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17.

Der Herr Noldes hatte es sich nicht nehmen lassen, trotz allen Zeterns des Engelchen, trotz seines allwinterlichen bösen Katarrhs, den er mit Brombeertee kurierte, trotz seiner steifen Beine und der hohen Jahre, selber mit auszurücken, um den Vermißten zu suchen.

Den fand man nicht.

Als das Suchen nun schon tagelang ging, murrten einige: ja, wenn der Matthes ein Saufsack gewesen wäre, da kann es wohl vorkommen, daß so einer vom Weg abgerät, einschläft und verfriert, aber wie sollte der Müller-Matthes wohl in die Binsen am Maar kommen, oder in die Abflußgräben der beeisten Wiesen, oder gar hinauf in Ginster und Stacheldorn und in die Höhlenlöcher der Hänge?! Es tat wahrhaftig nicht not, im Gestrüpp herumzukriechen, als wollte man eine Sau ausheben. Und überhaupt, was hatte der alte Esel draußen zu suchen gehabt, wenn so ein Schnee fiel?!

Dem Herrn Pfarrer half sein Anfeuern nicht viel, er brachte das mit gar zu bittender Stimme vor. Bauernschädel wollen kommandiert sein. Die Hilfskolonne zerstreute sich. Zuletzt suchten nur er selber noch und der Dhein. Da gesellte sich Müller-Hannes zu ihnen und ließ sich nicht abweisen trotz seiner halbblinden Augen.

Als aber die beiden letzten auch endlich heimgegangen waren, suchte Hannes noch immer allein weiter; von seinem Nero geleitet, stolperte er planlos durch den Schnee und kam nicht eher nach Haus, als bis die Fränz ihn suchte und heimholte. Dann war er von Schweiß durchnäßt, sank völlig erschöpft beim Tisch auf den Schemel und rang nach Luft. Er konnte es nicht glauben, daß sein Alter tot sei – nein, er wollte es nicht glauben, er wollte nicht! Der durfte nicht tot sein, der durfte nicht!

 

Mariä Lichtmeß war vorbei, Petri Stuhlfeier schon in Sicht, und Müller-Hannes suchte immer noch. Eigensinnig beharrte er hierbei, was auch die andern dawider sprachen.

Selbst die alte Frau des Matthes dachte nicht mehr an ein Wiedersehen hienieden mit ihrem alten Ehemann. Mit einem jähen Ruck war ihr Lebensbaum herausgerissen worden aus der vieljährigen Zweisamkeit, nun, da sie den Ruck einmal überstanden, erleichterte ihr die Stumpfheit des Alters das Einwurzeln in der Einsamkeit. Die Dorfweiber besuchten fleißig ihr Häuschen, mit denen konnte sie jammern. Inbrünstig zu beten hatte sie auch für die ohne Buß und Reu dahingegangene arme Seele im Fegefeuer; ihr gewohntes Dach hatte sie überm Kopf, ihr gewohntes Bett, ihren Kaffee, ihren Wecken – all das half ihr.

Beim Sohn war's anders; und der bekam auch keinen Besuch, oder hatte er einmal welchen bekommen, erschien der zum zweiten Male gewiß nicht mehr. Es fand sich keiner in die Rolle, gegenüber am Tisch zu sitzen und sich stumm mit dem Stummen anzustieren.

So, hinterm Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, fand den Hannes auch der Herr Noldes. Der Pfarrer hatte lange krank gelegen an seinem Katarrh, den er durchs Waten im Schnee verstärkt, nun war er aber wieder auf den Beinen, und sein erster Ausgang galt dem Müller-Hannes. Von dem wurde viel im Dorf gemunkelt: es würde schier niemand wundernehmen, hinge der sich eines Tages auf, oder ließ er sich das Mühlrad über den Leib gehen.

