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18.

Die Maarfeldner wunderten sich darüber, daß Müller-Hannes es so ruhig nahm, als man seinen Alten begrub. Sie hatten doch erwartet, er würde wenigstens tüchtig weinen, verdient hatte sich das wahrlich der gute alte Mann um den Sohn.

Die alte Kirchweilern weinte desto mehr; nun, da der Matthes für tot im Kirchenbuch eingetragen stand, erlosch auch die Rente, die der Bonifaziusverein so lange noch immer gezahlt hatte. Die Witwe jammerte und rang die schwachen Hände: nun war das größte Unglück über sie hereingebrochen, sie mußte aus ihrem Haus. Das wollte der Bonifaziusverein verkaufen. Und wo kriegte sie denn nun ihren Kaffee her, und wo ihren Wecken? Oh, daß ihr Mann auch so schlecht für sie gesorgt! Die Taler für ihrer beider Begräbnis hatte er wohl beiseitegelegt, aber an seine alte Witib bei ihren Lebzeiten hatte er nicht gedacht.

Sie klagte den Toten mit Bitterkeit an; der konnte ja nicht zur Erklärung sprechen: »Exküs, ech haon gemaant, ech on Du sein eins!«

Der Sohn sprach rasch: »Modder, Dau kömmst bei mech!« Aber davon wollte sie nichts wissen: in die Mühle, die nicht mehr die Mühle von früher war, in die Mühle mit dem kaputten Dach, das den Vater immer so geärgert hatte, das man sowieso nicht lang mehr überm Kopf haben würde – nein, nein, dann lieber gleich ins Armenhaus! Sie widerstand eigensinnig. Mit Gewalt fast mußten sie die Großmutter holen.

Sonst wäre Hannes aufgebraust, jetzt ertrug er das Gejammer mit leidlicher Geduld. Nur auf den Vater litt er kein böses Wort. Wie der dagelegen hatte im grünbraunen Flauschrock mit den abgeschabten Ellenbogen, das Tuch um den Hals, die Pelzmütze über den Ohren! Gefroren war die Leiche unterm Schnee gewesen all die Zeit, keine Runzel hatte sich geändert in dem alten, vertrauten Gesicht. Und friedlich sah's aus, so freundlich – – »Hannes, wat michste? Hannes, wat denkste dann eweil?« – – Noch einmal, leibhaftig, hatte er sich dem Sohn gezeigt. Nun war er dem heilig.

Oben auf dem Kirchhof am Berghang, neben die Tina war der Alte zu liegen gekommen. Darum herum ging das Leben weiter seinen Gang. Auf den Aeckerchen wurden Kartoffeln gelegt und Runkelrüben gepflanzt; trafen sich wo zwei, so ging gewiß die Rede: »No, wie stiehn eweil Eier Grumbieren? Mein Rummeln sein eweil schuns groß!«

Auf den grünen Rasenstückchen zwischen den hängenden, goldgelben Ginsterstauden kletterten die weißen und grauen Ziegen von Maarfelden, und ihre Hüter, die schmutznasigen Schulbuben und Mädchen, äfften mit ihren jungen Kehlen das zufrieden-satte Gemecker nach.

Der Buchenbusch hatte sich saftgrün gefärbt, die Brombeerranken trieben, die Haselnußstauden blühten. Pfarrer Noldes hatte jetzt gute Zeit, denn am Maar hatten die Weiden tausend junge, biegsame Schößlinge, und neue Binsen standen dicht im Kranz.

Der Bittgang um die Gemarkung war schon abgehalten. Voran der Küster mit der Fahne, dann der greise Pfarrer mit den zwei weihrauchschwingenden Knäbchen, hinterdrein die ganze Gemeinde, Männer und Weiber; so waren sie inbrünstig betend und singend gezogen, hoffte doch ein jeder für sein Stückchen Acker einen besonderen Segen.

