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14.

Müller-Hannes war selber gerannt. Vergebens hatte er nach dem Knecht gerufen; der war gewöhnt an schlaffe Zucht und hatte sich in der Frühlingsnacht fort zum Liebchen geschlichen. Die Magd war nicht abkömmlich, da mußte er schon selber laufen.

Und er lief, als gelte es das Leben. Ins Ungeheuerliche verzerrt und verschoben ragten die dunkeln Kraterberge gegen den mattgestirnten Nachthimmel; schweigend ruhte das Maar, ein Windchen fuhr über seinen bleiernen Spiegel, säuselte in dem Weidenkranz seines Ufers und schüttelte dann die vom Tau schwer geneigten Bäumchen am Straßenrand. Jedes Tröpfchen, das versprühte, traf des Mannes Stirn wie ein Feuerfunke. Kühlung, ach nur Kühlung! Er keuchte und pustete. Die Angst trieb ihn: wenn der Frau was passierte? Sonst hatte er nie Angst um sie gehabt – wenn auch ein paarmal schon Malheur dabei gewesen und die Hoffnung in nichts zerronnen, die Frau war immer leidlich davongekommen – aber diesmal, diesmal!

Vor seinen Ohren rauschte es; wie durch eine dicke Mauer, von weit, weit her drang ein Ton zu ihm: »Rühr mich net an!«

»O Jesses Maria!« Er gab sich eins vor den Kopf, und dann rannte er mit schlenkernden Armen wie ein Sinnloser, wie ein Gehetzter.

Der Anblick des Dorfes beruhigte ihn etwas. Seine Gedanken glätteten sich. Warum mußte denn gleich alles schlecht gehen? Alle Tage werden Kinder geboren, und die Mütter überstehen's und sind schon nach wenigen Tagen wieder auf, müssen gar auf den Acker; und das brauchte die Tina doch nicht, die konnte ja ruhen. Liegen bleiben sollte sie, solange es ihr gefiel; sich gemächlich rasten, während die linde Luft zum Fenster Blumenduft aus dem Gärtchen hereinwehte und vor der Tür in der Sonne die große Fränz den kleinen Bruder wiegte. Ja, so sollte es sein!

Eine Ahnung von Glück schoß jäh durch den Dahinstürmenden. Jetzt fühlte er auf einmal seine Erschöpfung nicht; er hob wieder den Kopf und warf ihn in den Nacken. Ja, alle Frauen im Dorf würde er zur Taufe laden, Schnaps sollte in Strömen fließen, voll sollten sie werden, die alten Weiber wie die jungen, daß sie krähten, hell, durchdringend wie Hähne, wenn's Wetter ändert; daß sie spektakelten wie nie zuvor! Ein Traktament sollte es geben, wovon man überall sprach!

Ungeduldig pochte er an den Fensterladen der Hebamme. Und als sie nicht gleich auftat, trommelte er mit beiden Fäusten.

»Hä, hä! Kotzdonner!« Konnte das Weib denn nicht hören? Er war ja doch kein armer Schlucker, wo sie's tun mußte halb um Gottes willen. »Hä, hä, ufgemaach! Ech sein hei, dän Müller-Hannes!« – – –

Müller-Hannes hätte nicht gedacht, daß er noch so laufen gekonnt – eigentlich sollte er's ja auch gar nicht, vor Ueberhitzung und derlei hatte der Doktor gewarnt – aber nun, nach vollbrachtem Gang war er doch ganz wohlgemut, hatte sich gleich nach der Rückkehr einen Schnaps zur Stärkung genommen und saß nun in seiner Mühle am Tisch und wischte sich den Schweiß ab, während über ihm in der Giebelstube die Schmitzen-Marie bei seiner Frau hantierte. Das Winseln, das ihn die Nacht so gestört, hatte jetzt aufgehört.

Es war sehr still in der Mühle und auch draußen in der Natur. Der Morgenwind hatte schon geblasen; Berg und Bach und Busch und Baum erwarteten nun, stummselig, was da kommen würde. Bald würde alles Grau sich lichten und ein goldenes Gesicht überm Höhenzug des Ostens auftauchen und ein Lachen hinunterwerfen ins tiefste Tal.

