Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12.

Hannes hatte geglaubt, die Bank habe nur von weitem nach seinem Holz geschielt und behalte das bloß im Auge zur Sicherheit für die fehlenden Hypothekenzinsen; jetzt mußte er eine gewaltige Enttäuschung erleben. Ein Beamter war gekommen, hatte Stapelholz und Stammholz abgeschätzt, und im Wittlicher Kreisblatt hatte die Bank gleich danach eine Anzeige erlassen, daß sie soundsoviel Holz, lagernd auf dem Grundstück des Müllers Kirchweiler zu Maarfelden, zum Verkauf ausbiete.

War's möglich, das schöne Holz, das er um so vieles teuerer bezahlt hatte – fünfhundert Taler mindestens war's wert –, sollte wegen der lumpigen zweihundertundvierzig zum Teufel gehen?! Hannes war außer sich: sein Holz, sein schönes Holz!

Das durfte nicht geschehen, das konnte ja gar nicht geschehen, da mußte sich ein anderer finden, der für ihn einsprang und der Bank ihre Forderung bar zahlte. Pah, eine Kleinigkeit! Er hatte ja Freunde! Da waren so viele, die mit ihm getrunken hatten.

Die Zeit drängte – jeden Augenblick konnte einer kommen, ihm's Holz vor der Nase fortholen – so fuhr Hannes umher, von Bleckhausen nach Daun, von Daun nach Manderscheid, von Manderscheid nach Großlittgen, von Großlittgen nach Eisenschmitt, von Eisenschmitt nach Bettenfeld, von Bettenfeld wieder heim – niemand konnte ihm aushelfen. Als sei alles Geld auf einmal aus der Eifel verschwunden, so war's.

Zweihundertvierzig Taler – lumpige zweihundertvierzig Taler –, die sollten nicht aufzutreiben sein?! Die Zähne zusammenbeißend, knallte er auf die Pferde. Die armen Tiere waren abgetrieben, er ließ ihnen kaum Zeit zum Fressen. Wieder fort und wieder bergauf und bergab! Das Geld mußte her, das Geld! Aber überall ein bedauerndes Achselzucken, ein klägliches:

»Mir haon sälwer neist!«

Und sie hatten doch was, er wußte es ja, sie wollten nur nicht! Da gab er das Suchen nach freundschaftlicher Hilfe auf.

Das Gesicht hochrot und gedunsen, – die jähe Angst, die das Weib in ihm geweckt, war ihm zu Kopf gestiegen und arbeitete da hinter der zusammengezogenen Stirn und klopfte hinter den Schläfen, als sollten sie springen, – kam er zum Alten im Dorf. Der würde schon noch etwas haben; und der war ja sein Vater, der ließ ihn nicht im Stich! Ziemlich sicher forderte er Hilfe.

Aber Matthes war unwirsch: zweihundertvierzig Taler! Was fiel ihm ein?! Und die Mutter mischte sich mit Klagen drein: sie wollten doch auch leben!

»Schreiw am Tina sein Vadder,« riet der Alte und wurde ganz vergnügt bei dem Gedanken, einen Ablenker gefunden zu haben. »Dän haot jao des Gäld genug – schreiw noren, schreiw!«

Ja, das war eine gute Idee: der an der Mosel mußte herausrücken, konnte es ihm ja von der Erbschaft abziehen. Aber schreiben dauert viel zu lang, weit besser man fuhr sofort selber hin und holte sich gleich das Geld. Rasch, rasch, da war keine Zeit zu verlieren!

Spornstreichs lief Hannes nach Haus zurück; er fühlte sich wie von einer körperlichen Pein erlöst. Von weitem schon schrie er dem Knecht, den er auf dem Hof hantieren sah, zu: »Wit, wit, angespannt, eweil gitt et gefaohr!«

Doch ehe er noch seine Haustür gänzlich erreicht hatte, hörte er ein Klagen und Weinen; das schallte aus der Mühle heraus und durchschnitt jammernd die Luft. Es waren die Stimmen von Tina und Fränz.

