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Abschied

Das gewaltige Jahr 1914 hatte seinen Einzug in die Welt gehalten, nicht anders als jedes seiner Vorgänger. Es brachte Regen und Sonnenschein, Freude und Schmerz in launischer Abwechslung, genau wie alle früheren Jahre. Ein jeder ging seinen Zielen nach und hielt sein kleines Einzelschicksal für das wichtigste in dem großen Räderwerk der Menschheit.

Für das verschneite Lehrerhäuschen draußen in Schlachtensee wurde es ein fleißiger Winter. Lillis Blondkopf vergrub sich in Bücher und Hefte, denn die nicht zur Zufriedenheit ausgefallene Weihnachtszensur mußte wieder wettgemacht werden. Da blieb keine Zeit zum Träumen und Umherschweifen in Märchenlanden. Lilli Liliput war mit all ihren Gedanken bei den unregelmäßigen Verben und den mathematischen Aufgaben. Ihre schriftstellerische Tätigkeit hatte sie vorläufig ganz eingestellt.

Ihr Zwillingsbruder arbeitete ebenfalls mit doppeltem Eifer. Er hatte jetzt mehreren Schülern aus unteren Klassen Nachhilfeunterricht zu erteilen; auch trug er seit einigen Wochen den grauen Pfadfinderhut, und seine Schulaufgaben durften natürlich unter den Kriegspielen und Sonntagswanderungen nicht leiden.

Das gute Beispiel der fünfzehnjährigen Zwillinge blieb nicht ohne Wirkung auf die Pensionäre. Besonders Sonja, die eine klare Auffassungsgabe besaß, hatte bald alle Schwierigkeiten der deutschen Sprache überwunden und war eine der besten Schülerinnen ihrer Klasse geworden. Bruder Iwan freilich besaß weniger Ehrgeiz; der tat nie mehr, als unbedingt nötig war.

Die russischen Kinder waren nun in der deutschen Familie völlig heimisch geworden. Fest hatten sie sich in den kleinen Kreis hineingefügt; mit herzlicher Liebe hingen sie an jedem einzelnen.

Wer das Lilli vor einem Jahre gesagt hätte, daß sie eine innige Freundschaft mit der einst unausstehlichen Russin verbinden würde! Es war unglaublich, wie vorteilhaft das Leben in dem harmonischen Familienkreise die junge Petersburgerin verändert hatte. Alles Schroffe und Abstoßende war von ihr abgefallen. Auch in ihren Gesichtszügen trat Sonjas liebenswürdigere Art zutage. Die waren weicher und mädchenhafter geworden; geradezu hübsch konnte das junge Mädchen jetzt manchmal ausschauen. Aber am meisten zeigte sich die Veränderung, die mit Sonjas Wesen vorgegangen war, als sie eines Tages Frau Doktor Steffen aus eigenem Antriebe bat, ihr doch ebenfalls wie Lilli einen bestimmten Pflichtenkreis im Haushalt zuzuweisen. Sonja, die früher widerwillig zu jeder Arbeit gezwungen werden mußte! Das war reicher Lohn für all die Mühe und all den Ärger, den das Mädchen einst verursacht hatte.

Iwan blieb ein durchtriebener kleiner Strick, der noch manchmal das Haus auf den Kopf stellte. Aber auch er war sauberer und manierlicher geworden, und vor allem aufrichtiger! Als er sah, daß Frau Doktor jedesmal traurig war, wenn er nicht bei der Wahrheit blieb, gab er sich Mühe, nicht mehr zu flunkern. Denn der wilde Schlingel hatte die deutsche Frau mit dem warmen Herzen liebgewonnen und mochte sie nicht betrüben.

Ein Nachmittag in der Woche gehörte auch in diesem fleißigen Winter dem Freundschaftsbündnis der vier Mädchen. Das Sonnabendkränzchen blühte trotz Schnee und Eis; ja, noch viel schöner war es in diesem Jahre als im vergangenen. Denn auch in der Wannseevilla schaltete jetzt eine liebende Mutterhand. Zum erstenmal durfte Ilses Mama den Winter in der Heimat verbringen.

