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Lange war Müller-Matthes nicht auf der Mühle gewesen. Er ging nicht gern hin, es grämte ihn immer, wenn er das Dach sah, das er einst so schön mit Schiefern gedeckt, und das jetzt an schadhaften Stellen mit Stroh ausgeflickt war. Das hätte der Hannes nicht tun sollen; es machte gleich von der Straße her keinen guten Eindruck.
Heute schien die Sonne recht freundlich auf das scheckige Dach, aber hämisch dünkte den Matthes ihr Lachen. Den ganzen Weg war er langsam gegangen, langsam zum Dorf hinaus, langsam am Maar entlang, langsam beim Heiligenbild vorbei; nun, je näher er kam, desto langsamer war sein Schritt geworden. Zwei Lasten lagen auf ihm: das Alter und – und die zweite Last wußte er nicht zu nennen, aber sie war gleich schwer der ersten. Sein Rücken, der früher so gerad – allzuviel Säcke hatte der Müller-Matthes auch nicht selber auf den Buckel genommen –, war jetzt gebückt, gerundet wie die Schale einer Schildkröte. Grau hing ihm die Franse eines spärlichen Bartes um die Wangen, und seine Hand stützte sich auf den Knotenstock. So beschwerlich war ihm der Weg noch nie geworden; 's war doch schon Spätherbst, in vierzehn Tagen ritt Sankt Martinus ins Land, aber die Sonne stach heute noch einmal verwünscht heiß. Sie prallte auf die Felsen der Straßenenge, daß aus Ritzchen und Spältchen allüberall graue Eidechsen hervorschlüpfen und Schlängelchen, um sich, ehe es Winter ward, noch einmal zu sonnen.
Ein paar übriggebliebene lästige Brummer surrten. Alle paar Schritt blieb der Alte stehen und lüftete die Mütze mit dem Glanzlederschild und wischte sich den Schweiß ab. Dabei fror ihn doch, obgleich er sein Sonntagszeug an hatte, den dicken, blauen Tuchrock, und das halbseidene Cachenez um den Hals trug.
Ach ja, die Sorgen! Wenn der Hannes nun Dummheiten gemacht hätte – die Leute sprachen von Schulden! »Jeßmarijusep!« Keuchend stand der alte Mann still, ihm ging der Odem aus.
Vom Mosenkopf wehte ein Lüftchen, aber es drang nicht bis auf den Grund des Tales; hier unten war es stickig in der eingesperrten Glut der Herbstsonne. Nichts rührte sich; die Blätter des Buschwerks, von Reifnächten schon buntgefärbt, standen unbeweglich an den Höhen, leuchtend wie rotes Gold gegen den lichtblauen Aether. Oben auf dem Rücken jenes Berges ging ein Gespann, wie Spielzeug erschienen Kühe und Pflug hoch auf dem Felsgrat. Der Lenker in weißen Hemdärmeln trat jetzt an den Rand und schrie etwas hinab in die Schlucht.
Matthes stutzte – galt das ihm?
Jetzt hob der da droben die Peitsche und wies eifrig zum Ausgang des Tales.
He – der Alte reckte neugierig den Hals – da kam eine Fuhre, neues Korn gewiß, und wollte zur Mühle!
Mit Hott und Hahr und Knallen und Schimpfen trieb der Fuhrmann im blauen Leinenkittel die starken Pferde an; ihrer zwei dicht am Wagen und noch eins als Vorspann vorneweg. Hu, mußte das eine schwere Fracht sein! Mühsam ziehend, trabten die Gäule näher; ein weißes Planendach war gewölbt über den Leiterwagen gespannt, Stroh und Heu quollen an den Seiten heraus. Da waren keine Säcke drin; wohlverpackt stand im Stroh eine große Holzkiste.
Was war denn das? Und für wen?!
»Brr!« Der Fuhrmann hielt vor der Mühle. Neugierig stellte sich Matthes auf: wollte der etwa gar zum Hannes?
Der Fuhrmann zog einen Frachtbrief heraus und buchstabierte laut:
»Herrn Johannes Kirchweiler, Müller zu Maarfelden in der Eifel.«
Bei Gott, wirklich für den Hannes! Verblüfft riß der Alte die Augen auf.