Auf der obersten Stufe der steilen Holzstiege kauerte Fränz. Sie durfte nicht hinein zur Mutter, aber wenigstens nahebleiben wollte sie der, so nah wie möglich. Darum ging sie nicht hinab in die warme Stube, sondern blieb hier im fröstelnden Morgendämmern vor der Kammertür. Sie hatte die Mutter heute nacht leiden sehen, und eine unbewußte Ahnung von eigenen ähnlichen Leiden der Zukunft hatte sie durchzittert.

 

Der Tag kam, der Hahn auf dem Mist rief krähend seine Hühner, und die Kühe im Stall brüllten dumpf nach Futter. Uebernächtig schlorrte der Knecht über den Hof und schickte sich eben mürrisch an, den Pferden die Raufe voll Heu zu stecken, als der Herr aus dem Hause trat.

Jesus, wie sah der aus! Die Kappe hatte er ganz auf dem Hinterkopf sitzen, als könnten die dickgeschwollenen Adern der Stirn keinen Druck vertragen; die grauen Haarbüschel an den Schläfen standen ihm förmlich zu Berg, und er torkelte, als sei er schwer betrunken.

»An-anspan-nen – zum Dokter, wit,« lallte er heiser und riß selber das Geschirr vom Haken an der Stallwand.

Was, war es so schlimm mit der Frau?! Der Herr wollte doch nicht etwa allein fahren, der konnte ja nicht einmal die Zügel halten in seinen zitternden Händen?! Den Knecht kam die Angst an.

»Sollen ech dann net faohren, Hähr?« fragte er.

Der Müller schüttelte verneinend den Kopf:

»Ech – ech – sälwer!«

Und was er sonst nie getan, er schob selber das Chaischen unterm Schuppendach vor und wollte selber anschirren und machte doch alles verkehrt in seiner zitternden Hast und mußte es dann doch dem Knecht überlassen.

Hannes wurde wie vom Fieber geschüttelt, als er nun auf dem Bock saß, die Peitsche in der umklammernden Faust. Noch einen Blick warf er hinauf zum Fenster der Giebelstube – der frische Morgenhauch beschlug ihm die Brillengläser, er konnte nichts erkennen – er sah nicht, daß die Schmitzen-Marie sich jetzt herausneigte und ihm anfeuernd zunickte, er hörte nur eine Stimme von irgendwo: »Wit, wit, maacht, maacht!« Blindlings hieb er auf die Pferde.

Ungefüttert und unsanft aus ihrer Ruhe geschreckt, schossen die Gäule dahin durchs Tal, wie zwei Schwalben auf jagendem Flug. – –

Wenn nur der Doktor erst da wäre! Noch immer nicht begrüßte der erste Schrei eines Kindes die Mühlenwände, und die Sonne, die jetzt hell ins Giebelfenster schaute, sah noch immer nicht ein winziges Körperchen, erschauernd im ersten Hauch des kalten Lebens.

Noch immer hockte Fränz draußen vor der Kammertür und lauschte und wartete, aber noch immer nicht wurde sie hereingerufen, das kleine Geschwisterchen zu schauen. Sie wurde sehr müde, kaum hielt sie sich; aber nein, schlafen wollte sie nicht, wenn die da drinnen nicht schlafen konnte. Mit krampfhaft weit aufgerissenen, angstvoll neugierigen Augen starrte sie nach der Kammertür. Und alle Gebetchen und geistlichen Lieder, die sie irgendwie gelernt, von der Mutter, in der Schule, im frommen Unterricht beim Herrn Noldes, begann sie sich herzusagen. Sie war keine fleißige Schülerin und hatte auch kein Gedächtnis für dergleichen; so wußte sie denn immer nur wenige Verse. Aber ein Gedicht wußte sie ganz, das war der Abschied des frommen Ritters Peter von Cochem, der aus der Welt ins Kloster geht; das hatte sie immer herzlich gerührt.