Es war ein herrlicher Mai. Anstatt des Frostes, den der sonst noch oft geschickt, gab er heuer Sonne mit vollen Händen, und als der Juni kam, wogte selbst auf der Höhe der felsigen Bergkuppen der Roggen wie ein grünes Meer. Ganz Maarfelden jubelte.

Nur in der Maarfeldner Mühle war's still. Das Dach ließ immer noch Wasser durch; es war nicht geflickt worden. Wozu auch? Damit andere trocken saßen? Nein, mochte nun alles verfallen, jetzt, wo man doch heraus mußte.

Die Sparbank hatte ihre Hypotheken gekündigt. Wie kam sie dazu, ihre Zinsen zu verlieren?! Der Kirchweiler kam ja doch zu nichts mehr, dem war nicht zu helfen, er war ein notorischer Lump – wenigstens sagten so die Gewährsmänner.

Noch einmal ließen die Müller oben am Bach anfragen: ob der Maarfeldner Müller ihr vernünftiges Angebot auf seine Mühle vielleicht jetzt annähme, sie würden sich dann schon mit der Sparkasse arrangieren und ihm noch etwas herausbezahlen, bei Zwangsverkauf fiele doch so gut wie gar nichts mehr für ihn ab. Aber da erboste sich Hannes so gewaltig, daß er den harmlosen Mittelsmann zum Hause hinauswarf.

Nun war alles aus. Er empfand's fast wie eine Erlösung. Von den Rivalen eine Gnade annehmen, und sei es auch nur eine Gefälligkeit – nein! Dann lieber mit Pauken und Trompeten kaputt gegangen! Der Bank alles in den Rachen geschmissen, aber auch alles.

Er litt nicht, daß Fränz heimlich etwas beiseitebrachte; nicht einmal das Waffeleisen, worin die Mutter selig früher so leckere Waffeln gebacken hatte. Alles mußte stehen und liegen bleiben, wie es war, bis der Taxator kam, der die besten Stücke abschätzte, auf die der Gerichtsvollzieher dann sein Siegel drückte. Den Plunder durften sie behalten.

Und jetzt aus dem Hause heraus, so rasch wie möglich.

Wohl war ihnen noch eine Frist vergönnt; aber Hannes wollte die Frist nicht ausnutzen. Wozu auch?! Den Schmerz verlängern?! Nein – ritsch, ratsch, abgeschnitten. Aber wohin, wohin?! Ins Dorf? Nein, dann lieber gleich ins Maar! Darin gab Fränz dem Vater recht. Aber wohin sonst?! Ueberall waren Menschen, und überall war's zu teuer.

Da dämmerte es dem Unglücklichen in einer kohlschwarzen Nacht: war da nicht der Abbau, ganz hinten in der Schlucht, wo kein Mensch wohnen wollte? Er sah das graue Nest am grauen Hang, er sah die windschiefen Läden, die Bank, auf die sich das Unglück zu schwer gesetzt – da gehörte er jetzt hin. Er empfand es wie Befreiung von einem unerträglichen Druck: dort würde er einsam sein. Er schickte Fränz deswegen fragen. Viel kosten würde das Hüttchen ja wohl nicht; eh man's leer stehen ließ und ganz zerfallen, ließ man's wohl ab um ein Lumpengeld. Dazu würde das bißchen, das ihm blieb, und seine paar Groschen Weinbergspacht schon am Ende noch langen.

Die Fränz lief hin und her zwischen Bleckhausen und Maarfelden, keine Gemeinde war sich über ihr Eigentumsrecht am Abbau klar. Zuletzt einigte man sich: Müller-Hannes sollte es kriegen, das Häuschen, das Stückchen Acker, das Stückchen Wiesenland und die zwei Pflaumenbäume. Das Kaufgeld war nicht einmal ganz unbeträchtlich, da zwei Gemeinden daran partizipierten.