»En schwer Fracht,« brummte der Fuhrmann. »Von Trier bis heihin, in einer Dour eruf on erunner! Dreimal sein eich steche gebliewe, de Peerd haon gezillt on gezillt – Gott tröst, net rühr an! Dreimal haon eich Vorspann giehn nehme müsse. Dat kost en Heidegäld – o je!«
»Wat es dann drin?« fragte Matthes ganz leise und blickte auf die Riesenkiste. Er konnte auf einmal nicht laut sprechen, eine plötzliche Beklemmung drückte ihm die Kehle zu. »Saot, wat es et dann?«
»Olau, ebbes Feines: en Fortepiano.«
»En Forte-forte-pino?«
»Jao, esu en Drahtkommod, esu e Klavierche, für dideldum druf ze manche!«
Mit leeren Blicken sah der alte Mann drein. Und dann überkam ihn plötzlich die Wut: was, der Hannes schaffte sich eine Drahtkommod' an, jetzt, wo die Leute sagten, daß er Schulden hätte?! Jetzt, wo er's Dach nicht einmal mehr ordentlich flicken ließ?! Jetzt kaufte er so ein dumm Ding?!
»Dat kost ebbes,« sagte er vor sich hin; und dann noch einmal: »dat kost ebbes!«
Sein schlaffes Altmännergesicht mit den vielen Schrumpeln blies sich auf einmal wieder auf und wurde straff. »Dat leiden ech net,« schrie er unvermittelt den Fuhrmann an. »Holt dat Fortepino noren als widder reduor. Dat kömmt net heihin!«
Der im Kittel studierte abermals den Frachtschein, knallte dann ein paarmal derb mit der Peitsche und lachte:
»Wat gieht dat Eich an? – »Häh, holla, Wirtschaft!«
Nun tat sich die Tür der Mühle auf, Frau Tina trat auf die Schwelle:
»Jeßmaria!« Fast klang's wie ein Angstschrei, als sie die Riesenfracht sah. Vor hellem Schrecken vergaß sie ganz, den Schwiegervater zu begrüßen.
Der Alte packte sie am Arm.
»Wat es dat?« raunte er ihr zu, »wat – wat haot dän Hannes duh als widder –«
Er sprach nicht aus; die Stiege krachte, auf der obersten Stufe erschien Hannes, gerade wie er aus dem Bett in der Giebelstube gekrochen war, nur die grünen gestickten Pantoffeln hatte er angetan. Vergnügt rief er nach unten:
»Olau, es et eweil angekomme, dat Klavierche?! Dat es schien! Tina! Michel! Manes, maacht! Ech kommen eweil sälwer, tutswit!«
Was, der hatte jetzt noch im Bett gelegen, jetzt am hellichten Tag, wo es bald Mittag läuten würde?! Der Kuckuck drinnen schrie durchdringend: elf. Wieder packte der Alte krampfhaft den Arm der Schwiegertochter:
»Es – es dän Hannes unpaß?«
Sie kehrte die trüben Augen nach ihm und schüttelte den Kopf:
»Ne, aber hän kam esu spät nach Haus, on, on – ss –,« sie legte warnend den Finger auf die Lippen.
Von oben dröhnte schon wieder ungeduldig die Herrnstimme:
»Tina!«
»… hän war besoff,« flüsterte sie noch rasch.
»Tina,« schrie der Müller, »laoß dän Mahn ebbes Gudes ze ässen kriehn – Kotzdonner, Tina, hörste dann net?«
»Ja, ja!« rief sie ängstlich zurück, und dann rannte sie dienstfertig in die Küche. Der Fuhrmann folgte ihr.
Einsam blieb der Alte im Hausflur zurück. Seine Blicke flogen prüfend umher: da war die Tür der Mahlstube, sie stand offen, er ging hinein.
Kein weißlicher Mehlstaub flog drinnen umher und tanzte lustig mit den Sonnenstäubchen um die Wette beim leisen Zittern von Gebälk und Dielen. Keine gefüllten Kornsäcke standen in der Reihe; die Schälmühle streute keine Hülsen unter sich, umgestülpt lagen die Korbwannen und unordentlich auf den Haufen geworfen ein paar leere Säcke. Kein Knecht war da, nur ein Huhn flog gackernd aus dem offen stehenden Mehlkasten, und ein paar Mäuse huschten langgeschwänzt in die Ecke.
