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Das erste Kränzchen

Nur wer selbst einmal solch erstes Mädchenkränzchen erlebt hat, kann sich von Lillis Aufregung an dem endlich angebrochenen Tage einen annähernden Begriff machen. In der Schule mußte sie – ein nie dagewesener Fall – zur Aufmerksamkeit ermahnt werden. Zu Hause war das Mädel, sonst der Mutter rechte Hand, heute geradezu unbrauchbar. Statt des Suppenlöffels legte Lilli das Brotmesser hin; Margot zog sie das Kleid verkehrt an, und dem Vater brachte sie nach Tisch statt des gewünschten Aschbechers vom Schreibtisch das Tintenfaß.

»Das Kränzchen spukt!«

Doktor Steffen lachte nur. Selbst Mutter schalt heute nicht; sie wurde wieder jung in ihrem Kinde. Sie dachte der Zeit, da sie selbst als braunzöpfiges Mädel in jubelnder Aufregung am ersten Kränzchentage die halbe Wirtschaft daheim zerschlagen hatte und dann – zur Strafe nicht gehen durfte.

»Handarbeiten müssen wir mitbringen, Sonja; sonst ist es nicht richtig, sagt Lena, und die weiß es von ihrer großen Schwester.«

»Was fürr ein Arrbeit?« fragte Sonja erstaunt.

»Eine Handarbeit! Hast du keine? Ja, dann weiß ich wirklich nicht, ob du zugelassen werden kannst. Kaffee mit Kuchen und Handarbeiten sind die Hauptsache bei einem Kränzchen. Und dreizehn Jahr bist du auch noch nicht!« Lilli sah sorgenvoll drein.

»Wirr sollen nähen in Krränzchen?« fragte Sonja nochmal, verwundert auf die Kreuzstichdecke weisend, die Lilli eben einpackte; es war ihre ewige Handarbeit, die niemals fertig wurde.

»Na ja, Handarbeiten! Ich habe noch ein angefangenes Tablettdeckchen; das werde ich dir borgen.« Lilli war froh, einen Ausweg in dieser schwierigen Lage gefunden zu haben.

»Iich nicht weiß arrbeiten Hand,« gestand das russische Mädchen ein wenig kleinlaut.

»Ich zeige es dir; ich gebe dir Handarbeitstunde. Au, das wird fein!« In ihrer glückseligen Erwartung war Lilli heute zu allem bereit.

Die beiden Mädchen standen seit dem Tage, an dem Sonja Lillis Myrtenbäumchen zerstört hatte, bedeutend besser miteinander.

»Aber meine Freundin ist sie deshalb noch lange nicht,« hatte Lilli allerdings Ilse und Lena anvertraut, »denn erstens ist sie noch viel zu jung dazu, und zweitens ist sie mir auch zu lang.«

Tatsächlich: Lilli Liliput hätte Sonja viel lieber gehabt, wäre sie nicht gar so groß gewesen. Sie kam sich neben der starkknochigen, langen Russin mit ihrem zierlichen Figürchen noch kleiner vor als früher, und das war etwas, das Lilli nicht verzeihen konnte.

Mit verschiedenen Gefühlen betraten die Kränzchenschwestern das feine Heim des Bankdirektors. Die schüchterne Lena wagte ihre Füße, trotzdem sie sich den Schnee draußen sorgfältig abgetreten hatte, kaum auf die roten Teppiche zu setzen, mit denen das Treppenhaus ausgeschlagen war. Niedergeschlagenen Auges ging sie durch die sie bedrückende Pracht.

Sonja dagegen ließ ihre schwarzen Augen wie Feuerräder im Kreise herumgehen. Neugierig musterte sie alles, ja, nahm zu Lillis Schreck sogar eine kostbare Vase in die Hand.

»Laß stehen,« flüsterte die kleine Erzieherin ihr zu. »Man faßt bei fremden Leuten nichts an!«

»Iist ja hierr kein Mamma, zu sein ärrgerlich,« gab Sonja mit Gemütsruhe auf Lillis Vorwurf zurück.