Es war kein Schlüssel aufzutreiben gewesen, da hatte sich Fränz mit all ihrer jugendlichen Kraft gegen die Tür geworfen und sie gesprengt. Aber entsetzt fuhr sie zurück: hier sollte sie hausen? Der Vater sah's ja nimmer recht und die Großmutter war alt – aber sie, sie?

Huh, die dunkle Höhle! Die Spinnen hatten ihre Netze darin gewoben, seit Jahren und Jahren ungestört. Nach Moder roch es, und der Schutt, der von den Wänden gefallen war, lag kniehoch. Der Estrich war voller Gruben, in denen sich das Wasser gesammelt, das der Himmel durchs halbabgedeckte Dach hineingeschüttet hatte. Ein Ställchen war gleich neben der einzigen Stube – wilde Kaninchen hatten sich von außen einen Gang hineingegraben und fleißig darin geheckt. Allerlei Ungeziefer, Kellerasseln und schwarze Käfer rannten über den Estrich, und an der Decke, den schiefen Balken angeschmiegt, hingen Fledermäuse; es waren Luken und Löcher genug vorhanden, durch die sie Ein- und Ausflug nehmen konnten.

Als Fränz sich die Leiterstiege zum kleinen Boden hinantappte, fuhr ihr ein aufgeschreckter Kauz entgegen, fast ins Gesicht. Da taumelte sie zurück mit einem Schrei, zum Hause hinaus. Verzweifelt sah sie sich um: da lag der verrottete Acker, Disteln und Dornen umschlossen ihn als Hecke. An den zwei Pflaumenbäumen wehten lange Bärte von dürrgrauem Hungermoos, das Wiesenland war versäuert durch langes Schilfgras, und dort, in der Rindenröhre der rohgefaßten Quelle, hockten schwarze, gelbgetupfte Molche.

In Schluchzen ausbrechend, kauerte sich das Mädchen neben der zusammengebrochenen Bank an der Hauswand nieder und legte ihr beträntes Gesicht auf die Knie.

Woran sie nie gedacht die zwanzig Jahre ihres Daseins, was ihr eine Unmöglichkeit geschienen all ihr Leben, worüber sie die Nase gerümpft hatte bei anderen, das dünkte sie jetzt alles noch besser, als hier zu hausen. Hier konnte sie nicht daheim bleiben, hier nicht ihre Jugend begraben. Es half nichts – in verzweifeltes Schluchzen ausbrechend, biß sie die Zähne aufeinander – sie, sie, des Müller-Hannes Tochter, mußte in Dienst gehn! Huh, sie sollte gehorchen, wenn einer kommandierte? Sprach der Bauer: »Gieh de Rummelen hacken!« mußte sie hinaus aufs Feld. Schrie die Bäuerin: »Wit, wit, faul Mensch, hol Waosser, melk de Küh!« mußte sie eilen. Die heiße Scham stieg ihr zu Kopf, wenn sie daran gedachte, immer tiefer, tiefer duckte sie den festen Nacken, das Herz bebte ihr, verzweifelt rang sie die Hände: nein, nicht dienen! Alles in ihr schrie dagegen. Aber da sah sie sich nochmals um – das erbärmliche Hüttchen grinste sie an mit seiner einzigen leeren Fensterhöhle, – und schaudernd zog sie ihre Röcke enger um sich.

 

Es war nun abgemachte Sache, der Müller-Hannes zog in das Siechenhäuschen. Die Leute hatten viel zu reden, die einen sprachen bedauernd, die anderen zuckten die Achseln; aufrichtiges Mitleid fand nur die Großmutter, die auf ihre alten Tage noch so ins Elend wandern mußte. Es kamen viele Weiber aus dem Dorf sie besuchen und steckten ihr allerhand zu. Aber als Müller-Hannes ihrer ein paar fand, wie sie in der öden Mahlstube herumgafften, sich gegenseitig anstießen und sich die leeren Gänge wiesen, ging es ihnen nicht besser wie vorher dem Abgesandten der beiden Müller.