Rot und blaß werdend schnüffelte Müller-Matthes in alle Winkel. So hatte es zu seiner Zeit hier nicht ausgesehen – nein, o nein! – da war immer Arbeit gewesen. Er horchte: nein, das Rad ging wirklich nicht, auch die Kreissäge stand! War denn heut' Feiertag? Schier hätte man's meinen können. Die Magd, im Sonntagswichs, schaute jetzt gerade herein und prallte erschrocken zurück, als sie des Alten gewahr wurde. Sie wollte zur Kirmes in ihr Heimatdorf – hu, der mit seiner Visasch konnte einem wahrhaftig die Lust aufs Pläsier verderben! Sie machte, daß sie weg kam: da war doch der jetzige Herr ein ganz anderer, immer wie der gute Tag!
Eben kam er die Treppe herunter.
Vor der Tür auf dem Frachtwagen thronte das Klavierchen; ein Knecht hatte die Kiste aufgeschraubt, Fränz stand bei ihm und strahlte mit staunenden Augen: ein Klavier, ein Klavier, man konnte zum Tanz drauf aufspielen!
Ein paar Schrammen hatte die schöne Nußbaumpolitur abbekommen; Müller-Hannes ging trotzdem schmunzelnd darum herum. Er war ja so vergnügt, daß er's nun hier hatte – wahrhaftig kein Spaß, so einen Kasten durch die Eifel zu schaffen, Buckel auf, Buckel ab! No, für Geld kann man alles haben! Aber die Pferde sollten doch noch extra verpflegt werden, die hatten's redlich verdient. Er befahl, die Gäule auszuspannen und ihnen reichlich Hafer zu schütten. Fränz mußte zur Mutter laufen und Brot und Zucker holen; damit fütterte er sie vorerst und klopfte ihnen die Hälse und belobte sie.
Er war so in seinem Pläsier, daß er den Vater nicht eher bemerkte, als bis dieser ihn auf den Rücken schlug. Da zeigte er freundlich seine breiten, weißen Zähne: »Vadder, dau bis et? Esu früh haste dech schuns ufgemaach? Wat maacht dann de Modder? Nä, Vadder, haon ech en Freid!«
Der Sohn war so herzlich, daß es dem Vater schwer wurde, die strenge Miene beizubehalten, aber er zwang sich dazu.
»Komm in de Stuw,« sagte er so kurz, als sei er noch der Herr.
Gutmütig folgte Hannes – der Alte so feierlich, was wollte der denn?! Ungern nur trennte er sich von seinem Klavierchen.
Drinnen lag der Hund auf dem Kanapee und wälzte den Riesenleib recht wie ein fauler, vierschrötiger Lungerer. Der Alte gab ihm einen Schlag mit dem Stock.
»Giehste runner, dau Biest!«
Bös knurrend wies Nero die Zähne.
»Runner!«
»Laoß hän doch, Vadder,« mischte sich Hannes ein und guckte seinen Vater ganz verwundert an. Warum war der Alte nur heute so mißgestimmt? Ihm selbst war heute recht leicht zumut – leichter als manchen anderen Tag, an dem sich eben doch beim besten Willen nicht alle Gedanken abweisen ließen – hatte ihm doch vergangene Nacht gegen den ersten Hahnenschrei der Schmitz von der Wittlicher Sparbank versprochen, er wolle schon ein gutes Wort für ihn einlegen, falls er Martini die fälligen Zinsen nicht zahlen könne.