»Das ist ganz gleich! Man tut es nicht, weil es sich nicht schickt,« belehrte Lilli Liliput.

In der größten Aufregung befand sich Ilse Gerhardt selber. Sie war so glückselig, muntere Gefährtinnen in ihrem stillen Hause zu haben, daß sie fast vergaß, zum Nähertreten aufzufordern.

»Also das sind die vier Blümchen?« In herzgewinnender Weise begrüßte Ilses Vater, der sich früher freigemacht hatte, die fremden Mädchen. »Werde ich denn auch zum Kränzchenkaffee zugelassen?«

»Ja, ja,« rief Ilse begeistert, während die anderen verlegen schwiegen.

Ilse färbte sich plötzlich purpurrot. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie soeben nur auf den eigenen Wunsch Rücksicht genommen hatte. Sicher fühlten sich die Freundinnen durch Papas Gegenwart bedrückt.

Aber da schüttelte der Vater zu Ilses ungeheurer Erleichterung lächelnd den Kopf.

»Nein – nein! Es war nur ein Scherz. Ich passe nicht zu solchen zarten Blümchen. Selbst als Schmetterling bin ich zu alt; höchstens gebe ich noch einen betagten Maikäfer ab.«

Kichernd über den Vergleich zog das Mädchenquartett in das Obergeschoß.

Am Eingang zu dem Rosenknospenzimmer hatte sich eine schon etwas abgeblühte, umfangreiche Rose aufgepflanzt, die alte Alwine. Beide Hände streckte sie den Ankömmlingen entgegen.

»Das ist schön, daß ihr unser Kind besucht! Nun laßt es euch nur schmecken, junge Fräuleins!« Mit diesen sichtlich von Herzen kommenden Worten öffnete sie die Tür zu Ilses Reich.

Selbst Lilli, die doch das Zimmer der Freundin längst kannte, konnte einen Ausruf der Bewunderung nicht unterdrücken. Ilse hatte aber auch ihre Sache zu hübsch gemacht.

In dem duftigen rosa Mädchenzimmer war der Kaffeetisch vor dem weichen Sofa mit einer rosenroten Decke geschmückt. Zierlich hatte Ilse eigenhändig die allerliebsten Täßchen, das Kaffeegerät und den Kuchenkorb darauf geordnet.

Mohrenköpfe mit Schlagsahne! Welches junge Herz schlägt bei diesem Anblick nicht schneller – welcher jugendliche Magen regt sich nicht unternehmungslustig! Sogar die Rosen, die auf den Tassen verteilt lagen, jede in einer anderen Farbe, hatten es schwer, sich neben solcher Magenfreude würdig zu behaupten.

Ilse aber blickte mit Staunen auf den Rosenflor.

»Papa, sicher der gute Papa!« Damit sprang sie wieder die Treppen hinab, um sich für die wunderhübsche Überraschung zu bedanken.

Die Miß übernahm inzwischen das Eingießen und rückte mit ihrem lebhaften Englisch den jungen Gästen zu Leibe. Aber merkwürdig: heute, wo ihre Reden handgreiflich durch Mohrenköpfe mit Schlagsahne unterstützt waren, wurde sie von allen glänzend verstanden. Als Ilse wiederkam, war man schon bei bester Arbeit. Die Miß war riesig nett, aber das Nettste an ihr war, daß sie sich nach einem Weilchen wieder »verzupfte«. Nun erst wurden die Mäulchen zum Schlecken, Schwatzen und Lachen richtig in Gang gebracht.

»Hierr es mirr gefallen gutt« – Sonja ließ die Augen in Ilses reizendem Zimmer umherwandern – »besserr als dein Dachstub, Lilli!«

Diese wurde rot vor Ärger; auch Lenas und Ilses Wangen färbten sich dunkler. Lena Ritter bei dem Gedanken, wie Sonja wohl erst über ihr bescheidenes Heim urteilen würde, und Ilse ärgerte sich über die Taktlosigkeit gegen ihre Herzensfreundin.