Nero, trotz seines Alters noch bissig, mußte jetzt immer draußen um die Mühle die Runde machen, daß sich keiner nahe ohne Geheiß.

Die milden Regungen, die in Hannes sich letzthin gerührt hatten, waren verschwunden. Wie jetzt Stück für Stück seiner Habseligkeiten versiegelt worden war, so war auch nach und nach Stück für Stück von ihm selber dahingegangen. Er fühlte das: der Frohsinn, das lustige Lachen, die Gutherzigkeit und die offene Hand, das Leben und Lebenlassen, das Vertrauen auf Treu und Glauben, und noch so manches andere. Alles war hin. Nur der Stolz war geblieben. Und den sollte ihm keiner rauben, verschwor er sich. Aus dem Haus wollte er gehen, den Kopf oben, ein Bettler war er doch noch nicht –, ha, wer lachte da?!

Hannes hatte allein gesessen in der Stube; draußen packte die Fränz zusammen, was mitzunehmen war, auch die Großmutter war nicht drinnen, sie wärmte sich mitten im Sommer an der noch rauchenden Asche des Küchenherdes – wer hatte gelacht – wer?! War er's etwa selber gewesen?!

Sich mühsam vom Schemel erhebend, tappte der Mann schwerfällig, mit der Hand sich die Wände entlang fühlend, in der Stube umher. Draußen mußte ein Gewitter aufziehen, er fühlte die lähmende Schwüle in allen Gliedern. Aber auf, nicht gezögert, morgen war der Tag, an dem sie ausziehen wollten ins gelobte Land!

»Haha, hoho!«

Horch, wieder das Lachen! Es überlief ihn ein Beben, und er faßte sich nach dem Kopf. Zum Verrücktwerden wär's schon oder zum Aufhängen. Aber nein, den Skandal tat er sich und seinem Alten nicht an! Das wäre wohl ein Pläsier für den Laufeld, wenn der drei Kreuze schlagen könnte: »Gott bewahr, gar noch in Sünden es hän abgefaohren, dän bankerotten Lomp!« Nein, den Triumph sollte er nicht haben, der Duckmäuser mit seinem Augenverdrehen und seiner Drahtkommod! Ha, was der sich wohl geärgert haben mußte, als er erfahren, daß Müller-Hannes sich auch ein Klavierchen angeschafft! Und ein viel schöneres noch. Das war was fürs »Nicht-Entgegenkommen« dazumal auf Martini am Auszahlungstag. Hatte der Kerl gedacht, ihn von oben herab zu behandeln? Taler hatte Müller-Hannes regnen lassen zu Manderscheid – ei, wie hatten doch die Kinder gesungen auf der Gasse?!

»Heiliger Sankt Märtes
Mit den sieben Kerze
Flieg zu einem reichen Mann,
Bring mir einen Taler dann,
Mir einen – dir einen,
Den frechen Kindern gar keinen!«

Das war ein schöner Tag gewesen, ein herrlicher Tag! Und wenn Müller-Hannes auch jetzt keinen Groschen mehr im Sack hatte, die Taler reuten ihn nicht.

Und ein herrlicher Tag war's auch gewesen, als er dem Laufeld gegenübergestanden hatte mitten im großen Kunowald, so allein mit dem, als wäre die Welt gestorben. Haha, den juckte der Buckel wohl heute noch! Und wenn er auch dafür hatte brummen müssen zu Trier, die Prügel reuten ihn nicht. Und wenn der Laufeld jetzt angefahren käme, viere lang, wie der König, dann würde er in seiner Haustür stehen, recht breitbeinig, ausspucken rechts, ausspucken links und die Kappe nicht heruntertun, er, der Müller-Hannes!

Plötzlich zusammenzuckend stieß der Träumende einen tiefen Seufzer aus – ach, die Mühle war ja nicht mehr sein!