Der Geistliche, seinen mürben Regenschirm unterm Arm – aufgespannt hätte er den beileibe nicht, dazu war er viel zu schade –, trat ein in die Mühlenstube. Hier war lange kein Fenster auf gewesen, die zerbrochene Scheibe war mit pergamentenem Papier verklebt. Eine dunstige Luft schlug dem aus der freien Frische Kommenden entgegen.

Es sah hier etwas wüst aus; alles schien in diesem einen Raum zusammengepfercht. Verwundert sah sich der Pfarrer um. Fränz, die ihn hereingeführt, fing den Blick auf und zuckte die Achseln:

»Uns Dach es kaputt, et drippelt dorch – zum Frühjahr gitt et neu gemaach!«

Da lächelte der Herr Noldes: ein tröpfelndes Dach – ei ja, so was kannte auch er!

Mit freundlichem Gruß setzte er sich an den Tisch. Ah, da stand ja dicht dabei auch das Klavierchen! Er betrachtete es nachdenklich; unwillkürlich schweiften seine Gedanken zurück zu jenem goldenen Sonntag, an dem sie ihn einstmals hier hereingerufen. Die große Fränz war dazumal noch ein junges Kind, und der Müller-Hannes hatte viel und laut und herzlich gelacht, auch die Frau war noch bei Wege gewesen und der Alte. Gerade war das Klavierchen angekommen – ei, was waren sie dazumal alle so froh gewesen! Das Klavierchen hatte gar schön gespielt. Jetzt lag Staub darauf. Und jetzt lachte Müller-Hannes nicht mehr, sondern nickte nur stumm.

»Hannes,« sagte der Noldes. Und dann nach einer Pause noch einmal: »Hannes, wie geht et dann eweil?«

Es klang sehr freundlich; aber als keine Antwort kam, nur ein abweisendes Stöhnen, schwieg der Greis rücksichtsvoll: der Hannes wollte eben nicht sprechen, dessen Seele war gefüllt mit Leid, ganz dick voll, da konnte kein Wörtchen daran vorbeipassieren. Nun gut, dann hieß es warten, bis der Hannes Lust zum Reden kriegte! Vielleicht, daß das später besser ging, daß sich das Leid senkte und ein Wörtchen durch konnte. Also fein gewartet!

Und der alte Mann verhielt sich geduldig still. Seinen Regenschirm zwischen den Knien, faltete er die Hände und sah mit betrübten Blicken in seines Gegenüber verstörtes Gesicht. Das hatte noch immer seine Röte, eine fast violette Färbung; aber die Wangen waren nicht prall, nicht mehr gut gestopft, wie die Federkissen in den allerbesten Bauernbetten, in schlappen Wulsten hingen sie, und das Doppelkinn hing auch unter den schmerzlich heruntergezogenen Mundwinkeln. Lieber Herrgott in Deinem Leiden, wie hatte der Mann gealtert, der grämte sich aber arg!

Pfarrer Noldes konnte vor Mitgefühl nicht mehr an sich halten, seine ohnehin schon schwach gewordene Stimme noch mehr dämpfend, sagte er noch einmal, ein wenig zischend durch die Lücken der Zahnreihen:

»Hannes, wie geht et Euch?« Und dann so recht betulich: »Hannes, wat machste, wat denkste dann eweil?«

Da fuhr Hannes mit einem Ruck auf: wer, wer hatte doch immer so gesprochen – wer?! Die blaue Brille abschleudernd, richtete er groß und suchend den Blick seiner halberloschenen Augen auf den Greis gegenüber und stammelte etwas und streckte die Hände aus.

