpfheit, die ihn niederzwang. Im Winter war's nicht viel besser mit ihm geworden; aber heut hatte ihn der schöne Tag herausgelockt. Er suchte die Sonne.
Warm schien sie ihm ins Gesicht; er blickte hinein, ohne zu zwinkern. Was, was war doch eigentlich mit ihm geschehen?! Wie er sich auch zuweilen besonnen hatte, es war ihm nie etwas klar geworden. Aber jetzt, so mit der Zeit, seit die Sonne so freundlich schien, heute war es ihm, als wolle sich etwas – hier – hier in seinem Schädel etwas lüften. – Er hatte etwas verloren, ja, verloren, das wußte er nun auf einmal. Aber was?! Was –?!
Mit einem Seufzer stemmte er den Stock fester ins Gras, umfaßte ihn mit beiden Händen und stützte so das Kinn darauf. Mit weit offenen Augen stierte er vor sich hin. Was war weg, was?! Viel, das wußte er jetzt. Er fühlte es an der ungeheuren Last, die er auf der Brust trug – hier – gerade wo das Herz sitzt.
Es fing an, schmerzlich in seinem Gesicht zu zucken, wie bei einem, der weinen will; aber trocken blieben die Augen in ihrer seltsam glasigen Starrheit.
Nein, nein, all das Denken half nichts, allein brachte er es doch nicht heraus. Ja, wenn noch sein Alter ihm gegenübersäße! Mit dem zusammen würde er's schon herauskriegen; so viel Verstand hatte er all sein Lebtag nicht gehabt, wie der! Aber war der nicht tot?!
»Jao, dän es eweil rips Tot ( R. I. P. S. – requiescat in pace sancta).,« sagte er laut vor sich hin mit tiefer feierlicher Stimme.
Aber dann fiel ihm ein: die Mutter lebte ja doch noch, die konnte er einmal fragen. »Modder!« schrie er. Und dann noch einmal ungeduldig: »Modder!«
»Ech sein jao schuns hei,« antwortete mit zittriger Stimme die Alte. Sie kam nicht völlig heraus aus der Hütte, die freie Luft war ihr längst nicht mehr angenehm, immer hockte sie innen; auch heute früh bei all der Sonne streckte sie nur den Kopf in der fest anliegenden Wollenhaube vorsichtig heraus.
»Modder,« sagte er, legte den Kopf ganz hintenüber und suchte sie so, »saog ehs, kannste Dech net besinnen, wat ech verloren haon? Ech haon ebbes verloren, ech haon ebbes verloren – on ech finden et net!«
Das alte Weiblein nickte eifrig: »Dau has ebbes verloren – jao, jao, – diesen Morgen – dat Dingen waor et, de Schwefelholzbüchs, für Feuer anzufänken. O Jeßmarijusep, wuh haste se dann noren hingestoch, wuh hammer se dann eweil?!« Suchend trippelte sie wieder hinein.
Der Sohn schüttelte den Kopf: nein, die Schwefelholzbüchse war es nicht, die hatte er nicht verloren, die stand auf dem Fensterbrett in der rechten Ecke. Was jetzt war, das wußte er alles ganz genau, aber was vordem gewesen war – damals – damals – was hatte er doch getan – wo war er doch gewesen – damals als – als – – –
Hier verwirrte sich wieder sein Denken. Und immer ging es ihm so; immer, wenn er etwas recht zu Ende denken wollte, wenn er zurückgehen wollte in die Vergangenheit, kam die unsichtbare Hand und schob einen Riegel vor die Tür.
Wie die Henne erschrocken gluckte! Der Grübelnde fuhr auf. Ei, da war gewiß wieder ein Hühnervogel in Sicht und bedrohte die Kleinen. Hatte die Fränz nicht gesagt, bevor sie auf den Acker ging: »Vadder, gief Obacht, dat dän Huwei Habicht. keins von ons Hünkelcher krieht!«
»Ksch, ksch, schärste Dech! Ha, hätten ech eweil noren mein Gewehr, ech wollten dat Luderzeug schuns erunner knallen!« Oder wenn er nur seinen Nero hätte! Aber den hatten sie ihm niedergeschossen vergangenen Winter, als das hungrige Tier auf verbotener Jagd pürschte.