Lena, die vierte im Bunde, war nach wie vor das fleißige Heimchen am Herd. Ihre Schwester Ruth hatte eine Stellung in einem Handelshaus angenommen.

Nun sorgte die junge Lena trotz der Schule wie ein Mütterchen für die kleinen Geschwister und den Haushalt.

Auch die Turnstunde bei Lillis vergöttertem Fräulein Gretchen war in diesem Winter wieder zu neuem Leben erwacht. Nicht um alles in der Welt hätte das Backfischchen die missen mögen. Es war zweifelhaft, was Lilli mehr für das Turnen begeisterte: die Verehrung für die junge Lehrerin oder die Tatsache, daß das Liliputchen jetzt tüchtig in die Höhe schoß. Kein Kleid paßte mehr; voll Stolz ließ Lilli einen Saum nach dem anderen heraus. Wenn sie auch durchaus noch kein Riese Goliath war, so hatte sie doch fast Muttchens Größe erreicht, und weiter verstiegen sich Lillis Wünsche gar nicht. Onkel Martin, der sie trotz ihrer Backfischwürde nach wie vor neckte, sagte sogar anerkennend, daß man sie jetzt schon ohne Lupe sehen könne.

Das Eis auf dem Schlachtensee schmolz; die ersten Schneeglöckchen lugten aus bräunlichen Erdschollen frühlingverheißend heraus. Blauveilchen und Krokus folgten. Hurra, der lange Winter war vorbei!

Syringenduft schlug mit süßen Wellen an Lillis Mansardenfensterchen, und ehe man sich's versah, stand das weiße Lehrerhäuschen draußen in Schlachtensee im tiefroten Rosenkleid, seinem schönsten Schmucke. Das war ein Blühen und Glühen, schier endlos! Und wollte gar nicht weniger werden, ob auch Lilli jeden Morgen einen Purpurbusch für den Frühstückstisch schnitt!

Die Morgenmahlzeit, sonst ein recht abgekürztes Verfahren, war jetzt während der großen Ferien die schönste Stunde des gemütlichen Zusammenseins. In die offene Veranda hinein sandten Rosen, Levkojen und Reseden ihre taufrischen Grüße. Der Hausherr mochte weder zur gewohnten Morgenzigarre noch zur Zeitung greifen, um den Genuß nicht zu beeinträchtigen. Auch Frau Mieze hatte Ferien gemacht. Die tatkräftige Frau stand täglich eine Stunde früher auf, um nachher mit Mann und Kindern feiern zu können. Da wurden Tageswanderungen über die Havelberge nach Spandau und nach Potsdam unternommen. Auch die Kinder waren sich darin einig, daß man nicht erst fortzureisen brauchte – daß es nirgends schöner sein konnte als in den schwermütigen Kieferwaldungen der Mark.

Dabei hatten aber Lilli und Sonja doch eine ziemlich große Enttäuschung herunterzuschlucken. Aus der geplanten gemeinsamen Reise an die Ostsee war zum zweitenmal nichts geworden. Zwar hatte Frau Pietrowicz für die Juliferien mit ihren Kindern wieder ein Zusammensein in Kranz verabredet, und diesmal sollte Lilli, die im vorigen Jahre so opferfreudig verzichtet hatte, die Freundin bestimmt begleiten. Da stürzte das wundervolle Luftschloß wenige Tage vor der festgesetzten Reise in nichts zusammen, umgeblasen von einem mitleidlosen Telegramm: »Beruflich nicht abkömmlich, Reise muß unterbleiben.«

Der ungebärdige Iwan trampelte mit den Füßen und weinte; Sonja machte wieder ein so finsteres Gesicht, wie schon seit Monaten nicht. Als aber auch Lillis Braunaugen verräterische Spuren von heimlich vergossenen Tränen zeigten, sagte Frau Doktor kopfschüttelnd: »Ihr dummen, unverständigen Kinder! Möget ihr niemals eine größere Enttäuschung in eurem Leben niederzukämpfen haben als heute!«

»Wenn noch wenigstens Fräulein Gretchen oder Ilse hier wären! Aber die sind doch während der Ferien verreist,« seufzte Lilli tieftraurig; sie ahnte nicht, daß bereits die nächsten Wochen ihr zeigen sollten, daß es ganz andere Ursachen gab, Tränen zu vergießen, als eine fehlgeschlagene Badereise.