»Was gefällig, wie?« Herr Noldes legte die Hand hinters Ohr, er hörte nicht mehr recht gut. »Sagt Ihr wat?« Nun kam noch einmal der jammervoll rufende Laut. Es dünkte ihn schier, daß der Hannes rufe: »Vadder!«

Und gerührt, ganz sacht, streckte der Geistliche seine schrumplige Hand aus und legte sie kühl auf die heißen, blauroten Fäuste, die sich wie im Krampf auf dem Tisch ineinanderwanden. Er sprach kein Wort dazu; er hätte keins herausgebracht, hatte er doch das Gefühl, hier müsse man auf Zehen gehen. Stumm verharrte er und ließ nur die Blicke wandern von dem Verzweifelten am Tisch zu den Papierscheiben des Fensters und durch die hindurch. Er suchte den Himmel, aber der war hier nicht zu sehen; heut überhaupt nicht vor Regendunst und Wolkenschleiern. Von den Weiden gegenüber troff's; der Schnee, der solange hochaufgeschichtet gelegen hatte, war mürb und bröcklig geworden. Vom Dach der Mühle gab's alle paar Minuten einen dumpfen Schneerutsch, und von den Berghängen hörte man's zu Tal donnern. Ein stetes Rieseln und Rauschen war draußen, als wolle alles erfließen in Schmutz und Tränen. Alles grau; ein trübseliger Nachmittag, ein Tag ganz ohne Hoffnung. Gern hätte der alte Pfarrer seine Hände gefaltet, aber er traute sich nicht seine Rechte zurückzuziehen, Müller-Hannes hielt die jetzt mit beiden Fäusten umschlossen. Er umklammerte sie, er hielt sich daran.

So verging wohl eine Stunde. Fränz hatte schon ein paarmal den Kopf zur Tür hereingesteckt und dem geistlichen Herrn dringende Zeichen gemacht, er möge doch dem Vater gut zureden. Aber der Pfarrer fand noch immer keine Worte. Was sollte er dem Armen hier denn Tröstliches sagen?! »Du wirst Deinen Vater wiederfinden?!« – das war doch das einzige, wonach den verlangte. Der Maarfeldener Noldes schüttelte seinen greisen Kopf: auf das Wiederfinden da droben läßt sich so einer, wie der hier, nicht vertrösten – nein, nein! Der will gleich erhört sein. Aber es geschehen ja noch Wunder, warum nicht?! Wenn der hier nur beten möchte, so recht von Herzen, wie die Kinder vertrauend ihren Vater bitten!

Und seine Hand sanft aus den Fäusten des Hannes ziehend, hub er an: »Hm, hm!« Und räusperte sich wieder und machte abermals eine Pause.

Hannes kam ihm zu Hilfe; ihn starr ansehend, stieß er rauh heraus: »Wat wollt Ihr hei?« Und dann, als ob er jetzt erst den geistlichen Herrn erkenne: »Ah su, dän Noldes?! Gieht nor häm – jao, jao, ech weiß, Ihr seid en guden Hähr – äwer« – er machte eine abwehrende Handbewegung – »ech haon niemand nedig!« Und als der andere nicht gleich aufstand und ging, rief er heftig: »Ech brauchen niemand – hört Ihr, niemand – de Mühl es noch mein – hei sein ech noch dän Hähr – ech – ech – on ech will niemand!«

Arnoldus Cremer blieb beharrlich sitzen; er nahm's schon als ein gutes Zeichen, daß der andere wenigstens den Mund auftat, und so zwinkerte er ihn freundlich mit seinen, unter den vielen Hautfalten und den vorspringenden Stirnknochen fast verschwundenen Aeuglein an.

»Hannes,« sagte er ruhig, »mein Sohn, Du kömmst gar selten zur Beicht, Du gehst auch gar zu wenig in de Kirch, hm« – es wollte ihm was in die Kehle kommen, jedoch er räusperte es energisch weg – »aber dat tut nix zur Sach. Nein, nein, Du bis doch en Kind Gottes, denn Du hast Deinen Vadder sehr lieb gehabt un hoch in Ehren gehalten. War dat net so? Sag doch, Hannes?«

Der Mann zuckte zusammen; die widerwillige Haltung, in der er des Pfarrers Worte über sich hatte ergehen lassen, veränderte sich, er sank zusammen, als wollte er sich am liebsten verkriechen.