Innen im Zimmer saß die Frau, den Kopf auf den Tisch gelegt, und schluchzte herzbrechend. Fränz stand neben der Mutter und weinte zur Gesellschaft mit. Der Hund, der sonst immer beim Ofen lag, hatte sich in einen Winkel verkrochen, als sei es ihm nicht geheuer. Auf dem Tisch lag ein Brief.

»No, wat es dann eweil schuns widder los?« fragte Hannes. Aber er fragte es nicht in dem früheren, ungeduldig-grollenden, sondern in einem gedrückten, fast scheuen Ton, fühlte er doch eine Schuld gegen sein Weib auf dem Herzen. Noch hatten sie kaum miteinander gesprochen seit jenem bösen Abend; die Frau hatte das Ehebett verlassen und sich mit der Fränz in der Giebelstube einlogiert, des Mannes Lager war unten aufgeschlagen.

»Tina, no – no, wat dann?« Er wagte es, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Da weinte sie nur noch stärker, sah nicht auf, sondern wies mit zitterndem Finger vor sich auf den Tisch.

Aha, der Brief! Er nahm ihn.

»Kotzdonner, dat aach noch!« Das fuhr ihm so heraus. Welch ein Pech! Was nun?! Der Alte an der Mosel war krank, sehr krank. Jetzt gerade! Er lag im Krankenhaus, da stand's von fremder Hand geschrieben.

»Hän is schon net mieh bei sich,« fing Tina an zu klagen. »Oh, mein Vadder, mein Vadder!« In leidenschaftlichem Schmerz begann sie die Hände zu ringen.

So hatte Hannes seine Frau noch nie gesehen. Auch er begann zu zwinkern und etwas Nasses im Auge zu fühlen. Eine Ahnung dämmerte ihm, daß die hier um ihre letzte Zuflucht jammerte. Ein plötzliches Mitleid mit ihr quoll in ihm auf; so sacht er konnte, strich er ihr übers Haar:

»Tina, kreisch doch net esu, hän kann jao noch ehs besser gänn!«

»Ne, ne!« Sie duckte scheu den Kopf unter seiner Berührung und sank wimmernd in sich zusammen: »Oh, Vadder, Vadder!«

Ihr Ton schnitt Hannes ins Herz; für den Augenblick hatte er seine eigene Bedrängnis ganz vergessen, vorerst kam ihm auch gar kein Gedanke an die rettende Erbschaft.

»Tina,« tröstete er, »die Nonn schreiwt doch: noch es Hoffnung miëlich!«

»Ne, ne!« Sie schüttelte verzagt den Kopf. »Oh, Vadder, Vadder!«

Sie hatte keine Hoffnung mehr. Und nun sah er's, sie hatte bereits ein schwarzes Kleid angetan, wie zur Trauer.

Draußen peitschte eisiger Winterregen die kahlen Bäume und trommelte auf dem Mühlendach; ein schwerer, grauer Tag kroch müde dahin. Durch die angelaufenen Scheiben drang kaum ein Lichtstrahl in das Zimmer. Hannes wischte sich ein Guckloch und schaute hinaus zu den langsamen, schwarzen Wolken über den schwarzen Hängen und wieder zurück auf die schwarze Trauernde am Tisch. Ein Frösteln lief ihm über den Rücken.

»Tina, eweil wirste woll dat Chaische gebrauche, dau wirs doch Deim Vadder gären de Augen zuduhn?« sagte er kleinlaut.