Welch ein Glück! Hätte er nicht zufällig diesen hochmögenden Mann, der alles unter sich hatte, Bücher wie Gelder, gestern getroffen – au weh, dann müßte er in vierzehn Tagen zahlen! Und wie kann man denn immer gleich so viel Bargeld liegen haben? 's war ein ordentlicher Batzen diesmal. Zu den dreitausend Talern, die er dazumal aufgenommen, den Laufeld auszuzahlen, und für welche die Bank eine Hypothek zu vier Prozent an erster Stelle gegeben hatte, war im Laufe der Zeit noch ein Posten hinzugekommen, der den ersten um ein beträchtliches überstieg: abermals eine Hypothek, an zweiter Stelle, zu fünf Prozent. All die Zinsen auf einem Brett Martini hinzahlen – Donnerwetter, das war keine Kleinigkeit! Schlimmstenfalls mußte man den Alten noch einmal angehen, aber besser so. Wahrhaftig, es hatte sich verlohnt, den Schmitz zu traktieren, die Flaschen vom Allerteuersten waren nicht zu teuer gewesen! Wenn der sich nur für ihn verwendete – und er hatte es ihm hoch und heilig versprochen und vor Rührung fast dabei geweint –, war die Sache so gut wie erledigt, und es hatte Zeit mit dem Zahlen. Ei, und warum sollte die Sparbank ihm denn nicht gern stunden? Die Mühle war gut, und die Wiesen, die dazu gehörten, und die Aecker oben überm Hang auch. Der Müller-Hannes war ihnen alle Zeit sicher.
Mit den Fingerknöcheln in lebhaftem Rhythmus auf den Tisch trommelnd, sah Hannes erwartungsvoll seinen Vater an, der ihn mit einem seltsam fragenden, gespannten Blick anstarrte.
»Willste wat, Vadder?«
Der Alte schluckte ein paarmal, der Hals war ihm ganz trocken, dann stieß er heraus: »Dat Klavierche – zom Donner noch ehs, wat willste met'm Klavierche?«
Das Klavierchen – aha! Nun wußte der Hannes auf einmal: das Klavierchen war's, das dem Vater nicht gefiel.
»Haha, hohoho!« Er hob ein unbändiges Lachen an und schlug seinem Alten mit beiden Händen auf beide Schultern. »Vadder, sei doch net esu von der alden Mod! Gieh doch nor kucken, owen beim Laufeld, lao stieht schuns längs eins, et haot mech als immer geärjert. Aewer eweil haon ech en vill neuert, en vill schienert, olau! – Wat wird dän esu falsch drüwer gänn! Aewer et es aach waohr, e Klavierche moß mer im Haus haon, wenn mer noren ebbes uf sich haalden duht. Dat Fränz soll druf spiele liehre.«
»On wän duht et bezaohlen?«
»Jeß, Vadder,« – nun lachte Hannes erst recht wieder – »dat es jao als längs bezaohlt!«
»Be-zaohlt?« Der Alte starrte den Sohn an, sein verhärtetes Gesicht fing an sich zu erweichen. Der Junge hatte also doch Geld? Er hatte das Klavierchen schon bezahlt?!
»Fürwaohr on enklich! Ech reden der neist vor. Wat denkste dann? Ech zweifeln, dat dän von Trier et hei eruf schicken däht bei ons in de Eifel, wann hän't net vorerscht bezaohlt krieht hätt? Olau esu domm, dän däht sich woll hüten!«
Das leuchtete dem Matthes ein. Wie eine Erlösung überkam es ihn: das Klavierchen war bezahlt, also der Hannes hatte Geld! Was die Leute doch auch alles klatschen! Der Junge hatte recht, nun gerade, nun mußte man zeigen, wer man ist. Was der Laufeld konnte, konnte sein Hannes noch lang! Aber dann beschlich ihn doch wieder ein leises Mißtrauen.
»Wievill kost et dann?« fragte er.
»Haot et gekost,« verbesserte Hannes. »Maach der kein Sorg drum, et kost net vill, bloß en paar hunnert Dahler.«
»Bloß en paar hunnert Dahler – hunnert Dahler?!« Matthes war ganz starr. Und das sagte der Junge so leichthin, als wären hundert Taler – ein paar hundert Taler – ein Pappenstiel? Hundert Taler, die waren hierzuland nicht so reichlich wie die Brombeeren an den Hecken. Wenn der Hannes auch sagte: »Maach der kein Sorg drum!« Die kam ihm jetzt doch wieder.