»Is et net so?« wiederholte der alte Herr noch einmal, »is et net so? Hoch in Ehren hast Du ihn gehalten!«

Da stotterte der Sohn, niedergeschlagenen Blickes, mit zitternden Lippen: »Net immer, net immer!«

»Aber lieb haste ihn gehabt, den Müller-Matthes?«

Da nickte der Sohn, und dann brach es ihm plötzlich mit einem Schrei aus der Brust:

»Wann ech hän nor finden däht – wuh, wuh es hän? Liegt hän im Maar? Es hän wuh erunnergestürzt on haot Pein gelitten, sich zu Tod gequält – allein! – haot uf mich gewaart, wie ech uf ihn – villeicht Stund um Stund, Dag on Naacht?! Et läßt mer kein Ruh, ech gänn gäckig drüwer! Wann mer hän noren finden däht! O, Hähr Noldes, hän hatt' schlohweiß Haor – Haor, wie Ihr!« Er streckte den bebenden Zeigefinger aus und berührte scheu des Geistlichen lange, wie Silber glänzende Strähnen. »Wann ech dat noren ein einzig Mal noch streicheln könnt – ech haon ihm noch ebbes zu saon – ech – ech haon et jao gries gemaach vor der Zeit! Haha, hohoho!« Er schlug eine Lache auf, daß der andere zusammenschrak. »Hähr Noldes, Ihr saot dat esu: en Könd Gottes – wuh es dann Gott?! Dän Deiwel aach, ech sein kein Könd mieh, on Gott, – olau, dän schläft!«

»Dän schläft net, mer muß nur zu ihm beten!«

»Beten?! Ech sitzen in Schulden bis üwer de Ohren – ech sitzen im Dreck – on eweil es dän Alden, dän esu gud waor, krepiert wie 'n Hund – wuh es Gott, hä?!«

»Da,« sagte der Greis, hob den Finger und deutete durchs papierverklebte Fenster auf ein Stückchen Blau, das, kaum größer wie ein Sacktuch, aber schon frühlingsfarben und intensiv leuchtend gefärbt, durch den grauen Wolkenwust des Himmels dahersegelte. »Kuckt dahin, Müller-Hannes!« Er nahm den nur schwach Widerstrebenden beim Aermel und zog ihn ans Fenster. »Kuckt, da oben! Heut bei dem grauen Tag, wer hätt das gedacht? Auf einmal Himmelsblau! Kuckt, wie schön!« Der alte Mann geriet ganz in Entzücken.

Ein plötzlicher Wind hatte sich aufgemacht, die Wolken auseinandergetrieben, daß sie in jäher Flucht nach rechts und links wichen; das Stückchen Blau ward größer. Noch regnete es, aber ein abendlicher Sonnenstrahl brach jetzt plötzlich hervor und suchte, vorerst noch wie ein verirrtes Kind, scheu den richtigen Weg.

»No, Müller-Hannes,« der Herr Noldes reckte sich und schlug den großen Mann triumphierend auf die Schulter, »wie is et jetzt, schläft unsen Herrgott? He? Wer läßt die Sonn heut scheinen, so früh im Jahr, wie kaum je? Dat is sein Zeichen! Ich sagen et ja, ich weiß et genau: der lebt un tut Wunder alle Tag. Mer muß sie nur sehen!«

»Meint Ihr?« In einem bitteren Ton ward's gesprochen. Einen einzigen Blick nur warf Müller-Hannes auf den heller und heller werdenden Himmel, dann kehrte er sich verdrossen ab; schlorrenden Trittes wankte er wieder zum Tisch, ließ sich schwer auf den Stuhl fallen und verbarg das Gesicht in den Händen.