Sie nickte heftig; zum ersten Male sah sie ihn wieder an, und er erschrak über ihren leeren Blick. Es war keine Hoffnung mehr darin – was, sollte auch er, auch er nicht mehr hoffen dürfen?! Doch, doch, jetzt erst recht! Sich aufraffend, schrie er im alten, forschen Ton, dem sie zu gehorchen gewohnt war:

»Tina, wit! Et es schuns angespannt! Ech faohren met!«

 

Trotz aller Eile hatten sie den Alten an der Mosel nicht mehr am Leben gefunden. Wer konnte es dem Hannes verdenken, daß er nun, da er dem wie friedlich Schlummernden die Hand auflegte, bei sich selber dachte: der ist just zur rechten Zeit gestorben! Der Alte hier mit dem griesgrauen Haar hätte doch keine Freude mehr am Leben gehabt, dem war wohler beim Halleluja der Engel. Aber ihm, ihm – und ein lange nicht gehabtes Siegesgefühl schwellte des Hannes breite Brust – ihm kam jetzt die Erbschaft zupaß! »Eweil sein ech aus der Bredullich!«

Und wenn's auch nicht viel war, wenigstens lange nicht so viel, als man sich früher gedacht, und als der alte Schlaufuchs bei der Verheiratung seiner Tina hatte durchschimmern lassen, so viel würde es doch immerhin sein, um sich fürs erste die dringendsten Forderungen vom Halse zu schaffen: die Bank, den Pferde-Leiser, und um ein paar andere kleinere Löcher zuzustopfen und noch etwas bar übrig zu behalten.

Herrgott! Fast hätte Hannes einen Freudenschrei ausgestoßen: nun konnte er auch sein Holz behalten, sein schönes Holz, oder es doch wenigstens zurückkaufen! Er sagte dem toten Schwiegervater im Grabe so freiwillig und so von Herzen gern Dank, wie er noch nie einem Lebenden gesagt hatte.

Was würden sie nun sagen, die Schandmäuler, wenn er heimkam, den Sack voll Geld?! Nun brauchte er keine Freunde mehr. Hei, was würde sich der Laufeld ärgern, daß der Müller-Hannes wieder obenauf war! Jetzt konnte er getrost Ernst machen und die Prozeßgedanken gegen den Schleicher wieder aufnehmen, die ihm abhanden gekommen waren in der Not der letzten Wochen. Für gutes Geld findet man schon einen guten Advokaten. Und die Müller oben am Bach?!

No, das war nun vergessen; wenn sie ihn auch geschädigt hatten, mochten die vorderhand noch bleiben – arme Teufel mit Weib und Kind – die waren nur vom Laufeld angestiftet, die jagt man aber darum doch nicht gleich von Haus und Hof. Die wollten auch leben! 's war wirklich nicht uneben, sich mit ihnen zu einigen. Und die würden schon kommen, ihm das erste Wort geben, war er doch jetzt wieder der Müller-Hannes, der Müllerkönig, vor dem man den Hut abzieht.

Eine große Weichheit und ein großer Hochmut füllten die Seele des Hannes, der nun zu Alf an der Mosel ein paar müßige Tage versaß, auf die Erbschaft des Schwiegervaters wartend.

Sie ward ihm – aber, o weh! Die Erbschaft betrug nicht einmal so viel, als was er im Mindestfall erwartet hatte. Die zweitausend Taler, die ihm Tina einst von ihrem Vater erbettelt, hatte dieser aufgenommen gehabt als Hypothek auf sein Grundstück; die vom Schwiegersohn nie gezahlten Zinsen waren dazugeschlagen, nichts war nun schuldenfrei übrig als das Stückchen Weinberg, das schon jahrelang keine nennenswerten Erträge abgeworfen hatte. Wie ging das nur zu?! Es war unbegreiflich, wie konnte der Alte sich nur so verwirtschaftet haben?!

»Esel! Schafskop! Bedrüger!«

Tina zitterte unter einem Wutausbruch ihres Mannes.

Unaufhaltsam flossen ihre Tränen, als sie nun wieder auf dem Wägelchen saß zur Heimfahrt. Alle die Tränen, die sie als Braut nicht geweint, da sie dieser selben Straße gezogen, mußte sie nun weinen. Und noch viele mehr. Sie konnte nichts tun, als immerfort weinen und beten.

Er sprach kein Wort mit ihr, er war ihr böse. Wie ein Häufchen Unglück, wie ein schwarzer Schatten kauerte sie neben ihm.

Und der Himmel weinte auch; er konnte sich nicht genug tun, all sein Wasser auszuschütten.