Es war ein besonders wonniger Julimorgen, so sonnengolden, so von Frieden durchtränkt, daß selbst Iwan nicht wie sonst tobte und lärmte. Still blinzelte er auf den sich sonnenden Schnauzel und überlegte, wie er ihn wohl am besten aus seinem Morgenfrieden herausscheuchen könnte, ob mittels der großen Gießkanne oder durch eine Krocketkugel. Aber ehe der kleine Störenfried noch darüber mit sich ins reine kam, geschah etwas Merkwürdiges. Doktor Steffen, der selbst im Ärger stets beherrschte Lehrer, schlug kräftig mit der Hand auf den Tisch. Sein Auge hing an der Zeitung; keinen Blick hatte er heute für seine lieben Rosen.

»Österreich-Ungarn hat an Serbien ein Ultimatum gerichtet – es gibt höchstwahrscheinlich Krieg,« rief er erregt.

Das Wort »Krieg« schrillte hinein in die friedliche kleine Welt da draußen. Empfand niemand in diesem, Augenblick, wie bald dieses schicksalschwere Wort auch ihren engen Kreis auseinandersprengen sollte?

Nein! Verständnislos, mit großen verwunderten Augen blickte die Jugend drein. Auch Frau Mieze fühlte nicht sogleich die Tragweite der Mitteilung.

»Krieg ist immer etwas Schreckliches; aber du brauchst dich doch um fremde Länder nicht so aufzuregen,« entgegnete sie ruhig.

»So?« Doktor Steffen zog die hellblonden Augenbrauen hoch.

Lilli kannte ihren Vater ganz genau. Das war das beste Zeichen dafür, daß es heftig in ihm arbeitete.

»So?« wiederholte er. »Aber wenn Rußland hinter Serbien steht? Dann muß Deutschland als getreuer Bundesgenosse mit Österreich-Ungarn gehen, und Frankreich wird natürlich die gute Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, den von 1870 gegen uns aufgespeicherten Groll in die Tat umzusetzen. Die Folgen lassen sich gar nicht übersehen; ein Weltbrand kann daraus entstehen.«

»Warum nicht gar, du Schwarzseher!« Frau Mieze, der zuerst doch etwas beklommen zumute geworden war, fand wieder ihr herzbefreiendes Lachen. »Wenn – ja, wenn das Wörtchen ›wenn‹ nicht wäre! Was, Kinder, unsere freundschaftlichen deutsch-russischen Beziehungen, die lassen wir uns nicht trüben!« Sie strich im Vorbeigehen Sonja liebevoll über das dunkle Haar und klopfte Iwan herzlich die Wange.

Die beiden Mädel, die emsig mit Bohnenabfädeln für den Mittagstisch beschäftigt waren, sahen sich bestürzt an. Dann aber griff Lilli lebhaft nach Sonjas Hand und drückte sie zärtlich.

»Nein, Rußland und Deutschland werden sich niemals feind! Wir beide bürgen dafür mit unserer Freundschaft.«

O weh! Das Messer, das Sonja in der Hand hielt, war bei dem herzlichen Druck in Lillis Finger geglitten. Rotes Blut sickerte zwischen den beiden Freundinnen.

Lilli machte erschreckte Augen. Ihr phantastisches und auch ein wenig abergläubisches Köpfchen hielt das für eine böse Vorbedeutung.

»Oh, iist es serr schlimm? Soll man machen Verrband?« fragte Sonja mitleidig.

Lilli schüttelte den Kopf, aber um ihre heitere Stimmung war es geschehen. Wie ein Alp lastete es plötzlich auf ihrer jungen Seele.

Die Tage, die nun folgten, legten sich mit ihrem schweren Druck beklemmend auch auf die übrigen Hausgenossen. Nur Iwan und Margot in ihrer glücklichen Kinderunbefangenheit empfanden nicht die Gewitterschwüle, die in der Luft hing.