»Gut' Nacht, ihr Pferdchen und Schlitten,
Ich hab' euch oft geritten –
– – – – – – – – – – – – – – –
Gut' Nacht, ihr Harfen und Geien,
Ich muß euch lassen leien –
– – – – – – – – – – – – – – –
Gut' Nacht, herzlieber Vader,
Jetzt kommt der Hochzeitlader«
– – – – – – – – – – – – – – –

Und immer wieder sagte sie sich's her, von Anfang bis zu Ende:

»Gut' Nacht, du Welt, gut' Nachte,
Dein Wohllüst' ich nichts achte,
Will deiner nimmer mehr –«

Das hielt sie munter.

Auch die Schmitzen-Marie, drinnen in der Kammer, betete. Weiter wußte sie nichts zu tun. Schon bei viel Geburten hatte sie geholfen, aber hier ging's gar so hart. Wenn nur der Doktor erst da wäre! Unruhig zählte sie die Rufe des Kuckuck, die aus der unteren Stube heraufdrangen. Jetzt waren schon ein paar Stunden vorbei, seit der Müller gefahren; der müßte längst wieder hier sein, nach Manderscheid war's doch gar nicht so weit. Aber vielleicht hatte er den Herrn Doktor nicht daheim getroffen. Sie schlug Kreuz um Kreuz – wenn sie doch nur schon kämen! Einen besorgten Blick warf sie auf die mit verzerrtem Mund daliegende, keuchend atmende Frau, und dann ging sie wieder zum Fenster.

Sie stieß es auf: eine Flut von Sonne strömte herein, der ganze starke Odem des Frühlingstages. Das zerwühlte Bett der Leidenden war wie in Glanz getaucht, man konnte vor allem Licht kaum das blasse Gesicht auf dem Kissen sehen. Jetzt schien eine erträgliche Pause zu sein, die Frau hatte die Augen geschlossen. Jetzt versuchte sie gar zu sprechen:

»Kömmt hän – immer – noch net?«

Und als die Schmitzen tröstend versicherte: »Hän kömmt,« versuchte sie gar ein schwaches Lächeln.

»Jesses, nä!« Die Schmitzen schlug wieder ein Kreuz: die sah ja jetzt aus, als hätte sie's schon überwunden!

Noch eine Stunde – und noch eine! Angstvolle Stunden. Draußen auf der Treppe weinte Fränz vor banger Müdigkeit, ihr »Peter von Cochem« hatte nichts mehr geholfen; aber schlafen wollte sie nicht, nein, nicht schlafen! Und sich aufbäumend, sich wehrend gegen den Schlaf, der sich bleischwer auf ihre Lider senkte, kroch sie der Tür näher, kniete nieder und preßte die Stirn gegen das Holz.

Wohl zum hundertstenmal lief die Schmitzen vom Bett ans Fenster – die Frau war so schwach, die wollte doch nicht etwa sterben? Kam der Müller mit dem Doktor denn noch nicht?! Und wieder vom Fenster ans Bett; und vom Bett wieder ans Fenster – sie kamen noch nicht!

»Heilige Maria, bitt für ons, jetz on in der Stunde unseres Todes!«

Jetzt endlich, endlich Tritte auf der einsamen Straße! Gelobt seien alle Heiligen, der Herr Doktor von Manderscheid! Aber zu Fuß kam er, nicht im Wagen?! Und den Hannes führte er am Arm?! Der taumelte zwischen ihm und einem anderen im weißbestäubten Kittel. War das nicht der Müller von der oberen Kyll-Mühle? Und wo waren die Pferde, der Wagen?!

Eine grausenvolle Neugier durchrieselte plötzlich die Schmitzen-Marie, aber sie hatte nicht Zeit, weiter über den Verbleib des Fuhrwerkes nachzudenken, denn schon waren die Männer im Haus, und der eilende Schritt des Doktors kam die Stiege herauf. – –

Die Sonne stand schon scheitelrecht über den Höhen der Mühlenschlucht, vom Dorf, das, nicht sichtbar, um die Felsenecke herum, hinter dem Maar im Kraterkessel lag, kam aber hörbar das Mittagsgeläut, als der Doktor wieder die Stiege hinunterkletterte. Die Schmitzen-Marie gab ihm das Geleit.