Unten im Moseltal war es noch leidlich gewesen, aber oben auf der Eifelhöhe sauste der Sturm. Der schwachen Frau fror das Herz im Leibe. Jedoch der starke Mann fror nicht minder. Sie fuhren über Heiden, auf denen die Winde heulten, als jagte das Wodesheer in der Luft; sie fuhren durch die Weltabgeschiedenheit von Dörfern, die den Winterschlaf träumten; sie kamen am einsamen Pulvermaar vorbei, und Tina hüllte sich schaudernd fester in ihr Tuch: bald würden sie wieder an jenem anderen Maar sein, an jenem noch viel düstereren, noch viel traurigeren, das ihren Mühlbach speiste mit seinem schwarzen Wasser. Ihr graute vor der Mühle.

Hannes hätte gern Manderscheid vermieden, es war ihm höchst fatal, das zu passieren; aber es half nichts, er mußte durch. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß es schon Nacht sein würde und bei dem bösen Wetter niemand mehr auf der Gasse. So war es auch; und doch klopfte sein Herz, als er beim ersten Haus einbog, und klopfte noch stärker, als er hinter des Laufeld Fenster Licht schimmern sah. Da saß der Schleicher gewiß in der Stube, wo sein Klapperkasten von Klavierchen stand, und rechnete und rechnete. Wenn er sich nun aber am Ende doch verrechnete?! Wenn die Schlinge, die er über des Müller-Hannes Kopf geworfen, nicht so eng zugezogen war, als er gehofft?! Wenn der nun doch noch einmal entwischen würde?!

Hannes hatte noch nicht alle Hoffnung aufgegeben. Ihm blieb ja noch der Alte zu Maarfelden. Er sehnte sich ordentlich, seinen Vater zu sprechen.

Die müden Gäule mußten noch einmal all ihre Kräfte aufraffen, um die langen Kehren ins Tal der Kleinen-Kyll rasch genug zu nehmen. Aber so rasch ging's doch nicht wie dazumal, als der junge Hannes sich sein junges Weib heimgeholt in bräutlicher Maiennacht. Dazumal sprachen alle Quellen, alle Bäume, die Sterne am Himmel, die Mondesstrahlen auf Berg und Tal, alles, was grünte und blühte, die ganze frühlingstrunkene Natur. Alle Kreatur war glückberauscht; jetzt litt sie stumm.

Dazumal war es auch ein anderes Pferdchen gewesen, nur eines, und noch ohne Silbergeschirr, aber eines mit barbezahltem Hafer im Bauch. Und die zwei, die es hinabgezogen, waren auch andere gewesen. Nur der Mosenkopf schaute heut wie damals nieder.

Hannes sandte einen kurzen Blick hinauf; heute hatte er kein freundliches Grüßen für den heimatlichen Berg. Vom trotzigen Gipfel herab kam der Wind gefahren und pustete dem Mann in das trotzige Gesicht und spielte wild mit den Haaren, die nun schon grau wurden.

Drunten im Grund tauchten jetzt die weißen Mühlen auf, selbst bei der Nacht kenntlich durch den Stern des Lichtes, der aus den Fenstern der Mahlstuben strahlte. Hannes lauschte: die Wasser rauschten, die Räder drehten sich.

»Vermaledeit!« Mit einem Fluch riß er die Pferde zurück – schon hing ein Rad über dem Abgrund, nicht viel und der ganze Krempel wäre zum Teufel gestürzt. Ha, die da, die da unten fraßen ihm sein Brot selbst bei Nacht!

Und doch konnte er sich nicht von dem Anblick trennen. Er hielt oben am Absturz, dicht am gefährlichen Rand; die Augen drangen ihm fast aus den Höhlen, so strengte er sie an, um nach dem Stern zu sehen, der drunten im Grund flimmerte. Seine eigene Mühle war dunkel, die verschlief die Nacht – ja, er hatte jetzt nicht einmal mehr am Tag Arbeit. Woher kam das nur?! Woher –?! Ei, weil sie ihm alle zuwiderstrebten, weil die kleinen Hunde immer ankläffen gegen die großen. Er sah es ja: kam sein Nero ins Dorf, gleich hatte er all die gemeinen Köter hinter sich, sie knurrten und belferten und bellten, schnackten ihm nach den Beinen und erhoben einen Höllenskandal; aber der tat, als ginge ihn das alles nichts an. Wahrhaftig, der Nero war ein vernünftiges Vieh, der gab Menschen ein Beispiel. So mußte man's machen!