»Hunnert Dahler – en paar hunnert Dahler – wuh haste dann all dat Gäld här?«
»Pah!« Nun protzte Hannes; wenn einer an ihm zu zweifeln begann, stieg's ihm gleich zu Kopf. Er spielte sich auf: »Dat wär doch en elendig Drauerspill, wann ech net emaol hunnert Dahler hätt für auszugäwen, wann ech Lust derzu haon!«
Er war beleidigt. Natürlich, der Alte hatte was schwatzen hören von Leuten, die ihm mißgünstig waren; am Ende wohl gar war der Laufeld über ihn hergefallen?! Sein Blut, noch erhitzt vom nächtlich scharfen Trunk, stieg ihm in einer schweren Welle zu Kopf.
»Kotzdonner noch ehs, wann ech einen kriehn, dän üwer mech schkandaliert, ech schlaon dem …« Er hieb gewaltig mit der Faust auf den Tisch, daß ein paar Teller, die herumstanden, in die Höhe sprangen und klirrten. »Dudschlaon ech all dat Luderzeug! Wän haot ebbes üwer mech zu saon – üwer mech, mech, dän Müller-Hannes?!«
Er war aufgestanden, hatte sich mächtig gereckt und schlug sich mit der flachen Hand auf die gewölbte Brust, daß es klatschte.
Der Alte sagte kein Wort, aber er sah immer unverwandt seinen Sohn an, fast war es, als ob sein Blick sich an ihm weidete.
»Hä,« fuhr Hannes ihn an, »nau saog ehs, wän haot der dän Floh in't Ohr gesetz, no?! Ech sollen mer kein Drahtkommod kaafen? On ech saon der, ech kaafen mer derer zwei, wann ech Lust haon. Wän haot ebbes zu saon, hä?«
»Se saon, dau hätts Schulden,« murmelte der Alte, ganz kleinlaut geworden.
»Schulden, haha, Schulden, hohoho!« Hannes brach in ein krampfhaftes Gelächter aus. »Laoß nor einen kommen, dän sech unnerstieht, mer dat in't Gesicht zu saon! Schulden – ech on Schulden!«
Die Erinnerung an das, was er noch zu zahlen hatte, war jetzt gänzlich bei Hannes ausgelöscht. Für das Klavierchen hatte er blanke dreihundert Taler bar aufgezählt, das war also bezahlt, und das war die Hauptsache. Daß er das Geld, mit dem er den Pianofortehändler befriedigt, vom Pferdehändler entlehnt hatte, kam ja weiter gar nicht in Betracht. Der Leiser hatte ihn ohnehin beim Kauf des neuen Pferdes angeschmiert, ihm einen bösartigen Krippensetzer statt des wohleingefahrenen Kavalleriepferdchens angedreht, als das er den Fuchs angepriesen hatte. Mochte nun der Leiser dafür eine Weile auf sein Geld lauern!
»Ech on Schulden?!« sagte Hannes noch einmal und ließ die Augen glühend herumgehen. Er war jetzt immer gleich aufgebracht.
»No, no,« besänftigte der Alte, »sei net esu bossig, et es jao net esu bös gemaant!« Es tat ihm herzlich leid, den Sohn gekränkt zu haben; und beleidigt war er nun auch, in dessen Seele und in seine eigene. Es war eine Frechheit von den Leuten: wie konnten die sich unterstehen, so zu klatschen, einem ehrsamen alten Müllergeschlecht Schimpf und Schande anzutun?! Das brauchte man sich nicht gefallen zu lassen – nein!
Und wie der Sohn vorhin, so ließ der Vater jetzt die Faust auf den Tisch niedersausen und schrie laut: »Dän Lauskerl, dän Laufeld, dän es an allem schuld – Kreizgewieder! Dän müsse mir verklaogen!«
Indem kam Tina herein mit angstvollem Gesicht, glaubte sie doch aus dem Wortwechsel, der laut bis in die Küche tönte, herausgehört zu haben, daß der Schwiegervater und Hannes sich zankten. Wie froh war sie, als sie beide ganz eins fand, beide zwar mit hochroten Gesichtern, aber die Köpfe freundschaftlich zusammengesteckt. Sie überlegten: wie konnte man's anfangen, den Laufeld festzunageln?!