»Es et schlimm, Hähr Dokter?« fragte sie besorgt. Es war ihr immer sehr unangenehm, wenn ihr eine starb – und hier hatte sie doch gleich nach dem Doktor geschickt! »Stieht et eweil net gud?«

Der Arzt zuckte die Achseln; er hatte sein möglichstes getan, was weiter kam, nun, dafür stand er nicht. Aber bevor er ging, trat er noch in die Stube des Erdgeschosses.

Da hatte der Müller von der oberen Bach-Mühle – ein besonnener Mann – gleich die Läden geschlossen, und Hannes lag nun im Halbdunkel auf seinem Bett ausgestreckt mit geschlossenen Augen und atmete tief. Schlief er? Der Arzt beugte sich über ihn: es schien so.

»Laßt hän nur schlafen,« sagte er zur Hebamme, »der kriegt es ja immer noch früh genug zu wissen. Ich komm' morgen früh noch einmal wieder. Adjö so lang!« Er ging.

Aber Müller-Hannes schlief nicht. Das Mühlrad, ein rastlos sich drehendes Mühlrad ging wieder um in seinem Hirn, und der heutige Tag mit jedem einzelnen seiner Momente wirbelte mit vorüber. Das rauschte und sauste, das betäubte ihn so, daß er nicht Kraft genug hatte, die Augen aufzuschlagen. Wie war's doch gekommen?! Mühselig suchte er sich alle Einzelheiten zusammen.

War er nicht bei Nacht noch zur Hebamme nach Maarfelden gerannt, und dann, weniges später, hinauf gen Manderscheid gefahren?! Ja, ja, so war's!

Hei, wie die Pferde dahinstürmten, daß ihre Hufe Funken schlugen auf dem felsigen Boden, und Busch und Baum vorüberflogen wie Schatten! Unten lagen die Mühlen im Grund. Rauch kräuselte sich schon aus ihren Schornsteinen, und im Hof war schon Leben. Da wurden Säcke auf einen Wagen geladen, der Knecht rannte geschäftig hin und her, noch geschäftiger der Müller selbst. Die hatten wohl die ganze Nacht gemahlen, die hatten was zu tun!

Er hatte hinabgeblickt mit schmerzenden Augen; hoch über den Fleißigen hing er im Chaischen am Absturz. Wie es nun gekommen, wußte er selber nicht – hatte er wilder auf die Gäule gehauen, daß die ohnehin zitternd Erregten noch erregter wurden, hatten sie gescheut vor einem einsamen Ginsterbusch, vor einem Schatten, einem Vogel? Sie rasten plötzlich die steilen Kehren weiter, sie nahmen die Ecken zu scharf, ein Rad hing schon über dem Abgrund – er peitschte und schrie – es machte sie noch toller. Kein Halten mehr; von rechts nach links schlenkerte der Wagen im Zickzack – puff, an diesen Baum rechts – puff, an jenen Chausseestein links – kein Hören, kein Sehen – die Zügel wurden ihm aus der Hand gerissen, fort ging's ohne Lenkung, toll über Stock und Stein, ein Ruck, ein Anprall – hoch im Bogen war er vom Bock geflogen.

Und was dann gewesen, das wußte er nicht. Ob er geschrien, ob er betäubt gelegen? Aber da hatte plötzlich der Müller aus der oberen Mühle bei ihm gestanden, als sei der vom Himmel gefallen. Und das war das Härteste: er mußte sich aufhelfen lassen von dem. Allein konnte er nicht gehen. Aber er mußte ja zum Doktor, – jäh überkam es ihn: er mußte, Jesus Maria, die Frau – Jesus Maria, schon so viel Zeit verloren! Die Zähne zusammenbeißend, hatte er den Arm des anderen genommen. Und der hatte ihn geleitet und hatte die Pferde, die sie weiter oben, zitternd, mit Schaum bedeckt, fanden, die Trümmer des Chaischens hinter sich, beim Maul genommen und um Beistand geschrien, bis ein Hirt kam, der nicht weit davon Ziegen weidete.

Nun standen die lahmenden Braunen im Stall unten in der weißen Mühle. »Oh!«

Der Liegende stöhnte. Das kam ihn am allerhärtesten an: seine Pferde in dem Stall! Waren die nun auch dahingegangen, wo sein Holz war, sein schönes Holz?! Und er mußte noch »danke« sagen. Nein, das konnte er nicht, nein, das tat er nicht – nein, niemals!