»Ich finde Lillis Mansardenstübchen mindestens so hübsch wie mein Zimmer,« widersprach Ilse eifrig. »Es ist so gemütlich bei ihr! Ich habe kein solch großes Ledersofa, in dem wir alle vier Platz hätten, und so gutgepflegte Blumen stehen auch nicht an meinem Fenster.«

Lilli nickte der guten Freundin dankbar zu; Lena aber sagte leise unter noch tieferem Erröten: »Da darf ich dich wohl gar nicht bitten, Sonja, mich zu besuchen, denn wir bewohnen überhaupt nur eine Dachwohnung.«

Jetzt wäre die Reihe, rot zu werden, an Sonja gewesen. Aber die hatte ein dickes Fell; sie zuckte nur gleichmütig die Achsel. Ilse aber fühlte als Wirtin die Verpflichtung, dem unerfreulichen Gespräch ein Ende zu machen.

»Was beginnen wir zuerst?« fragte sie, nachdem Alwine die Tassen abgeräumt hatte.

Sie wandte sich dabei an Lena, denn diese wußte in Kränzchendingen von ihrer großen Schwester her Bescheid. Auch hatte die gutherzige Ilse den Wunsch, die bescheidene Lena auszuzeichnen.

»Wir müssen Kränzchengesetze mit Strafen vereinbaren und uns andere Namen geben.«

Im Augenblick war die kleine Wolke am Kränzchenhimmel wieder hellstem Sonnenschein gewichen.

»Blumennamen?« fragte Ilse.

»Ach ne, das ist abgeklappert! In der vorigen Klasse haben wir uns schon Blumennamen zugelegt. Ich schlage vor: drei geben immer der vierten einen passenden Namen, ja?«

»Angenommen!« erklang es allgemein.

»Also erst die Wirtin! Wie nennen wir Ilse?«

Drei Mädchenköpfe wurden gedankenschwer in die Hand gestützt; tiefes Schweigen löste das lustige Stimmengewirr ab.

»Was meint ihr zu ›Glückspilz‹?« fragte Lilli.

»O nein, ich bin kein Glückspilz,« wandte Ilse kopfschüttelnd und traurigen Tones ein. »Glückspilze seid ihr, weil ihr eine gesunde Mama zu Hause habt.«

»Du hast recht, mein Ilsenkind!« Lilli drückte in liebevollem Verstehen die Hand der neben ihr Sitzenden, während Sonja rief: »Mirr hat mein Mamma gegeben forrt; ich sein auch niicht Glückspilz.«

»Sie hat es doch sicher zu deinem Besten, also auch zu deinem Glücke getan,« berichtigte Ilse.

»Wie findet ihr für Ilse den Namen ›Prinzeßchen‹?« fragte Lena; sie kam sich wirklich wie in einem Schloß vor.

Lenas Vorschlag rief allgemeine Begeisterung hervor.

»Au ja – fein – das Namen paßt!«

»Nun Sonja – nein, erst Lena!«

»Also gut! Wie soll Lena heißen?«

Wieder tiefsinniges Vorsichhinbrüten.

»Kann werrden geheißt Katzchen, weil wohnt an Dach.«

»Pfui, Sonja!« Ilse und Lilli riefen es zu gleicher Zeit, während Lena die Augen senkte.

»Hausmütterchen wäre schon passender, aber wir müssen noch einen viel schöneren Namen für unsere gute Lena finden,« ereiferte sich Lilli. »›Heimchen am Herd‹! Seid ihr damit einverstanden?«

»Ja – ja,« erklang es zustimmend, »Heimchen!«

»Nun ihr sollt nennen mirr,« sagte Sonja erwartungsvoll.

»Kosak,« schlug Ilse lachend vor.

»Njet – nein, will ich nicht werrden genennt Kosak und niicht rruussischer Sarrdine,« wehrte sich Sonja.

»Wie wäre denn Kratzbürste?« fragte Lilli neckend.

»O nein, iich will haben ein schönes Name,« verlangte die kleine Petersburgerin.

Aus Lillis Braunaugen lachte der Schelm.