»Ech klaogen aach widder die zwei lao bowen,« brummte Hannes. Er bezeichnete nicht näher, wen er damit meinte, aber der Alte wußte schon Bescheid und nickte bekräftigend. Ja, die zwei oben am Bach, die neuen Müller, die waren so gut wie Diebe! Fingen sie hier unten der Mühle nicht alles Wasser aus der Kleinen-Kyll ab, das doch seit mehr als hundert Jahren dem Maarfeldener Müller allein zugehört hatte? Das war wider die Abrede! Wenn man hier nur einzig auf den Abfluß des Maars angewiesen sein sollte, freilich dann – der Alte warf einen besorgten Blick durchs Fenster, in das die Schluchthänge hereindräuten, und legte, wie um das Gehör zu verstärken, die Hand hinters Ohr: kein Wasserrauschen, kein Mühlgeklapper! – freilich, dann konnte es einen nicht wundernehmen, wenn die Gänge wie ausgekratzt waren und die Kreissäge nicht schnurrte. Ein großes Mitleid mit seinem Jungen, dem so übel mitgespielt wurde, kam über ihn und zugleich ein großes Angstgefühl.
»Klaog noren, klaog,« drängte er.
»Wann't ihnen beliewt, stellen se dat Wehr, stauen se 't Wasser uf, on ech sitzen hei drocken – de Forellen fangen se eim aach für der Nas weg! Su waohr ech läwen, eweil klaogen ech!«
Nun war Hannes fest entschlossen. Und damit gleich alles miteinander abgemacht würde, schrie er noch hinterher: »On dän Laufeld verklaogen ech erscht rächt! Eweil gitt et reinen Disch gemaacht!«
Tina hörte es und wurde totenblaß. Was, ihr Mann wollte klagen? Sie hatte nicht umsonst die echt bäuerliche Angst vor Prozessen und Gericht. Hatten die zwei denn ganz vergessen: einmal prozessen ist schlimmer, denn zweimal abbrennen? Sie kam und zupfte ihren Mann am Aermel: »Hannes! Hannes!«
»Wat willste?« Er sah sie mit unstet rollenden Augen wild an, da entsank ihr der Mut. Sie fand keine Worte.
»O, neist, neist,« stotterte sie und schlich dann zur Tür und war froh, als sie heil hinaus war.
Draußen luden die Knechte derweil die Fracht ab; sie hatten Hebebäume untergeschoben und gingen mit dem Klavier um, wie mit derbem Stammholz. Krach – nun rutschte es vom Wagen, krach – nun stand es am Boden, krach – gegen die Pfosten der Haustür, über den Flur geschleift, krach – nun in die Stube hinein. Hatten sie es so nicht fein gemacht? Mit Hurra empfing sie ihr Herr, und Fränz kam nachgeschossen und jubelte wie toll.
Nun war das Klavier endlich da! Holla, heissa, ho! Sie umstanden es alle und staunten und bewunderten. Wenn nur einer darauf spielen könnte! Hannes klappte den Deckel auf und paukte mit beiden Händen mächtig auf die Tasten. Das summte und surrte und brummte, schwirrte und brauste und brandete – ein Meer von falschen Akkorden – schrillte und gellte, quiekte und quäkte.
Frau Tina, die draußen im Flur stand, fuhr sich mit beiden Händen nach den Ohren und entwich in den fernsten Winkel. O Jesus, das waren wohl Töne, aber Mißtöne, sie taten weh!
Drinnen probierten alle eifrig weiter. Der Herr konnte es am lautesten, aber die Knechte, die auch einmal heran durften, gaben mit ihren schwieligen Fäusten ihm nicht viel nach. Die flinken Finger der Fränz huschten über die Klaviatur wie ein Heer tanzender Mäuse. Der Alte traute sich nicht recht, tippte nur mal hier und da, bald mal oben, bald unten. Eine Melodie brachte aber keiner zuwege, so sehr sie sich auch quälten. Schallendes Gelächter und Hohngeschrei begleiteten jeden mißglückten Versuch. Auch Nero hatte sich hingesetzt, den Kopf erhoben, und heulte das Klavierchen an.