Von der Hauptstadt ging sie aus, und bis in den stillen Villenvorort spürte man sie. Sie lagerte auf des Vaters gefurchter Stirn, und sie sprach aus manchem sorgenvollen Blick, mit dem Frau Mieze jetzt öfters die russischen Kinder verstohlen streifte. Ja, sie drängte sich sogar zwischen die beiden Freundinnen Lilli und Sonja und ließ sie mitten im fröhlichen Geplauder plötzlich grundlos verstummen.

Was war aus den sich zuerst so herrlich anlassenden Ferien geworden! Niemand hatte Lust, etwas zu unternehmen; mit allen Fibern horchte jeder nach Berlin hinein auf den erregten Herzschlag des gewaltigen Millionenkörpers.

Ludwig fing bereits am Bahnhof die neuesten Zeitungsnachrichten ab; seine langen Beine waren ihm für seine Neuigkeiten nicht mal schnell genug.

Jeder Tag spitzte die politische Lage zu; jede Stunde ließ den Zeiger an der Schicksalsuhr Deutschlands seiner Vollendung entgegenrücken.

Mit klopfendem Herzen verfolgte man im Hause des Oberlehrers Doktor Steffen die Ereignisse. Umsichtig traf der Vater, der als Leutnant der Reserve sich im Kriegsfall gleich am zweiten Mobilmachungstage zu stellen hatte, seine Bestimmungen für eine mögliche längere Abwesenheit vom Hause. Aber noch eins beunruhigte ihn und seine Gattin neben der großen Sorge um das bedrohte Vaterland. Das waren die ihnen anvertrauten russischen Kinder. Was sollte aus denen werden, wenn der Krieg entbrannte? Auf Monate, ja, vielleicht auf Jahre konnten sie von ihrer Heimat, von ihrer Mutter abgesperrt sein. Und sollte man die armen, schuldlosen Kinder, die ihnen lieb geworden waren, der Möglichkeit aussetzen, in Feindesland über Siege, die man über ihr Vaterland davontrug, jubeln zu hören?

Zwei dringende Telegramme hatte Doktor Steffen bereits nach Petersburg mit der Anfrage gesandt, ob die Mutter ihre Kinder nicht heimholen wolle. Keins wurde mehr durchgelassen, ebensowenig, wie die Depeschen von Frau Pietrowicz nach Deutschland gelangten, in denen diese die sofortige Abreise ihrer Kinder anordnete.

»Ich weiß nur noch einen Ausweg,« sagte Doktor Steffen achselzuckend, als er wieder unverrichteter Sache von der Post heimkehrte. »Im Hause meiner Mutter wohnt eine Petersburger Familie. Falls diese nach Rußland abreist, könnte man ihnen Sonja und Iwan anvertrauen. Ich fahre sowieso nach Berlin hinein. Hier draußen kann ich die Spannung, wie die russische Antwort auf das gestrige Ultimatum ausfällt, nicht ertragen.«

»Das ist ein guter Gedanke, Ernst,« stimmte seine Frau bei. »Die Großmama kennt die russische Dame persönlich und wird die Sache gern in die Hand nehmen. Vielleicht fährt Sonja mit dir, daß man sie gleich mit den Herrschaften bekannt macht – für alle Fälle! Hoffentlich kommt es gar nicht so weit!« Frau Mieze sah trotz des sich schwarz zusammenballenden Gewölkes noch immer rosig.

»Väterchen, nimm mich auch mit nach Berlin! Wer weiß, wie lange ich die Sonja noch habe,« bettelte Lilli.

»Ich möchte auch mit,« ließ sich Ludwig aufgeregt vernehmen. »Heute wird es sich sicher entscheiden, ob es Krieg oder Frieden gibt! Da muß ein Berliner Junge mittenmang sein!«

So fuhr Doktor Steffen mit seinen beiden Kindern und der jungen Russin an jenem denkwürdigen Juli-Sonnabend in die staubigheiße Millionenstadt.