Zusammenbrechend fiel er übers Klavierchen her und umklammerte es mit beiden Armen. Auch das ging hin, hin wie die Mühle, hin wie alles, auf was er stolz gewesen! Nein, es konnte ja nicht sein, es durfte ja nicht sein, es war ein böser Traum, der ihn schreckte. Mit zitternden Händen tastete er über den Klavierdeckel, aufreißen wollte er ihn, auf die Tasten schlagen, daß er's merkte, die waren noch sein. Aber da – seine Finger fühlten das gerichtliche Siegel – alles abgepfändet! Auch sein Klavierchen, auf dem die Fränz nie spielen gelernt!

Er warf sich noch einmal darüber hin, und Tränen, wie er sie so heiß noch nie in seinem Leben vergossen hatte, strömten auf die verstaubte Politur.

Der Kuckuck an der Wand schrie; da richtete sich endlich der Versunkene auf und warf einen schier scheuen Blick nach der alten Uhr: was, schon sechs schrie der? Nun kam bald die Nacht – die letzte Nacht.

»Vieh, vermaledeites, schrei net esu, haal an dech, dat de Stunden net esu rasch laufen!«

Jetzt noch zwölf Stunden! Zwölf Stunden, bis morgen früh um sechs der Karren beladen wurde mit dem, was man mitnehmen durfte. Das bißchen Plunder.

Nur noch zwölf Stunden! Es war Zeit, den Rundgang anzutreten, noch einmal alles anzuschauen in dem Reich, das man dann nie mehr sah.

Wankend verließ der Mann die Stube.

 

Fränz, die bei der Nacht aus dem Stroh des Stalles allerhand kleine Schätze hervorholte, die sie so lange darin verborgen gehalten hatte, wurde von einem fast abergläubischen Entsetzen gepackt, als sie plötzlich das Mühlrad gehen hörte.

»Jesses!« Sie schlug rasch ein Kreuz. Aber dann faßte sie sich – ei was, sie hatte sich wohl getäuscht. Das Klatschen und Schlagen des Rades hatte sie gar so lange nicht mehr vernommen, wohl möglich, daß sie's darum jetzt verkannte. Aber nachgucken wollte sie doch einmal. Neugierig schlich sie hinters Haus: richtig, da schäumte und brauste das Wasser im Mühlgraben, und das große Rad drehte sich im Schwung. Es war dunkel, aber so viel Licht gab der Mond doch her, daß man den silbernen Perlenstrahl blinken sehen konnte, der über die Radschaufeln schoß.

Sie unterdrückte einen Aufschrei höchster Verwunderung. Wer, wer hatte das getan?! – Da sah sie, unweit von sich, auf dem schmalen Mühlsteg, über den das erregte, quirlende Wasser schlug, eine große Gestalt stehen. Das war der Vater! Sie erschrak: er stand da auf gefährlichem Platz, wie ein Nachtwandler, der von Schwindel nichts weiß. Die Hände streckte er aus, als wollte er das schwingende Mühlrad greifen, den Kopf hielt er lauschend zur Seite.

Sie traute sich nicht, ihn anzurufen; leise schlich sie sich fort. –

Es war eine zwiespältige Nacht. Draußen in der Natur war der große Friede, innen aber in der Mühle wanderte ein unruhiger Geist. Der fand nicht Ruh'. Bald zog er das Rad auf, bald stellte er's wieder still. Bald stand er außen auf dem schwankenden Steg, bald eilte er innen in der Mahlstube, in der ein einsames Lämpchen zitterte, geschäftig hin und her, nahm die Wanne auf die Schulter und schleppte sie, als ob er die Gänge fleißig mit Korn bediene. Das Läutewerk über den leeren Trichtern läutete unablässig, die ausgehungerten Gänge klapperten laut, die Welle drehte sich schwindelnd rasch, durch die zerfressene Müllergaze des Zylinders hüpften quietschende Mäuse. Es war ein Leben mitten in der Nacht, als könne die Mühle am Tag allein die Arbeit nicht schaffen.