Hannes drohte mit dem Stock wieder nach oben; jedoch den Habicht, der beutegierig in der Luft stand, störte das Fuchteln nicht. Schon ließ er sich ein Stück niederfallen – jetzt beschrieb er tiefere und tiefere Kreise – die geängstigte Henne, die Flügel spreizend, die nicht alle ihre Kinder zu decken vermochten, riß den Schnabel auf und drängte sich dicht an den Menschen.
Da lockte der Mann: »Komm, put, put, put!« Und sich bückend, tastete er, bis er die flaumigen Küchlein fühlte. »Esu en klein winzig Dingelche!« Noch nie hatte er etwas gleich Weiches in der Hand gehalten. Vorsichtig streichelte er mit dem Zeigefinger seiner riesigen Hand über das gelbe Federbällchen.
Oben stieß jetzt der Habicht seinen häßlichen Schrei aus; da steckte der Mann rasch das erste Küchlein sich vorn zwischen Hemd und Wams und tastete wieder und lockte: »Put, put,« und suchte weiter, laut zählend: »Eins, zwei drei« – und so fort, bis daß er alle zwölf an seiner Brust geborgen hatte.
Regungslos saß er dann. Still, daß er nur keines quetschte! Er fühlte das warme hilflose Leben an seiner Brust, und das tat ihm gut. Ei, wie sie sich duckten, wie sie zufrieden piepten! Denen war wohl.
Er lachte auf einmal übers ganze Gesicht: ja, so hatte er manchem geholfen – früher! Früher, da war kein Bettler von seiner Tür gegangen, – dazumal – als die Sonne schien und das Bächlein lustig murmelte.
»Ach – –!« Einen langen Seufzer ausstoßend, rückte der plötzlich Unruhiggewordene auf der Bank hin und her.
Der Bach – der Bach – floß der nicht an einer Mühle vorbei? Und die Mühle – die Mühle – war sie nicht die schönste, die stattlichste gewesen eifelauf, eifelab?
Mit einem kurzen Aufschrei schlug er sich jählings vor die Stirn: »Hannes, wuh waorste, wuh biste dann gewesen all die Zeit?«
– – – Es war einmal ein übermütiger Bursche, der sprang in den tiefen Berg, darin die Zwerge hausen, und als er wieder herauskroch, waren hundert Jahre vergangen – nein, nur eins, aber das war wie hundert! »Hunnert Jaohr – hunnert Jaohr!« Ratlos schüttelte der Altgewordene den Kopf. Es war etwas Hilfloses in dem unsicheren Umhergreifen seiner Hände. Wo, wo war die Zeit hingegangen – wo – wohin die Mühle?!
Er fuhr auf. Die Henne, die bis dahin, still geduckt, sich neben ihm auf der Bank gesonnt hatte, lockte jetzt wieder ihre Kleinen, und die jungen Küchlein krabbelten unruhig im Versteck seines Rocks. Da riß er sie aus dem Busen – nicht unsanft setzte er sie zur Erde, aber ungeduldig – seine Augäpfel, deren starres Blau kein Licht und auch keine Trübung zeigten, rollten von einer Seite zur anderen: die Mühle, die Mühle, wenn er nur wüßte, was mit der Mühle geschehen?!
»Et es ebbes passiert, ech weiß net wat – ech haon ebbes verloren, ech weiß net wat! Vadder, Modder, Tina, wißt Ihr et all net?!«
Er versuchte hastig ein paar Schritte, und in Hast tappte er weiter. Bis zum ersten Pflaumenbaum kam er; da stieß er aber schon an, und die weißen Blüten beschütteten ihn. Zurückweichend tappte er wieder mehrere Schritte – nun rannte er hart gegen die Hauswand.
»Fränz, Fränz!« Er rief, aber die Tochter hörte nicht. Da suchte er wieder seinen früheren Sitz, und auf die Bank niedersinkend, murmelte er: »Ech haon ebbes verloren – ech haon ebbes verloren – ech finden et net!«
Die Sonne, die bis dahin mit ihrem vollen Nachmittagsglanz dem Hügel gegenübergestanden, zog sich allgemach langsam hinter den waldigen Vorsprung der nächsten Schlucht zurück. Aber es blieb noch warm, selten lind; mit weichen Händen strich die Luft um das graue Haus und um den grauen Mann. Das stopplige Kinn auf den Stecken gestützt, verharrte er nun unbeweglich.