Am Potsdamer Bahnhof herrschte undurchdringliches Gewühl. Wagen, Menschen, Pferde und Reisegepäck – ein wüstes Durcheinander. Hals über Kopf kehrten die Sommerfrischler der drohenden Kriegsgefahr wegen aus den Bädern heim; Hals über Kopf reisten die in Berlin sich aufhaltenden Fremden davon.

Die Erregung in den Straßen hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die Menschenmassen fluteten den Linden zu. Doktor Steffen und seine jungen Begleiter wurden von dem Strom mit fortgerissen. Überall ernste, gespannte Gesichter, fieberhaft glänzende Augen. Niemand empfand die glühende Julihitze; jeder bangte allein nur das Wohl des teuren Vaterlandes.

Plötzlich wurde die kaum noch zu ertragende Schwüle des Wartens von dem ersten grellen Blitzstrahl der Gewißheit durchzuckt.

»Seine Majestät der Deutsche Kaiser hat die Mobilmachung befohlen ...«

Da war er, der Krieg!

Großmama war in begreiflicher Aufregung. Die Kriegserklärung – die Sorge um ihre beiden ins Feld ziehenden Söhne ließ das Herz der alten Frau erbeben. Aber sie klagte nicht. Jede deutsche Mutter wurde an jenem Tage zur Heldin und opferte dem Vaterlande freudig ihr Liebstes.

Onkel Martin packte schon seine Sachen. Er war Lübbener Jäger und mußte bereits am nächsten Tage zum Regiment. Seine Scherze und Späße hatte er vergessen.

»Ach, wäre ich doch ein paar Jahre älter – könnte ich doch auch mit hinaus!« Der sonst so ruhige Ludwig rief es mit blitzenden Augen.

»Ja, wenn ich bloß kein Schulmädel mehr wäre! Heute noch meldete ich mich beim Roten Kreuz,« fiel auch seine Zwillingsschwester lebhaft ein.

»Ei, Liliputchen, du auch mit in den Krieg? Du gäbest einen prächtigen Kanonenstöpsel ab!« Damit brach Onkel Martins lustige Veranlagung sich doch durch allen Ernst des Tages wieder Bahn.

»Für euch wird es auch daheim genug zu schaffen geben, meine lieben Kinder. Wir werden nicht Hände genug haben für all die Arbeit, die von den Daheimbleibenden zu leisten ist. Dazu ist niemand zu jung,« sagte der eintretende Vater, der die letzten Worte seiner Zwillinge gehört hatte.

Er war mit Sonja bei der russischen Familie gewesen, die sich gern bereit erklärte, die Kinder mit nach Petersburg zurückzunehmen. Schon für den anderen Morgen hatten sie ihre Abreise festgesetzt. So gab es einen eiligen Abschied, um alles noch vorher zu erledigen.

»Komm gesund wieder, Onkel Martin – laß dich bloß nicht totschießen –« Lilli und Ludwig zerquetschten den Onkel fast mit ihrem stürmischen Lebewohl.

Mit feierlichem Ernst drückten die Brüder sich die Hände.

Ganz seltsam berührte es die Kinder, als der Vater und Onkel Martin sich küßten.

Dann fuhren sie wieder ihrem stillen Vorort zu.

In Lillis Herzen stritten die entgegengesetztesten Gefühle miteinander. Ihre Vaterlandsliebe trieb sie von der Freundin fort, machte ihr das Mädchen, das sie so lieb hatte, zur Feindin. Aber Sonja ihre Feindin? Das war ja gar nicht denkbar! Lilli fand nicht ein noch aus in diesem Widerstreit der Empfindungen. Stumm und nachdenklich saßen sich die beiden Mädchen gegenüber ...

Auch in das rosenbekränzte weiße Lehrerhäuschen war die Kriegsbotschaft geflattert und hatte den Frieden aus den traulichen vier Wänden geblasen. Wie unter einem Streich war Frau Mieze bei der Kunde zusammengezuckt. Sie sah den Gatten in Gefahr und Tod – nur einen Augenblick! Dann riß sie sich zusammen. Das Weh, das sie fühlte, empfanden Millionen deutscher Frauen; sollte sie weniger stark sein als alle anderen?! Mit fester Kraft zwang sie ihre Gedanken auf das Nächste. Sie mußte für die jetzt wahrscheinliche Abreise der russischen Kinder Sorge tragen.