Und Hannes räusperte und spuckte im Bogen hoch vom Berg herunter in den Grund, den Mühlen auf den Kopf.

Aber es hatte ihn doch nicht erleichtert; noch immer spürte er die Last, hier, hier vorn, den eisernen Reifen um die ganze Brust. Wenn der doch nur spränge! Er drückte ihn sehr. Seine Augen brannten, als er in der Dunkelheit weiterfuhr. Da war nun kein Licht mehr, gar keins; die Wagenlaterne hatte der Wind gelöscht, selbst der spärliche Schein, den sie voraus auf den Weg warf, fehlte heute. Und am Himmel kein einziger Stern. Nur wenn Hannes zurücksah, blinkte der Mühlenstern. Gut, daß eine Krümmung der Straße ihm nun auch den entzog! So war's recht, nur hinein in die Schwärze, immer stracks hinein, die Pferde kannten den Weg, und noch hielt er ja die Zügel in nerviger Faust.

Ganz versunken, abseits vom Weg lag die Maarfeldener Mühle. Weiß Gott, hätten die Pferde nicht von selber angehalten, der Herr wäre wohl gar vorübergefahren am eigenen Haus, als sei da schwarze Leere. – –

Am folgenden Morgen war's – die Frau lag noch im Bett, sie fühlte sich krank und elend –, daß der Müller sich früher heraus machte denn je; ihn trieb die Unruhe. Aber er sah nicht nach dem Knecht, der faul und untätig herumlungerte – jetzt war bloß noch dieser eine da –, er guckte auch nicht in den Stall nach den Pferden, die heute besonderer Pflege bedurft hätten nach der gestrigen schweren Fahrt. Er nahm auch kein Frühstück, die Frau war ja nicht auf, ihm seinen Kaffee zu machen, und die Mehlsuppe, die die Magd für die anderen kochte, stand ihm nicht an; er eilte nur, daß er ins Dorf kam zu seinem Alten.

Es war heut ein lichter Tag, gegen Morgengrauen Frost gekommen; alle Wege, die gestern im Wasser gespiegelt, spiegelten nun in Glätte. Hannes rannte Trab wie ein Junge und schnaufte und pustete. Argwöhnisch flog dabei sein Blick umher, und er horchte gespannt: kam von irgendwo etwa ein Schellenklingeln? Wenn einer Holz gekauft hätte, heute wäre just ein Tag, es zu holen, heute schaffte man es leicht fort auf gleitendem Schlitten.

Wie eine jähe Schwäche kam es plötzlich über den schweren Mann; alles Blut schoß ihm vom Herzen nach der Stirn und machte ihn schwindelig. Er taumelte und mußte sich an ein Felsstück lehnen. So hatte es ihn schon einmal überkommen, ganz ähnlich, oben beim Bürgermeister in der Amtsstube. Kotzdonner, wie unangenehm! Er stöhnte und faßte sich nach Stirn und Augen – so, so, ein paar Atemzüge – gottlob, jetzt kam ein Schweiß! Jetzt war es ihm schon wieder leichter, er konnte es fühlen, wie das Blut langsam zurückebbte. So – noch ein paar Augenblicke Rast!

Nun war ihm wieder besser. Aber eine selten lästige Empfindung blieb doch zurück. Ja, das geht nicht mehr mit dem Rennen, wenn man so schweres Kaliber ist und über die Vierzig hinaus!

Langsamer setzte er seinen Weg fort.

Die Alten im Dorf lagen noch zu Bett, in der Stube war eine beklommene Luft; gleich wurde es Hannes wieder schwindelig, er mußte sich setzen.