Und Hannes raffte sich auf aus seiner Betäubung, ballte die Fäuste und reckte sie wie im zornigen Schwur empor. »Nä, danke saon ech net, nä, nie!«

Jetzt knarrte die Tür, Schmitzen-Marie steckte den Kopf herein. »Müller-Hannes, hatt Ihr eweil ausgeschlaf?«

Was – wer – wie?! Was wollte das Weib hier?! Er war sich im Augenblick gar nicht recht klar darüber. Aber dann fiel es ihm auf einmal schwer auf: die Frau, die Frau, die hatte er über seinem Zorn ganz vergessen!

»Wat maacht se, wie gieht et ihr eweil?« stotterte er hastig.

Die Schmitzen winkte ihm. »Kommt noren bei se, mer haon et nau geschafft. Se haot als villmals nao Euch gefraogt!«

Hannes stutzte: warum, warum gratulierte ihm die alte Hexe nicht?! War ihm die auch feind, oder fürchtete sie am Ende, er könnte sie nicht bezahlen?! Mißtrauisch suchte er ihren Blick. Warum wich sie dem seinen aus?! Nun, mochte sie scheel gucken, er brauchte ihre Freundlichkeit nicht, von keinem Menschen eine, nein!

»En Jong?« fragte er nur noch, kurz angebunden und hochfahrend.

Sie nickte; und dann ging sie vor ihm her die Stiege hinauf.

Es war so unendlich still. Das große Herz der Mühle pochte nicht. Schon lange war es her, daß das gelebt, daß unter seinem Schlag Balken und Dielen und Wände beständig leise gezittert hatten und ein Leben selbst im Leblosen war. Dem Manne ward's beklommen, als er die dunklen Stufen hinauftastete. Vor der Kammertür hielt er einen Augenblick und schöpfte tief Atem.

Auch da drinnen war's so still. Das Kind greinte ja gar nicht, sonst weinen doch die Neugeborenen?! Eben wollte der Vater etwas sagen, da legte Schmitzen-Marie den Finger auf die Lippen: »Pst!«

Sie traten behutsam ein. So sehr sich auch Hannes mühte, sein Tritt blieb doch hart, aber die Frau vernahm ihn jetzt nicht. Sie war vor Erschöpfung eingeschlafen.

Am Bett kauerte Fränz ganz regungslos und starrte mit großen, erschrockenen Augen auf das Gesicht der Mutter.

Auch der Mann erschrak: herrje, war die blaß, weiß wie das Leintuch! Auf den Zehen ging er zur Wiege: herrje, das Kind auch so blaß?! Er konnte wohl nicht recht sehen?! Ungeduldig wischte er an den Augen und rieb sie sich – seine Brille war ihm beim Sturz aus dem Wagen zerbrochen – was – was, was war denn das?!

Die Schmitzen zog ihn am Aermel: »Pst – wat fallt Euch dann ein? – Net esu laut! Pst, se weiß et noch net!« Und dann setzte sie gleichmütig hinzu, wie jemand, der das schon oft miterlebt hat: »Et es gleich gestorwen, gerad, dat ech et noch nottaufe konnt, lao aus'm Weihwaasserkesselche. Et waor e klein Jüngelche!«

 

Der alte Matthes saß bei seinem Sohn; den verließ er jetzt nicht. In der guten Stube lag die Schwiegertochter auf der Bahre, und die Totenkerzen flackerten um sie.

Es geht eine alte Sage, daß die Kinder, die noch nicht an der Mutterbrust getrunken haben, ihre Mutter sich nachziehen ins Grab. Frau Tina war ihrem Jüngelchen nach kaum zwölf Stunden gefolgt. In der Nacht war sie fortgegangen, ganz still; der Müller schlief, die Fränz schlief, auch die Schmitzen hatte im Stuhl genickt, kaum daß die des letzten Seufzers gewahr wurde. Man hatte der Sterbenden nicht mehr das brennende Licht vorhalten, nicht mehr das Kruzifix zum Kusse reichen können, auch nicht mehr mit dem Benediktus-Schellchen klingeln.