So stand's, als Pfarrer Arnoldus Cremer bei der Mühle vorbeikam. Engelchen hatte ihrem Herrn heute recht früh das Mittagsmahl gerichtet, denn er wollte hinaufwandern gen Manderscheid zum Herrn Dechanten. Ein schwerer Gang war's für ihn; er ließ sich nicht gern sehen vorm Auge des Oberen, denn zu einem neuen Rock hatte es eben immer noch nicht gelangt, und der Hut von Binsenstroh, den er sich selber geflochten, fand gewiß auch nicht das Wohlgefallen. Aber was half's, er mußte vorstellig werden: der Herbststurm der vergangenen Nacht hatte das Kirchlein halb abgedeckt; wenn's nicht schleunigst ausgebessert wurde, ehe der Winter nahte, kam ihm die Gemeinde nicht mehr in die Predigt, und das wäre doch zu traurig, so sie nicht einmal mehr Gottes Wort zu hören bekommen sollte. Gerade über dem Schiff regnete es ein. Und daß die Gemeine Maarfelden den Schaden allein zahlte, daran war gar nicht zu denken, die war zu arm – nein, das konnte sie wirklich nicht! Die Hälfte, ja, das ging schon an, wenn die reiche Kirche von Manderscheid die andere Hälfte beisteuern würde.
Ach, war das ein saurer Weg! Der Pfarrer seufzte, wischte sich den Schweiß und nahm unruhig den alten baumwollenen Regenschirm vom rechten Arm unter den linken. Ach, viel lieber hätte er selber die halben Kosten getragen, als daß er da hinauf mußte, nach Manderscheid. Aber woher Geld nehmen und nicht stehlen?! Die Tasse Kaffee am Sonntag und die Semmel auf den Feiertag wollte er ja gern aufgeben, aber den Aermsten unter den Armen konnte er doch die kleine Beisteuer, auf die sie rechneten, nicht entziehen. Die Witwe Leis mit den fünf Kinderchen, hungrig wie die Raben – der blöde Tun, der im Sommer die Säue hütete, aber im Winter gar nichts verdiente – Becker'sch Willem, so schwach auf den Beinen, der mit seinem uralten, gichtbrüchigen Weiblein im Armenhäuschen hinter der Kirche hauste, die waren's doch noch bedürftiger wie das jetzt so bedürftige Kirchendach.
Nun denn, in Gottes Namen! Kräftiger schritt er aus. Da hielten ihn die Töne an, die aus der Mühle schallten. Was war denn da los? Musik? O, wie lange hatte er keine gehört! Denn die Orgel im Kirchlein war verstummt, sie harrte der Reparatur, und nur des Kantors durchdringende Stimme allein leitete den Gesang der Gemeinde.
Horch, ein Klavier! Verwundert ging der geistliche Herr näher und näher, es zog ihn magnetisch zum Hause hin; nun lauschte er heimlich unterm Fenster.
So erblickte ihn die Fränz mit ihren alles sehenden Kinderaugen. »Dän Hähr Noldes!«
Wie ein Windstoß sauste Hannes vor die Tür – der kam ihm gerade gelegen! – packte den Herrn Pastor am Arm und nötigte ihn mit Gewalt in die Stube. Das Klavierchen sei eben angekommen, das müsse er sich besehen.
»Kuckt hei, es et net ebbes ganz Extra't, dausendmaol nobeler, wie dem Laufeld sein't?!« Hannes strahlte im glücklichen Besitz.
In der Tat, das war etwas ganz extra Feines! Ein Klavierchen, ach ja! Lange hatte der geistliche Herr keines gesehen. Liebkosend strich seine Hand über die Politur: da konnte man sich ja drin spiegeln, so blank war die! Fränz versuchte es schon.
Fast fünfzig Jahre waren es her – ja, ja, so viele waren es wohl – da hatte der junge Arnoldus im Priesterseminar vorm Spinett gesessen und fromme Weisen geübt zu heiligem Gesang. Ob er die jetzt noch finden würde? Nein, das glaubte er sich selber nicht; fünfzig Jahre sind lang, da kann einem vieles entschwinden. Der alte Herr nahm, ein bißchen wehmütig lächelnd, den Binsenhut ab und wischte sich über die Stirn.