»Jesses, Hannes, biste krank?« fragte die Mutter. Und der Alte setzte sich im Bett auf und betrachtete seinen Sohn. Der gefiel ihm gar nicht recht – so echauffiert, als hätte er zu viel getrunken! War es gute Kunde, die er von der Mosel mitbrachte, oder nicht gute? Er wurde nicht recht klug aus dem Gesicht seines Jungen.

»No, saog doch, Hannes – ech kondolieren Der aach, Jesses nä, ech denken, ech hören net rächt, als ech et zu wissen kriehn, dän Nelles es dud – Hannes, ech gradelieren Der aach, eweil biste aus aller Bredullich! Saog, haot hän brav hinnerlaoß?! Wat?! Jao – nä?«

Der Alte brannte vor Neugier, aber er bekam keine bestimmte Antwort. Der Sohn zuckte nur die Achseln, und dann war er plötzlich mit einem großen Schritt beim Bett des Vaters und packte dessen beide Hände mit seinen beiden Händen, als klammere er sich daran.

»Vadder,« sagte er hastig, und seine sonst so laute Stimme klang gedämpft, als solle sie keiner hören, »Vadder, Dau mußt mer helfen. Helf mer, leih mer de zweihunnerdonvierzig Dahler!«

»Wat?« Der Alte riß die Augen groß auf. Was – was?! Er verstand den Sohn gar nicht. Der hatte doch jetzt geerbt. Und von ihm wollte er doch noch borgen, von ihm, der ihm alles hingegeben hatte: die Mühle, die er noch selber hätte bewirtschaften können, die Pferde, die Reputation, und einen Taler nach dem anderen!

»Vadder,« flüsterte Hannes, »leih mer de zweihunnerdonvierzig, noren für den Momang, sons gänn ech mein Holz quitt, mein schien Holz! Vadder, hörste?« Er rüttelte den Alten.

»Biste doll?« sagte der. »Ech weiß net, wat Dau wills – en reiche Mahn biste, on vom armen borgste?«

»En reiche Mahn?!« Hannes schlug plötzlich eine dröhnende Lache auf.

»Dau wills mech woll für en Narr haalen?« Nun lachte Matthes auch auf. »Wann De eweil net bar Gäld has, borgt der dat doch jeden. Uf de Aerwschaft hin es dao jao neist bei riskiert.«

»Aerwschaft – Aerwschaft – laoß mech zufrieden mit der Aerwschaft!« Hannes faßte sich nach dem Kopf, ihm kochte das Blut. Und nun fing er an zu schreien: »En Dreck es de Aerwschaft, ech sein befautelt, bedrogen – kein bar Gäld, nor dat lausig Haus on dän Weinberg, dän Essig drägt! Mir wollen siehn, wat derbei erauskömmt, wann dat versteigert gieft – ech laossen et verauksionieren! On die Zweitausend, die dazumaol dat Tina es holen gewest bei sei'm Vadder, haot dän Alden ufgenomm uf sein Haus; eweil es dao en Hypothek druf, die muß noch ausgezahlt gänn. Kotzzackerlot, wann ech dadran nor denken!« Er ballte die Fäuste und schlug sich vor die Stirn. »Hal Dei Maul von der Aerwschaft!«

Ganz entgeistert starrte der Alte den Sohn an; und dann sah er stumm zu, wie der mit großen Schritten durch die Stube rannte, immer auf und ab, wie ein Tier im Käfig, immer hin, her und her, hin.

Die Mutter begann zu weinen. Und als Hannes nun sein wildes Rennen anhielt und nochmals vorm Vater stand, halb bittend, halb verzweifelt fordernd: »Mei schien Holz – de Bank verkauft et mer für der Nas' – leih mer doch de zweihunnerdvierzig – Dau mußt se mer leihen –,« hub sie mit an zu quälen: »Leih ihm doch dat Gäld. Mahn, sei doch net esu knahschtig!«

Der Alte machte ein ganz eigentümliches Gesicht; die Zipfelmütze, die er in der Nacht trug, vom Vorder- auf den Hinterkopf schiebend und wieder vom Hinter- auf den Vorderkopf, sah er unschlüssig Frau und Sohn an. Er hatte etwas auf dem Herzen und mochte es doch nicht gern sagen. Aber jetzt, als sie ihn gar zu sehr drängten, fuhr er plötzlich aus dem Bett, mit beiden Füßen zugleich, daß sie erschraken.