»Gefällt dir ›Knurr-Murr‹ besser?«

»›Knurr-Murr‹ iist serr schön,« erklärte Sonja unter größter Heiterkeit der übrigen, mit diesem Namen einverstanden; sie beherrschte die deutsche Sprache noch nicht genügend, um die Worte von »knurren« und »murren« abzuleiten.

»Lilli braucht keinen neuen Namen; sie heißt Liliputchen und fertig,« sagte nun Ilse harmlos, die immer noch eine Vorliebe für diese Bezeichnung hatte.

Aber Lilli teilte diese Vorliebe durchaus nicht. Krebsrot wurde ihr Gesicht; Tränen brannten ihr in den Augen, und mit merkwürdig belegter Stimme rief sie: »Dann könnt ihr meinetwegen das Kränzchen ohne mich machen!«

»Aber Lilli – Lillichen« – ganz entsetzt war Ilse über das, was sie da angerichtet hatte, und ihre Augen baten flehentlich, nicht beleidigt zu sein – »ich habe es doch nicht böse gemeint! Wenn du den Namen nicht magst, suchen wir einen anderen für dich.«

»Warrum wollen du nicht werrden geheißt Lilipuutchen?« fragte Sonja, die Lillis sterbliche Stelle noch nicht kannte.

»Weil ich es eben nicht mag – weil ich keine Pute bin,« gab Lilli, noch immer gereizt, zur Antwort.

Wer als die anderen jetzt in helles Lachen ausbrachen, mußte sie doch einstimmen. Kränzchenlachen wirkt noch ansteckender als jedes andere Mädchenlachen.

»›Kobold‹ paßt für Lilli; sie ist die Lustigste in der ganzen Klasse, trotzdem sie die Erste ist,« schlug Lena Ritter nach kurzem Besinnen vor.

»Ich dachte an ›Märchen‹, weil ihr jedes Ding, das für uns stumm und dumm ist, ein Märchen erzählt,« warf Ilse ein.

»Also Märchenkobold!« Lilli lachte selbst, und dabei blieb es. Somit war denn das große Ereignis, die Kränzchentaufe, glücklich vorüber.

»Nun die Gesetze« – Ilse entfaltete einen Riesenbogen – »wieviel soll als Strafe für Zuwiderhandlung gegen die einzelnen Vorschriften angesetzt werden?«

»Zehn Pfennick,« rief Sonja.

»Nein, das ist viel zu viel; höchstens die Hälfte,« widersprach Lilli.

Lena schwieg, da schon fünf Pfennige für sie die Hälfte des Wochengeldes bedeuteten.

»Schön, also fünf Pfennige in die Kränzchenkasse zahlt man erstens: ›Wenn man einen anderen Namen als die Kränzchennamen gebraucht‹ – zweitens: ›Wenn man zu spät kommt‹ – drittens: ›Wenn man sich nicht verträgt‹ – viertens: ›Wenn man seine Handarbeit vergißt‹ –«

Die Vorschläge regneten nur so von allen Seiten, daß Ilse mit dem Schreiben gar nicht mitkam. Bald war der Riesenbogen bis auf das kleinste Fleckchen mit Kränzchengesetzen vollgeschrieben.

»Na, wenn ich für all das zahlen soll, kann ich mir keine Hefte, Bleistifte und Federn mehr kaufen!«

»Du mußt eben aufpassen, Lena.«

»Paß du nur selbst auf, Prinzeßchen, und berappe mal gefälligst die ersten fünf Pfennig für falsche Namensnennung! Hurra, der Grundstein zu unserem Reichtum ist gelegt,« jubelte Märchenkobold.

»Nun wollen wir aber arbeiten,« mahnte das pflichtgetreue Heimchen.

Die Handarbeiten wurden vorgeholt. Knurr-Murr machte ein rechtes Knurr-Murr-Gesicht; sie wußte, daß sie auf diesem Gebiet keine Ehre einlegen würde.

Und das tat sie redlich!