Der alte Herr schaute betrübt nach dem Versunkenen hin: o weh, das hatte nichts genutzt! Immer schöner färbte sich draußen der Himmel, aber er gönnte sich die Freude daran gar nicht allein, dem da mußten doch auch die blöden Augen aufgetan werden, daß sie Gottes Wunder erkannten trotz allem Leid.

Aber was konnte er, der Noldes, dazu tun? Wie, wie sollte er es nur anfangen?! Er rieb sich die Nase, fuhr sich durchs weiße Haar und ließ die Augen ratlos schweifen. Da fiel sein Blick auf das verstaubte Klavierchen: ei, hatte dereinst nicht David vor König Saul gespielt und den Finsteren auf freundlichere Gedanken gebracht?! Finsterer konnte der auch nicht dagesessen haben wie hier der Müller-Hannes. Und war er selber auch kein David, und war's hier auch kein Harfenspiel mit süßem Schall, ein Klavierchen konnte es auch schon tun. Er wußte ja noch, wie das damals den Hannes erfreut hatte.

Leise schlich Arnoldus Cremer zum Klavierchen hin und klappte den verstaubten Deckel auf. Einen Augenblick zögerte er doch ängstlich – wie würde der Müller-Hannes es aufnehmen?!

Aber da brach ein zweiter Sonnenstrahl durch die Wolken, zitterte durchs verklebte Fenster und schien hell auf die gelben Tasten. Und Herr Noldes kriegte Mut – und Spaß hatte er selber ja auch daran – mit Bravour spielte er herunter, was ihm gerade in den Sinn und in die Finger kam. Es war eine alte Melodie, die er liebte. Sie hieß:

»Freut Euch des Lebens –«

 

Als wollte es schon Frühling werden, so harfte der Wind die ganze Nacht im blätterlosen Buchengebüsch der Schluchten; auch an der Mühle Giebel harfte er in den alten Weiden. Müller-Hannes hörte es. Das war kein Sturm mehr wie in den bösen Winternächten, das war ein Schlummerlied. Seine Seele ward ruhiger dabei. Sollte der Noldes wirklich recht haben mit seinem »Unser Herrgott schläft nicht, es geschehen noch Wunder alle Tag!« – ?!

Das wäre noch ein Wunder, das sich sehen lassen könnte – ein größeres Wunder, als da die Mutter Gottes sich jüngst zu Marpingen beim Brunnen gezeigt oder den Kindern im Busch – wenn der Alte jetzt hier in die Stube träte, leibhaftig!

Ach, der Alte! Mit einem tiefen Aufatmen setzte sich der Sohn aufrecht im Bett und schaute, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen, sehnsüchtig ins Dunkel.

Ach, er wollte sich ja schon bescheiden, wenn er seinen Alten überhaupt nur wiederzusehen kriegte! Aber nicht, wie sie's verhießen, dermaleinst mit verklärtem Leib, als einen Engel mit der goldenen Palme – nein, so nicht! Den im Engelskleid kannte er nicht, nein, das war sein Alter ja nicht! Den braungrünen Flauschrock, der so abgeschabt an den Ellenbogen war, den mußte er anhaben, den Wollenschal um den Hals, die Pelzmütze über die Ohren gezogen; akkurat so, wie er immer hierher gekommen war an den langen Herbstabenden, an denen es schon fröstelte. So, so wollte er ihn wiedersehn! Mußte er ihn wiedersehn!

Eine wahre Gier ergriff den Sohn – warum hatte der Noldes auch gesagt: es geschehen Wunder?! Log der alte Mann in dem schneeweißen Haar? Nein, es war ihm nicht wie eine Lüge über die Lippen gegangen. Es war schon wahr: Wunder – hier mußte ein Wunder geschehen!

Und wie ein Ertrinkender, der nach dem Strohhalm greift, faßte der Begehrende in die dunkle Luft mit beiden Händen und schloß die Fäuste, als gelte es schon, einen Zipfel vom abgeschabten Röcklein seines Alten zu fassen.