Jetzt lag die Frau noch über der Erde, friedlich im Totenhemd, ihr wächsernes Püppchen im Arm; die Weiber aus dem Dorf hatten sich schon zwei Nächte versammelt, um bei Getränk die Leichenwacht zu halten. Durch die Mühle murmelten Sterbegebete. Eine schöne Leich'! Aber Hannes traute sich nicht hinein zu ihr.

Nun war's nur noch kurze Zeit; wenn der Kuckuck in der Uhr die nächste Stunde schrie, kam sie unter die Erde. Fränz lief schon draußen herum im neuen schwarzen Kleid, das lockige Haar mit schwarzen Bändern durchflochten, und spähte aus nach dem Trauergeleit.

Ein paar Wagen rasselten auf den Hof. Der Alte berichtete es mit Stolz dem Sohn: da waren doch noch viele, die dem Müller-Hannes die Ehre antaten! Aber die ansehnlichsten Gäste kamen nicht herein ins Haus, sondern blieben draußen beisammen stehen und schnüffelten da umher, und die Großmutter, die in der Küche fürs Leichenmahl schaffte, mußte die Magd mit dem Präsentierbrett und den Gläsern hinausschicken, ihnen anzubieten.

Wie lange noch, und der Herr Noldes würde kommen, und der Chorknabe mit dem Kruzifix, und die Schulkinder mit dem Lehrer. Schon fing das Glöckchen im Dorf an zu beiern, man hörte jetzt seinen blechernen Klang. Der Alte ermahnte den Sohn:

»Komm, komm eweil, Hannes!«

Aber der große Mann verbarg den Kopf an der Schulter des Vaters wie ein furchtsames Kind. Er konnte nicht, nein, er konnte nicht hinein zu ihr! … »Rühr mich net an!« … würde sie sich nicht aufrichten im Sarg und ihm das zuschreien wie dazumal?! Er beneidete seinen Alten.

Der ging noch einmal hinein zur toten Schwiegertochter, strich ihr ruhig über die kalten Wangen, blieb eine Weile neben ihr stehen und betete ein Vaterunser für die Ruh der abgeschiedenen Seele.

Der Ehemann lauerte am Türspalt – sollte auch er hineingehen –? 's war so friedlich still drinnen! Aber nein, nein … »Rühr mich net an!« …

Scheu fuhr er zurück und wankte zum Tisch, wieder zum alten Sitz, stemmte die Ellenbogen auf und den Kopf mit den stierenden Augen zwischen die Fäuste.

So fand ihn der Alte. Er schneuzte sich umständlich, und dann sagte er mit bedauerndem Kopfnicken:

»En gud Fra, en lief Fra, wann se aach net esu vill Gäld gehatt hat, als mir gedaach haon. Fürwaohr on enklich, Dau warst doch net befautelt, gel?« Er wartete, ob der Sohn etwas darauf sagen würde, aber der sagte nichts. Und so fuhr er fort in seiner Nachrede: »Jao, jao … ach, Jesses, mer meint oft, mer könnt dat Löwen bal net mieh mantenören! Esu en artig Fra, nie es se frech gäwen, immer esu still on gedullig. Jao, jao … die haot zu bal himmeln gemußt!« Er schneuzte sich wieder und legte dann dem Sohne die schrumplige Hand auf die Schulter: »Eweil mußte noch froh sein, Hannes, dat se dat Jüngelche bei sich geholt haot – wat hättste angefangen met esu em deierliche Worm!?«

Das Jüngelchen – ach ja, das Jüngelchen! Mit einem tiefen Stöhnen warf Müller-Hannes beide Arme lang über den Tisch. Auf einen Sohn, auf einen Prinzen hatte er gehofft all die Jahre, und endlich war er gekommen, der Jung, er war geboren worden, noch lebendig – die Hebamme hatte es ihm versichert –, aber kaum, daß ihn die Erdenluft berührt, hatte er auch schon zu atmen aufgehört.

»Verflucht on vermaledeit! Dat Jüngelche, dat Jüngelche!« Es klang wie ein Aufschrei der Empörung, wie ein zorniges Fordern von der höchsten Gerechtigkeit. Müller-Hannes ballte die Fäuste. Aber da – horch: – – »Rühr mich net an!« – – Und der Schuldbeladene ließ, geschüttelt von eisigem Schauer, den Kopf auf den Tisch fallen und brach in ein rauhes Schluchzen aus.