Er sagte kein Wort. Stumm langte er unters Bett und zog den Kasten hervor, den der Sohn immer mit einem gewissen befriedigten Sicherheitsgefühl betrachtet hatte, und der sich so oft für ihn aufgetan.

Hannes atmete auch heute erleichtert auf: aha, jetzt rückte der Alte heraus, er hatte nur ordentlich gebeten sein wollen! Der enge Reifen um seine Brust schien sich ein wenig lockern zu wollen, der dumpfe Druck auf seiner Stirn ließ nach. In dankbarer Aufwallung legte er den Arm um die Schultern des vor der Truhe Knienden.

Aber der Alte schob unwirsch den Arm weg. Er sagte noch immer kein Wort; stumm schloß er den Kasten auf.

Da zeigte sich's, der war so gut wie leer. Nichts mehr von Strumpfsocken, mit harten Talern vollgestopft! Auch kein straffer Lederbeutel mehr, und kein Päckchen zusammengebundener Scheine – alles weg. Nur ein Büchlein lag am Boden und ein verschabtes Portemonnaie.

Auf dem Büchlein, das Matthes jetzt herausnahm, stand:

»Rentenverschreibung des Bonifazius-Verein für Matthias Kirchweiler.«

Seine runzeligen Hände blätterten darin. »On wann ech Der eweil ebbes leihen wollt, ech könnten et net, beim beste Wille net. Hei, dat« – er hielt das Heftchen in die Höhe – »dat es dat letzte, wat ech haon. Dat ech net betteln giehn muß uf meine alden Dag, daodrum haon ech dat gedahn. Ech wollten et Der net saon, äwer ech muß jao; Dau läßt mer jao sons kein Ruh. Die Bonifazius-Gesellschaft zaohlt mer en Rent, die reicht für uns Läwen. On hei dat« – er nahm das verschabte Portemonnaie und zählte sich den Inhalt auf die flache Hand: fünfzig Taler waren's, alles in allem – »dat es net zu vill für en anstännig Begräbnis. En Sarg mit Verzierung, en Kreiz uf dat Grab, Kuchen on Leichenbier, dat es mer sich doch schullig. Fünfonzwanzig for mech, fünfonzwanzig for de Modder – dao wirste mer doch neist dervon ahfhole wolle?«

Er hatte es langsam gesprochen, ein trübes Licht glomm in seinen kleinen, noch vom Schlaf halb verklebten Augen.

Hannes sah starr auf den Vater, wie der dastand im kurzen Hemd, mit den dürren, nackten Beinen auf der nackten Diele; und nun fiel's ihm plötzlich auf: hier war kein Behagen mehr in der Stube! Und sein Auge sah mehr: draußen vor dem Fenster im Gärtchen stand zwar noch das Postament, darauf die große Glaskugel geprangt, der Stolz des Alten; ein starker Frost aber hatte sie gesprengt oder ein Gewittersturm heruntergejagt, sie war nicht wieder ersetzt worden. Und die Gesichter der Eltern erschienen ihm auf einmal so vergrämt, so greisenhaft alt. Oder machte das alles nur das bleiche Licht des kalten Wintermorgens?!