Keuchend vor Emsigkeit rastete Müller-Hannes dann endlich oben an der Galerie, sah aufs eilig sich rührende Werk nieder und wischte sich hochatmend den Schweiß ab.

… Eine lehnte neben ihm und blickte neugierig-großen Auges mit ihm hinunter aufs Getriebe; sie hatte ein junges, weichwangiges Gesicht, lächelnd und sanft-zärtlich schmiegte sie sich an ihn.

– – »Tina!« – –

Hannes schrie es plötzlich laut und breitete die Arme aus. Da erlosch des Lämpchens mühselig flackernder Schein; er war im Dunkeln. Die Jugend war fort. Die Finger, die er ins buschige Haar krallte, fühlten, wie starr und grau das war.

Und aus der Mahlstube ging's in den Flur und aus dem Flur zur Treppe. Das Lämpchen, das er in Hast wieder entzündet, vermochte seine zitternde Hand kaum zu halten.

Schwerfällig die Stufen hinauf – tapp, tapp. Nicht so laut – pst, pst! Hinter der Tür der Giebelstube lag die Frau und wimmerte: – – »Rühr mich net an!« – – – Er traute sich nicht weiter. Auf die oberste Stufe der Treppe kauerte er sich, stellte das Lämpchen neben sich und wartete, wartete. Auf was?! Unten schrie der Kuckuck: »Kuckuck!«

Eins! Was, schon eine Stunde nach Mitternacht?! …

Und jetzt: »Kuckuck! Kuckuck!«

Zwei!

Und nun schon: »Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!«

Drei! Drei – drei Uhr schon? Wo war die Nacht geblieben, die war doch sonst so lang?!

Wie ein Trunkener taumelte Hannes auf; nicht rasch genug kam er die Stiege hinunter, seine Beine waren eingeschlafen, hunderttausend Ameisen kribbelten darin herum. Er strauchelte, er stürzte, er stolperte weiter. Noch drei Stunden, und dann sollte er heraus aus der Mühle?! Nein, nein! Er gab sie nicht, er gab sie nicht her! Heut nacht war sie erst sein geworden – vor Gott sein geworden – in Arbeit und Schweiß und Mühe.

In fieberhafter Inbrunst packte er die Wände an; er streichelte sie, er küßte sie –, sie waren sein, sein – niemand konnte sie ihm nehmen. Drei Stunden noch sein, lange drei Stunden – eine Ewigkeit!

»Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck!«

Vier Uhr schon!

»Luder, vermaledeites!«

Mit einem furchtbaren Fluch stürzte der Wirre in die Stube zurück, vor der Uhr pflanzte er sich auf und stierte sie an mit blutunterlaufenen Augen.

»Hä, schreiste schuns widder, Dau Unglücksvieh?! Wills Dau mech aach erausdreiwen?! Olau, Dau dreiwst mech net! Se dreiwen mech all net! Ech laossen mech net dreiwen! Ech haon noch Zeit, noch en lang Zeit, noch en Ewigkeit – ech sein dän Hähr hei, ech sein dän Müller-Hannes, ech bleiwen dän Müller-Hannes!«

Er keuchte und lallte: »Kuckuck, willste schuns widder schreien? Hal Dei Maul – maach – dao haste ebbes!«

Der Wütende holte aus; mit einer Faust griff er ins Kettengehänge, mit der anderen traf er die alte Uhr, gerade gegen das Türchen. Der Kuckuck sprang noch einmal heraus. Krach! Staub und Trümmer flogen, krach – der ganze Kasten lag am Boden und der Herr dabei. –

 

Der ausgesperrte Nero, der draußen die Runde um die Mühle machen mußte, heulte laut. Davon erwachte die übermüdete Fränz. Oder war's der dumpfe Krach unten im Haus, der sie weckte? Die Großmutter, die mit ihr den Strohsack auf der nackten Diele der Giebelstube teilte – das Bett war schon zusammengepackt – hatte nichts gehört.