»Hier, Knurr-Murr, ist dein Deckchen. Die Blumen und Blätter werden dick gestickt; das ist zu schwer für dich. Aber die Ranken machst du selber; Stielstich kann sogar schon unsere kleine Margot.«

Märchenkobold fing Knurr-Murr die Arbeit an und reichte sie ihr dann herüber.

Da saß nun die arme Sonja vor ihrem Deckchen mit einer Miene, als ob man einem Wickelkind von vier Wochen eine Stickerei zu vollenden gibt. Viel mehr verstand die junge Russin auch nicht davon. In Petersburg hätte sie nie eine Näharbeit in die Hand genommen. Nicht einmal einen Knopf hatte sie sich selbst angenäht. Entweder besorgten dies die Dienstboten, oder es unterblieb überhaupt. Was kümmerte das Sonja!

Mit ablehnenden Blicken betrachtete sie die kleinen, zierlichen Stiche, die Lilli ihr vorgemacht hatte. Sie verspürte nicht die mindeste Lust, sich damit abzuquälen. Wie konnten die deutschen Mädchen so was nur zu ihrem Vergnügen tun!

Sonja sah sich im Kreise der Kränzchenschwestern um. Wirklich, da wurde allenthalben voll Eifer der Faden durch die Arbeit gezogen, aber die Unterhaltung kam trotzdem dabei nicht zu kurz.

Seufzend versuchte auch Sonja ihr Heil. Eigentlich war es doch viel bequemer, wenn sie den Faden gleich mit einmal über den ganzen vorgezeichneten Strich zog, anstatt ihn in soundsoviel Stichlein zu zerlegen. Wie konnte Lilli nur so ungeschickt sein!

So, das war gemacht! Höchst einfach. Daß bei den Windungen der Ranken die Aufzeichnung öfters vorsah und darunter das Muster litt, störte die junge Russin durchaus nicht.

»Die Stieler sein ferrtick; nun werrden ich sticken dick,« sagte sie nach noch nicht zehn Minuten großartig.

»Was – kannst du hexen, Knurr-Murr?«

Lilli griff erstaunt nach dem Deckchen. Aber einen Blick nur warf sie darauf und lachte – lachte, daß ihr die Tränen über die Grübchenwangen rollten.

»Prinzeßchen – Heimchen – seht doch bloß! Wie eine Spinne hat sie ihre Fäden gezogen – ach, ist das lustig – zu doll!«

Lilli Liliput konnte sich gar nicht beruhigen. Auch die anderen stimmten hell in das Lachen ein. Sonjas Kunstwerk wanderte von Hand zu Hand.

»Gib herr, dummer Ding!«

Zornig riß Sonja der neben ihr sitzenden Lena die Arbeit, die diese gerade bewunderte, aus der Hand.

Au, da war die Nadel bei dem ungestümen Griff tief in Lenas Finger gegangen. In roten Tropfen sickerte das Blut hervor.

Sonja machte ein entsetztes Gesicht. Das hatte sie nicht gewollt.

»Schadet nichts, Knurr-Murr; daran stirbt man nicht, wenn nicht gerade eine Lungenentzündung dazu kommt,« scherzte Lena.

Da zog nun plötzlich das russische Mädchen in jäher Aufwallung Lenas blutenden Finger an ihre Lippen.

»Biete, verrzeihe mich, Heimchen,« bat Knurr-Murr ganz zerknirscht, und ihr Gesicht hatte ganz und gar nichts Mürrisches mehr.

»Im Gegenteil, wir müssen dich um Entschuldigung bitten, daß wir dich ausgelacht haben,« entgegnete Lena, ein wenig verlegen.

»Wollen wir nicht unsere Handarbeiten zusammenlegen und lieber was spielen?« schlug Ilse vor, die als Wirtin Sonja nicht noch einmal dem Spotte preisgeben mochte.

»Ja – für heute waren wir fleißig genug!«

Aber es wurde leider nichts mehr aus dem geplanten Spiel. Die Tür öffnete sich, und die weiße Haube der alten Alwine nickte herein.