Der dumpfe Druck auf Hannes' Stirn war wieder da, stärker denn zuvor. Er lehnte schwer gegen die Wand und stöhnte:

»Vadder, worum haste mir dat angedahn?«

Der Alte sah auf von seinem Kasten und wiegte trübselig den Kopf: »Jao, jao, dat es nau esu, ech haon mer sälwer en Riegel fürgeschowen. Et duht mer sihr leid, äwer, äwer …!« Er zuckte die Achseln, seufzte und sah dann herunter an sich, auf seine alten, müden Beine. »Ech dähten der esu gären helfen, äwer dat Hemd es einem doch näher wie dän Rock!« – – – –

Matthes hatte diesmal seinen Sohn nicht verstanden. Nicht die versagte Hilfe war es, die den so niederschmetterte. Als Hannes das Haus im Dorf verließ, brannte in seiner Seele tief eine schmerzliche Scham. Den Alten mangelte es, jetzt wußte er's; er hatte es ja gesehen mit seinen eigenen Augen; und – »dat ech net betteln giehn muß uf meine alden Dag« – das hörte er immer, immerfort.

Als er sich seiner Mühle näherte, ging er nicht hinein, sondern setzte sich, ein wenig oberhalb, jenseits der Straße auf ein Felsstück, stützte die Ellenbogen aufs Knie und legte den schweren Kopf in die Hände.

So saß er lange, regungslos, und spürte nicht die scharfe Kälte, die durch seine Kleider drang; ihm war heiß, beklommen, wie zur schwülsten Zeit des Jahres.

Auf den stummen Menschen nieder blickten die stummen Berge, und der stumme Mensch wiederum blickte auf seine stumme Mühle. Alles war tot.

Hannes kaute an seinen Nägeln. »Dat ech net betteln giehn muß uf meine alden Dag« – wenn er die Worte nur los wäre! Die quälten ihn. Er saß in einem seltsamen Brüten. Mochte nur jetzt einer kommen mit Schlittengeläut, mochte das Holz nur zum Teufel gehen, ihm war's egal! Ihm war alles egal. Er schloß die schmerzenden Augen.

Da hörte er munteres Peitschenknallen und lustiges Schellengeklingel. Unten auf der Schluchtstraße glitt ein Schlitten dahin, zwei mächtige Gäule zogen ihn; eine offene Gabel, gut zum Beladen, und klirrende Ketten schleiften hinterdrein. Er blickte auf – hatte er's nicht gedacht? Ja, ja, jetzt kam schon wer und holte das Holz ab. Sein Holz, sein schönes Holz!

Aber es mußte sein! Mit einem gewaltigen Entschluß raffte sich Hannes auf und zwang sein verstörtes Gesicht in gelassene Falten. Schweren Schrittes stieg er übers Geröll hinunter zur Straße und stapfte weiter in seine Einfahrt hinein.

Da hielt der Schlitten auf dem Hof. In der Tür stand die leidende Frau und zupfte verlegen an ihrer schwarzen Schürze. Ein Mann in hohen Stiefeln und Flauschrock, die Peitsche unterm Arm, redete auf sie ein, und ein fremder Knecht stand mit offenem Maul dabei.

»Hannes, se kommen eweil dat Holz abnehmen,« rief Tina ängstlich.

»Meinswäjen,« sagte er gleichmütig.

Aber dann fuhr er doch zurück – gleich ein paar Schritt – und seine heut blasse Farbe schlug jäh um in eine beängstigende Röte. Seine Augen erweiterten sich, quollen aus den Höhlen und wurden stier: der da – der da – im weißen Müllerkittel unterm Flauschrock – der da war einer von denen oben am Bach – und der da, der da holte sein schönes Holz weg?! Der da?!

Er schnappte nach Luft, wollte lachen und konnte nicht. Immer enger schnürte ihm der Reifen die Brust, alles Blut im Körper wurde nach oben gepreßt, vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte.

Hin, hin zum Holz, das festhalten mit beiden Fäusten! Der da durfte es nicht kriegen, nein, der da nicht! Hin, rasch –!

Er konnte nicht. Um ihn sauste und brauste es. Himmel und Berge, das Haus, der Hof, das Holz, der im Flauschrock – alles wurde schwarz. Und eine Schwäche kam über ihn, eine so grenzenlose, daß er sich ohne Laut, ohne Blick auf den Feind, an seiner Frau vorbei, mühselig in den Flur tappte.

Gleich danach hörte Tina einen schweren Fall.


 << zurück weiter >>