Aber nichts – leer die Hände – kein Wunder.

In ohnmächtiger Wut begann der Ungeduldige zu fluchen; doch dann fiel ihm ein: beten! Hatte der Noldes nicht gesagt: »Beten muß man dabei?« Pah, beten, bitten, betteln, das war nicht nach seiner Art!

Unmutig warf der Trotzige den Kopf zurück. Aber er hörte immer wieder den Noldes sprechen: »Nur beten muß man!« Der Noldes war ein Esel, ach, was der sagte! Wer hatte denn Respekt vor dem?! Die Bauern im Dorf? Noch lang nicht! Kaum die Weiber und die Schulkinder. Und des Noldes Obere sahen schon lange scheel – olau, wie konnte er, der Müller-Hannes, sich nur von dem verkindeten, armseligen Pastörchen so ein Märchen aufbinden lassen? Wunder?! Es geschehen keine Wunder mehr!

Und doch faltete Hannes jetzt plötzlich die Hände – seinen Alten würde er doch gar zu gern wiedersehen.

Es war ein wunderliches Gebet, das Müller-Hannes zusammenstoppelte; er ächzte dabei, und große Tropfen Schweiß rannen ihm in Hast und Drang über das Gesicht. – –

Am Morgen schien die Sonne hell, die am Abend vorher zum ersten Male gezeigt hatte, daß sie überhaupt noch da sei. Ganz oben am Schnee der Hänge leckte sie, leckte mit scharfer Zunge die Aeckerlein blank, daß die ihre dunkle Krume zeigten. Die bäuerlichen Köpfe, die eingeduselt waren im langen Frost und Schnee, fingen auf einmal an zu denken: »Im März nimmt der Bauer den Pflug beim Sterz«. In ganz Maarfelden rührte sich's.

Auch Fränz stand am Mühlengiebel, das Kleid hochgeschürzt, die Füße auf einem Stein, und bedachte eben, wie sie hinüberkommen sollte über das Wasser, das jetzt statt all des Schnees den Pfad übergoß. Zwischen den alten Weiden lag noch Schnee, aber nicht mehr viel, hie und da guckte schon die Erde des Weges durch. Fränz schirmte mit der Hand die Augen gegen die blendende Sonne: ob sie da zwischen den Weiden vielleicht trockenen Fußes durchkam? Sie guckte und guckte; plötzlich wurde ihr Gesicht lang, ganz blaß. Sie reckte sich auf den Zehen – die Augen riß sie auf, schreckhaft weit – einen zitternden Atemzug tat sie – ein paar Schritte watete sie näher – noch ein paar Schritte – und jetzt ließ sie den Korb, darin sie im Dorf Salz und Kaffee zu kaufen gedacht, fallen, stieß einen lauten Schrei aus und sprang, wie gejagt, mit ein paar so wilden Sätzen zur Haustür zurück, daß das nasse Schneewasser, in das sie achtlos patschte, ihr bis an die Ohren spritzte.

Drinnen in der Stube saß Müller-Hannes allein, die Ellenbogen aufgestützt. Sein Gesicht war finsterer denn je. Die Sonne ärgerte ihn, die tanzende Kringel vor ihm auf den Tisch warf. Wie durfte die lachen, wenn er wartete?!

Er hatte gebetet, gebettelt, wie ein Lumpenkerl, und nun – he, wo blieb nun des Noldes Wunder?! Pfiff nicht der Tauwind ihn draußen aus?!

Da wurde die Stubentür aufgerissen, Fränz stürmte herein. Beide Arme vorgestreckt, stürzte sie gegen den Vater; ihre Lippen zitterten, ihre Zähne klapperten. Kaum daß sie's herausbrachte, im plötzlichen Schrecken halb lachend, halb weinend:

»Dän Großvadder – dän Großvadder – unner den Weidenbäum – Vadder, lao es hän!«


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