Die Henne hatte ihre Küchlein hinein in die Hütte geführt; in der Stube, bei der Feuerstelle ließ sie sich nieder, plusterte die Flügel, und die müden Kleinen suchten darunter die Ruhe. Aber draußen in den Haselbüschen, die wie vereinzelte Schöpfe aus dem kahlen Hügelschädel aufsprossen, zwitscherten noch die kleinen Grasmücken; und von überall, aus dem Grund, aus der Höhe, klang ein leises, unausgesetztes Singen – kein Nachtigallenschlag – bescheidenere Mailieder waren es, aber doch süß wie jener.
Im feuchten Wiesenrain, tief unten am Bach, huben jetzt die Frösche an. Horch! Der Einsame rührte sich; er hob nicht den Kopf, merkte aber doch auf: was waren das für seltsame Stimmen?! Vertraute Stimmen! …
Wenn an lauen Abenden die Fenster der Mühle offen stehen, wenn das Mühlrad ruht und aller Lärm des Tages, dann stimmen die Frösche an unter den großen Klettenblättern bei den großen Steinen des Maarbaches, in den die blauen Vergißmeinnicht nicken. Und das Wasser hüpft dazu, es raunt und rauscht. Was raunt es doch?! …
Es eilt an der Mühle vorbei und sieht einen lustigen Mann und eine blasse Frau und noch viel anderes: die Fränz, das Klavierchen, Knecht und Magd, den Nero, die Pferde und das Chaischen. Der Nero bellt, das Klavierchen spielt, und der Mann und die Fränz tanzen – ha, wie schön! …
»Kuckuck!«
Ein Kuckuck ließ sich jetzt plötzlich hören im linken Buschgehänge der Schlucht. Und nun schrie rechts gegenüber ein zweiter, im jungen Erlenbestand gen Bleckhausen hinauf. Sie riefen sich zu:
»Kuckuck?«
»Kuckuck!«
Es war ein Fragen und Antworten im selben Ton, das kein Ende nahm.
»Kuckuck – Kuckuck – Kuckuck!«
Der Mann auf der Bank hatte plötzlich beide Hände gehoben, die zitternden Finger streckte er bittend in die Luft:
»Wievill rüfste, Kuckuck, wievill?«
Er lauschte, alle Züge im Horchen straff gespannt.
»Eins – zwei – drei – vier!« Zusammenschauernd wie im Frost, ließ er jetzt die erhobenen Hände sinken. »Hu, ech zählen net weiter, ech sein net esu kühn!«
Die Hände schlug er vors Gesicht und tat sie nicht mehr herunter. Regungslos saß er so, mit vorgebeugtem Haupt, ganz in sich zusammengesunken.
Der Kuckuck hüben und der Kuckuck drüben wurden nicht müde. Es war im Mai, und es war ihr gutes Recht, im junggrünen Wald sich auszuschreien in Lebens- und Liebeslust; alle kleineren Sänger waren nun schon verstummt und ins Nest gekrochen, aber sie riefen, halb verschlafen zwar, aber doch noch deutlich, im Hochgenuß, sich allein zu hören: »Kuckuck!«
Wer sollte sie scheuchen? Weit hinter diesem runden Bergbuckel lag Maarfelden, und weit hinter jenem: Bleckhausen. Nur die Dämmerung schritt auf leisen Sohlen durchs Herz der Schluchten. Die Blumen: das Hundsveilchen, der Wiesenschaum und die blasse Anemone, blühten stumm; die Schlehenbüsche, die, weißen Wölkchen gleich, an den Felsrutschen kleben, froh, daß sie Fuß gefaßt haben, rührten sich nicht.
Die Sonne war versunken. Der Kahn des Mondes schwamm herauf im zarten Silbergraublau. Noch immer saß der stille Mann auf der Bank an der Hüttenwand, und noch immer rief der Kuckuck. Aus dem Schornstein des Häuschens stieg jetzt das leichte Räuchlein eines wenig gehaltvollen Reisigfeuers, und jetzt ertönte hinter dem Haus, den Hügel hinauf, der derbe Tritt eines nägelbeschlagenen Schuhs.