Die Sonne lugte eben morgenrotverschämt durchs unverhängte Fenster. Wieviel Uhr war's? Noch zögerte Fränz ein wenig, reckte sich, gähnte, schob die nackten Arme unter den Kopf und duselte noch ein paar Minuten, wohlig mit halbgeschlossenen Lidern. Was für ein Tag heute, war ihr noch nicht klar zum Bewußtsein gekommen, aber nun fuhr sie plötzlich auf, mit beiden Füßen zugleich stand sie auf der Diele. Was der traumlos-tiefe Schlaf sie vergessen gemacht hatte, war auf einmal wieder da: heut war der Auszugstag, heut mußten sie fort!

Mit vor Eile bebenden Händen kleidete sie sich an. Warum nur der Kuckuck unten gar nicht rief? Sonst hatte der sie immer aus dem Bett getrieben. Rasch, rasch! Ehe die Sonne prall überm Tal stand, mußten sie fort sein mit ihren paar Siebensachen; die Neugierigen sollten das Nest leer finden!

Sie biß die Zähne zusammen: jetzt nur keine Wehleidigkeit, zum Heulen war nachher Zeit. Die jammernde Großmutter mit einer gewissen Rauheit zur Eile antreibend, rannte sie hurtig die Stiege hinunter. –

Wenn auch die Bewohner der Mühle Tag und Stunde ihres Auszuges verschwiegen hatten, irgendwie mußten die Maarfeldener doch Wind davon bekommen haben. Wenn sie sich auch genierten, in hellen Haufen dazustehen und zu gaffen, so hatten sie sich doch allerorts in der Nähe der Mühle verstohlen in kleinen Trüppchen eingefunden. Jenseits der Straße am grünen Rain knieten ein paar Weiber, anscheinend Kräuter schneidend für ihre Ziegen; ein paar Mähder mit Dengel und Sense hatten im Wiesenland des Baches Posto gefaßt; über den Felsen, von der Höhe des Ackerlandes herab, guckten die Pflüger, und Knaben und Mädchen, mit Schiefertafel und Fibel, steckten im Gebüsch nahe den alten Weidenbäumen. Aller Augen hatten den einen Zielpunkt: die Mühle. Klappte nicht eine Tür, klirrte nicht ein Fenster? Hörte man nicht den Mann fluchen, die Weiber weinen? Nein, alles still.

Die Ungeduld wurde auf die härteste Probe gestellt.

Da der Nero mit seiner dampfenden Zunge und seinem lauten Bellen nicht außen war, wagten sich die Kinder näher. Immer näher. Bald auch die Erwachsenen.

Warum kam denn noch immer kein Mensch heraus?! Der Karren stand doch schon halb vollgeladen vor der Tür; des Dhein Pferd, das der hergeliehen hatte, war schon vorgespannt. Wenigstens des Dhein Knecht, der Jakob, mußte doch wieder herauskommen, man hatte ihn vor einer langen Weile schon hineingehen sehen. Wollte der Müller am Ende nicht gutwillig heraus? Möglich wär's! Die Wartenden rückten zueinander. Allerhand Meinungen wurden erwogen: fertig mußten die da drin doch längst sein, was hatten sie denn groß aufzupacken?!

Der Gaul vor dem Karren scharrte ungeduldig, noch immer rührte sich im Hause nichts. War ein Unglück geschehen? Das konnte wohl möglich sein! Wenn der Müller, der jähzornige Kerl, den Jakob vielleicht verprügelte?!

Nein, da konnte man nicht so ruhig zusehen, nein, da mußte man dazwischentreten!