Als der Vater mit den dreien heimkehrte, waren schon die Koffer vom Boden heruntergeholt und die Sachen zum Einpacken bereit. Stumm umarmte der Oberlehrer seine tapfere Frau.

Lilli blieb auch jetzt still. Die Mutter fand es natürlich. Die Trennung von der Freundin, der bevorstehende Abschied von dem geliebten Vater schmerzte sie. Ach, die Mutter wußte ja nicht, daß es ihr als ein Verrat am Vaterlande erschien, die russische Freundin noch ferner lieb zu haben!

Bis in die Nacht hinein dauerte das Packen. Die beiden jungen Mädchen gingen der Mutter zur Hand; sie fanden doch keinen Schlaf.

Als dann endlich die Schlösser an allen Koffern eingeschnappt waren, sagte Sonja zum letztenmal »Gute Nacht«. Mit leisen Worten dankte sie dem Herrn Doktor für all das Gute, das sie in seinem Hause gelernt hatte. Aber als sie jetzt zu Frau Doktor kam, übermannte das einst so schroffe Mädchen die Bewegung.

»Frau Doktorr, lieben Sie mich weiterr, wenn iich auch Rruussin bin,« bat sie mit rührendem Ton. Fest zog Frau Mieze das ihr liebgewordene Mädchen ans Herz.

Im blumenbekränzten Wagen zogen Deutschlands tapfere Helden in den heiligen Kampf.

»Du bleibst mein liebes Mädel, ob auch unsere Völker gegeneinander in Waffen stehen. Das darf unsere Zuneigung zueinander nicht beeinträchtigen. Der einzelne soll nicht für die Gesamtheit leiden. Beweise uns deine Liebe, indem du weiter fortfährst, an dir das Gute herauszuarbeiten! Bei uns wirst du immer eine Heimat haben.«

Innig küßte die deutsche Frau das russische Mädchen. Aber auch Lilli drückte einen zärtlich dankbaren Kuß auf Muttchens Wange; sie hatte ihr mit ihren Worten die Freundin zurückgegeben.

Viel wurde in dieser Nacht im Mansardenstübchen nicht geschlafen. Bis die Sonne mit blutrotem Schimmer im Osten emportauchte, saß Lilli auf Sonjas Bettrand und redete sich alles vom Herzen, was sie bedrückt hatte. In diesen Stunden erstarkte die Freundschaft der beiden Mädchen für das ganze Leben.

Dann schlug die Abschiedstunde. So stürmisch und wildbewegt ging es auf dem von feldgrauen Truppen wimmelnden Bahnhof zu, daß Lilli erst zur Besinnung kam, als Sonjas wehendes Tüchlein und Iwans grüßende Mütze längst ihren von Tränen verdunkelten Blicken entschwunden waren. Am anderen Tage jedoch folgte ein Lebewohl, das der jungen Lilli noch viel härter ans Herz griff: das Scheiden von dem geliebten Vater! Ja, Lilli Liliput, es gibt andere Tränen im Leben, als die um eine nicht zustande gekommene Badereise!

Aber Lilli zwang sie hinunter, die Tränen! Fest biß sie die Zähne zusammen, um der Mutter das Schwere nicht noch schwerer zu machen – um dem Vater einen frohen, zuversichtlichen Gruß mit auf den Weg zu geben.

Noch einmal sah Lilli die geliebten Züge des Vaters am Fenster des Zuges auftauchen, hörte sie seine liebe Stimme: »Auf Wiedersehen! Zeigt auch ihr euch der Zeit würdig, meine Kinder!« Dann brauste der Zug mit all dem jungen, opferfreudigen Blut Deutschlands bedrohten Grenzen zu.

Die Zwillinge reichten sich mit festem Druck die Hände. Ja, sie wollten das Wort des Vaters erfüllen! Jung-Deutschland würde fest und treu daheim auf seinem Platze stehen, was auch von ihm gefordert würde!


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