»Die Fräuleinchen möchten zum Abendbrot kommen!«

»Was – schon?« Im Umsehen war der Nachmittag vergangen.

Am Abendessen nahmen der Bankdirektor und Miß White teil. Auf Ilses Wunsch war nicht in dem großen Speisesaal gedeckt, sondern im Frühstückszimmer; da war es den Freundinnen sicher gemütlicher.

Aber die Plappermäulchen, die eben noch so lustig durcheinander geschwatzt hatten, verstummten hier unten. Ilses Vater und Lilli, die nirgends scheu war, bestritten die Kosten der Unterhaltung allein.

Die einfache Lena empfand den aufwartenden Diener entsetzlich störend, und außerdem – o Schrecken – es gab warmes Essen! Rehrücken mit Preißelbeeren! Lena hatte geglaubt, daß Mutter allenfalls belegte Brote für das Kränzchen zu bestreiten haben würde. Nein, solcher Luxus war unmöglich! Sie mußte jetzt noch zurücktreten!

Auch Sonja war nicht so dreist in der Unterhaltung wie sonst, und daran war die Miß schuld. Die hatte mit mißbilligenden Blicken gesehen, daß die kleine Russin das Messer in den Mund führte. »Shocking,« stand deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen. Was Frau Doktor Steffen beinahe täglich rügte, das ungebildete Essen ihrer Zöglinge, hier wurde es von einer völlig Fremden verurteilt. Sonja schämte sich deshalb.

Warum aber war Ilse verstummt? Sie, die doch als Wirtin die Verpflichtung hatte, in guter Laune allen voranzugehen!

Es war dieselbe Ursache, die Lena Ritter bedrückte: der schön garnierte Rehrücken. Ilse hatte Alwine gebeten, des Abends nur für belegte Brötchen zu sorgen. Wie taktlos mußten die Freundinnen es empfinden, daß sie es so großartig machte!

Der Bankdirektor nannte die Mädel scherzhaft bei ihren neuen Namen und neckte Lilli wegen der Anlage ihrer Kränzchengelder. Gelegentlich aber wanderte sein Blick unruhig zu Ilses Gesicht. Was hatte sein Herzblatt bloß?

Da erschien statt des Dieners die alte Alwine, in den Händen wie ein Heiligtum einen Erdbeerpudding tragend. Dieser Pudding war Alwines Stolz; sie ließ es sich nie nehmen, ihn eigenhändig aufzutragen.

Was – eine süße Speise auch noch? Geradezu entsetzt blickte Lena zu Ilse hin.

Die rief mit unterdrücktem Weinen: »Ich kann nichts dafür – wirklich nicht! Ich habe Alwine gebeten, nichts weiter als belegtes Brot zum Abendessen herzurichten.«

»Ih, wo werd' ich denn« – ein breites Lachen zog über das runzlige Gesicht der Alten – »unser Kind ist viel zu bescheiden! Wenn so lieber junger Besuch da ist, muß es auch einen anständigen Happenpappen geben.«

Dem Bankdirektor wurde jetzt der Zusammenhang klar.

»Na, Kinder,« sagte er belustigt, »Alwine hat es sicher gut gemeint. Das erste Kränzchen darf schon eine Ausnahme bilden. Von nun an gibt es überall nur belegtes Brot. Aber heute könnt ihr es euch noch ruhig schmecken lassen!«

Das taten sie denn auch. Die Gesichter hellten sich wieder auf, und Alwines Kunstwerk fand freudige Abnehmer.

Nachdem als allerletzte Vorschrift noch aufgesetzt war: »Für warmes Abendbrot ist eine Mark Strafe zu zahlen«, trennten sich Märchenkobold, Heimchen und Knurr-Murr mit begeistertem Dank vom Prinzeßchen. Der Diener brachte die drei zur Bahn.

Draußen aber im dunklen Garten faßte Sonja heimlich Lenas verwundete Hand.

»Iich kommen serr gern; auch zu dich, Heimchen,« sagte sie leise; das erste Kränzchen sollte ohne jeden Mißton enden, war auch ihr Wunsch.


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