»Klopp Dau an, Peter!«

»Nä, klopp Dau doch, Nikla.«

»Willem, Dau bis dän Aeldsten, klopp Dau an, on kuck, wat se drin maachen!«

Ja, ja, anklopfen und dann gleich hineingehen! Dafür waren auch die Weiber; aber sie selber zogen sich wohlweislich ein wenig zurück.

Der Theißen-Willem, ein kräftiger Mann, machte sich heran. Eben wollte er mit der linken Faust klopfen und mit der rechten Hand zugleich die Klinke niederdrücken, als die Tür aufging.

Die Fränz kam heraus. Sie ging gebückt, auf dem Buckel trug sie eine Last zusammengebundener Betten. Unwillkürlich fuhr Theißen-Willem zurück vor dem Blick, der ihn von unten her aus den schwarzen Augen des bleichen Gesichtes traf. Etwas verlegen bot er seine Hilfe an; ohne Wort, nur mit einer trotzigen Gebärde, wies sie ihn ab. Aber ihr blasses Gesicht wurde blutrot, als sie all die neugierigen Gaffer sah. Rasch zog sie das Brett heraus, das hinten den Karren verschloß, warf die Betten hinauf und ging ins Haus zurück. Noch ein paarmal eilte sie schwerbeladen hin und her, aber sie sah immer starr ins Leere, als sei niemand da.

Keiner mehr bot sich an, ihr zu helfen. Die hochmütige Bagage, mochte die sehen, wie die allein fertig wurde!

Jetzt kam die Alte; den Kopf ganz vermummelt, wankte sie, ein Bündel unterm Arm.

Bei diesem Anblick erhoben die Weiber ein lautes Lamento: »Dat arm ald Fraumensch! Jesses Maria, esu en Onglück uf die alden Däg! Adjes, Großmodder, adjes!« Viele Hände streckten sich aus, die Frauen weinten.

Die Alte war ganz wie blöd; sie hatte nur acht auf ihr Bündel, und Tränen, wie sie die ganz Alten weinen, Tränen, die so dahinrinnen, ohne daß sich eine Muskel des Gesichtes dabei verzieht, näßten ihre Wangen. Ohne Laut, ohne Wort ließ sie sich auf den Karren heben und duckte sich da ganz eng neben die Hühner, die mit zusammengebundenen Beinen auf einem Häufchen lagen.

Wieder dauerte es eine Weile – die Erwartung wurde immer größer. Konnte sich der Müller denn gar nicht trennen?! Jetzt – man hörte schwere Tritte im Flur – jetzt, aha! – Aber das neugierig erregte Gemurmel starb. Es wurde totenstill; selbst der Morgenwind, der im verstreuten Stroh raschelte und um die Büsche säuselte, schien anzuhalten. Der Knecht das Dhein und die Fränz, die jetzt heraustraten, trugen eine schwere Last. Bei Kopf und Beinen schleppten sie einen leblosen Körper; kaum schafften sie's, man sah es, dem Jakob knickten die Knie, und an des Mädchens Hals und Armen strafften sich die Muskeln zum Zerreißen.

Jesus Maria, der Müller-Hannes! Betrunken war der nicht! Was war mit ihm geschehen?!

»Es hän dot?«

»Es hän schwach gefaal?«

»Holt dän Noldes!«

»Nä, holt den Hähr Dokter!«

»Jakob, wat es passiert, saot doch, wat?!«

Der Knecht zuckte nur stumm die Achseln, keuchend unter der Last.

»Plaatz,« sagte die Fränz hart und puffte die Nächststehenden zur Seite. Mit verzweifelter Entschlossenheit lupfte sie den Kopf des Vaters auf den Wagen und legte ihn der Großmutter in den Schoß; die Beine schob der Knecht nach. Er hätte gern noch den Fragenden Antwort gestanden, aber Fränz drängte: »Voran gemaach!« und griff selber nach der Peitsche: »Hott, hahr!«

Der schwerbeladene Karren schwankte langsam davon. Der Knecht führte das Pferd am Zügel. Die Tochter schritt nebenher.


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