Draußen rückte die Schuljugend an; Knaben und Mädchen, wassergestrählt. Jetzt stellten sie sich vor der Haustür auf, der Herr Lehrer und Kantor hub an:

»Vater unser, o domine!«

Und die plärrenden Kinderstimmen antworteten:

»So singen wir alle Kyrie,
Kyrie eleison!
«

Der blecherne Klang des Sterbeglöckleins mischt sich mit dem Gesang, mit dem Räuspern und Scharren der zahlreich erschienenen Maarfeldner, mit dem unverständlichen Gemurmel der Weiber, mit dem lauteren Beten der Männer.

Schon hallten die schlurfenden Tritte der Träger im Mühlenflur.

Der Sohn erhob sich nicht, er lag wie gebrochen überm Tisch, schütternd vor fassungslosem Schluchzen.

»Komm, komm eweil, Hannes,« mahnte der Vater.

»Hannes! Hannes!«

Da war nichts zu machen. Kopfschüttelnd eilte der Alte hinaus; es mußte doch wer da sein, die Leute zu empfangen.

Unbemerkt und still war inzwischen der geistliche Herr zur Toten eingegangen. Der Priesterrock hing herab über derbe Bauernstiefel mit schlecht aufgesetzten Riestern, die Stola war verblichen, aber auf das vergilbte Schmutzig-Weiß des alten Chorhemdes fiel das leuchtende Weiß der wider die Vorschrift langgewordenen Haare.

Arnoldus Cremer lächelte. Er wußte nichts von den Schrecken des Todes. Wie es der Herrgott macht, so ist es gut, das würde er auch dem Witmann sagen, und daß die Frau und das Kind nun hinaufgeflogen in die ewige Seligkeit.

Matthes sah vom Flur aus den geistlichen Herrn drinnen am Sarge stehen; unschlüssig betrachtete er ihn: ob er sich den zu Hilfe rief, seinen Hannes herauszuholen? Ach, den –! Ein Zug von fast mitleidiger Geringschätzung glitt über das harte Bauerngesicht. Den Noldes, ne, ne, mit dem lockte man keinen Hund vom Ofen! Der imponierte ja keinem!

Da rasselte noch ein verspätetes Wägelchen auf den Hof. Wer kam da noch – wer – wer war's?! Der Alte traute seinen Augen nicht. War's möglich, der Laufeld?! Im Sturmschritt rannte er zu seinem Sohn zurück:

»Hannes, dän Laufeld, dän Laufeld!«

Der Witwer lag noch immer überm Tisch; aber nun, beim Klang dieses Namens, hob er den Kopf. Sein Gesicht, in jäher Röte erglühend, kehrte sich gegen den Alten.

»Jao, jao,« versicherte der eifrig, »fürwaohr on enklich! Wat saoste nau, dän Laufeld duht der de Ehr an!«

Der Laufeld – was?! Mit einem Ruck war Hannes auf den Beinen; er schwankte noch, aber nun stand er schon fest. Mit der verkehrten Hand sich hart über die betränten Wangen fahrend, wischte er jede Spur der heißen Tropfen weg.

Die Muskeln seines Gesichtes, die in unbeschreiblieber Erregung gezuckt, wurden straff. »Dän Laufeld, saoste, dän Laufeld?!« Der kam und tat ihm die Ehre an –?! Ha ha, wer's glaubte, der – der kam doch nur, sich an seinem Unglück zu letzen!

Die matten Augen bekamen noch einmal Feuer. Nein, weiden sollte sich der heute nicht – nein – noch war er der Müller-Hannes, noch war er nicht ganz unten.

»Eweil giehn ech!«

Die Zähne aufeinander beißend, daß kein Laut mehr seinem Munde entfliehen konnte, sich aufreckend mit Anstrengung allen Willens, die Brust herauspressend, daß sie sich mächtig wölbte, schritt Hannes hinaus.

Und so schritt er auch hinter dem Sarg her, den Nacken steif, den Rücken gerad. Die Fränz führte er an der Hand.


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