Der Müller lud ihn ein, beim Klavier Platz zu nehmen. Ob er nicht spielen möchte?
Nein, nein! Arnoldus Cremer erinnerte sich plötzlich wieder seiner dringenden Mission: nein, er hatte gar keine Zeit, keinen Moment, er mußte fort, für das Kirchendach oben bitten!
Hei, wenn's weiter nix war? Wegen dem mußte der Noldes fort? Haha, das fehlte noch! Dem Hannes lag daran, den geistlichen Herrn da zu behalten; es verlangte ihn, sein Klavierchen zu hören, jetzt – gleich – auf der Stelle mußte es sein. Er brannte darauf. Der Noldes konnte spielen – nein, den ließ er nicht fort! Nun war er ganz versessen. Mit beiden Händen drückte er den alten Mann auf den Stuhl vorm Klavier und entriß ihm den Schirm, den er wie zum Schutz umklammerte.
»Här' met'm Paraplei! Spillen, Hochwürden, spillen Se!«
»Ne, Hannes, ne, ich muß ja nao Manderscheid!« Der Pfarrer wehrte sich, aber Hannes ließ nicht locker.
»Spillen Se, spillen Se!«
»Ich muß doch – wegen dem Kirchendach – dem Herrn Dechant sein Mittagsschläfche – bis ein Uhr spätstens muß ich owen sein …«
»Kotzzackerlot noch ehs, wat micht dann eweil dän ganzen Bettel? Ech zaohlen de Hälft« – Hannes besann sich nun keinen Augenblick mehr – »ech zaohlen alles. Punktum, streu Sand druf. On eweil, eweil spillt Ihr!«
Die Umstehenden murmelten Beifall. Ja, spielen, der Herr Noldes sollte spielen, ein schönes Stück, ein lustiges Stück:
»Hä, Dadder, Ihr seid ald,
Heiraten muß ich bald!«
oder:
»Ich armer Mann, was fang ich an
Mit meinem bösen Weib!« –
»Ha, eins für ze danzen!« Fränz klatschte in die Hände.
Da schlug der Herr Pfarrer die ersten Töne an – war's möglich, wirklich wahr, der Müller-Hannes wollte die Reparatur zahlen, er brauchte nicht hinauf nach Manderscheid?! Kaum faßte er das Glück.
Die Tasten, die er anfangs nur zag und ängstlich zu berühren gewagt, tippend mit einem Finger, drückte er nun kräftiger nieder – der Hannes bezahlte das Kirchendach, ja, ja, der hatte es gesagt, da war kein Deuteln dran! Wie ein Wunder war's gekommen, ungesucht, ungeahnt, über alles Bitten und Verstehen. O, das Klavierchen, das war zum Segen geworden! Also darum hatte es ihn so unwiderstehlich zur Mühle hin unters Fenster gezogen?! Darum hatte er den Tönen folgen müssen?!
Vor Arnoldus' Augen verschwamm alles, die Stube, die Menschen; zum goldenen Nebel wurde die Luft, und mitten darein stand die heilige Cäcilie und lächelte ihn an.
Da griff er mit allen zehn Fingern immer kühner in die Tasten, und seine Hände, vom Alter und der Gicht ungelenk, vom Körbeflechten rauh, suchten und fanden doch die richtigen Töne.
Immer näher rückten ihm die Neugierigen auf den Leib. Hei, wie schön der Noldes spielen konnte! Die Knechte rissen die Mäuler auf, Großvater Matthes wiegte schmunzelnd den Kopf, Fränz flog mit einem Jubelschrei auf ihren lachenden Vater zu; der packte sie um die Taille und tanzte mit ihr los, wie toll, mitten in die Stube hinein, daß der Hund belfernd aufsprang und in Riesensätzen das Paar umkreiste.
Derweil saß der greise Pfarrherr wie entrückt am Klavier, die kleinen müden Augen waren glänzend geworden. Er hörte nicht das Schleifen und Stampfen und Bellen und Poltern – er hörte die Englein im Paradies. Seine beglückte Seele folgte der heiligen Melodie:
» O sanctissima, o piissima –«