Vom kleinen Acker, der zum Abbau gehört, kam die Fränz heim. Ein großes Grastuch, vollgestopft mit allerlei Kräutern zum Futter für die Ziege, hatte sie aufgehuckt. Es war eine schwere Last, die die Schultern nach vorn drückte und den Kopf duckte. Allerhand Blumen, beim Futterschneiden mit ausgerauft, hingen dem Mädchen gleich bunten Fransen tief in die braune Stirn. Mit einem Aufatmen lockerte sie jetzt den Traggurt, der ihr die Brust eingeschnürt, und warf mit einem Ruck ihre Last bei der Bank nieder.
»Hä, Vadder! 'n Aowend! Wat michste dann eweil?« Wie einem Kind, so strich sie ihm die Haare aus der Stirn. »Schien Wäder heut – äwer warm – gel?« Mit dem Rücken der Hand wischte sie sich den Schweiß ab, der ihr reichlich über das sonnverbrannte Gesicht rieselte, und dehnte die vom Tragen steifgewordenen Glieder. »Ech sein et eweil noch net esu gewöhnt,« sprach sie, wie entschuldigend, zu sich selber; und dann zum Vater:
»Komm erein, mir wollen eweil ässen!«
»Hör,« sagte er plötzlich und faßte hastig nach ihrem Rock, »hörste, Fränz, dän Kuckuck?«
Sie nickte gleichgültig: ja, der würde jetzt alle Tage schreien, 's war ja Frühjahr. »Komm noren,« mahnte sie nochmals und bot ihm die Schulter zur Stütze.
»Hör, Fränz, hörste?« murmelte der Mann unruhig. Heute folgte er der Tochter nicht, wie er ihr sonst immer folgte, sich auf ihre Schulter lehnend, heut war er's, der sie zog. »Setz Dech!« Es war eine seiner alten befehlenden Bewegungen, mit denen er neben sich auf die Bank wies. Und als sie sich setzte, verwundert ihn ansehend – lange, sehr lange war sie keinerlei Selbständigkeit bei ihm gewohnt gewesen – fragte er noch einmal: »Hörste dän Kuckuck?«
»Jao, jao!« Was wollte der Vater nur, was hatte er denn wieder? Eine Angst kam das Mädchen an: fiel wieder die alte, schreckliche Unruhe über ihn her?!
Aber er nickte still vor sich hin und lächelte. Dies Lächeln tat der Tochter auf einmal bitter leid. Sie faßte seine Hand und sah ihm ins Gesicht: »Vadder, laoß doch dän Kuckuck schreien! Saog, wat haste dann eweil?«
Da drückte er ihre Hand mit ungewohnter Kraft. »Ech weiß, wat ech verloren haon – ach, ech weiß et, ech weiß et. Dän Kuckuck, dän rüft … dän Kuckuck an der Wand … dän … dän …« Er verfiel in ein undeutliches Murmeln.
Hastig faßte Fränz ihn an der Schulter. Jesus, wollte er nun wieder sein wirres Lallen anfangen, das sie so oft geängstigt?! Sie rüttelte ihn: »Vadder, Vadder, de Supp es eweil färdig. Haste dann net Honger? Vadder, komm ässen! Vadder!«
Aber er schüttelte sie ab. »Ruhig,« sagte er mit harter, starker Stimme, »ech weiß eweil, wat ech verloren haon. Ech weiß eweil alles. Dän Müller-Hannes haot sein Mühl verloren, on« – eine kurze Pause machend, wendete er ihr das Gesicht voll zu und suchte sie mit dem erloschenen Blick seiner starren Augen – »on dän Müller-Hannes es eweil blind.«
»Vadder!« Sie schluchzte laut auf, ein mitleidvolles Weinen kam sie an.
Da klopfte er sie auf den Rücken: »No, no, Fränz, bis still!« Er spuckte aus: »Dän Deiwel soll die holen, die ons in die Bredullich gebraach haon!« Und dann wurde seine Stimme weicher: »Jao, jao, esu sein de Fraleider, alleweil gitt et Gekrisch! Kreisch net, Fränz! Ech kreischen aach net. Noren um eins es et mer esu leid: dat ech ons alden Kuckuck kaputt geschlaon haon. Wie hän am Boden lag, duh haot hän mech noch esu deierlich angekuckt!«