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Der vierzehnte Geburtstag

Sonja saß im Mansardenstübchen und blickte mit nachdenklichen Augen auf ein Schreiben in ihrer Hand. Es zeigte große kräftige Buchstaben und kam weit her, aus Petersburg.

Lilli hatte sich oft über die neue Gefährtin gewundert, daß diese beim Empfang der Briefe ihrer Mutter so wenig sichtbare Freude zeigte. Gleichgültig überflog sie die für Lilli unleserlichen Zeilen; gleichgültig legte sie die Blätter zur Seite. Ja, als die offenherzige Lilli einmal ihr Erstaunen darüber äußerte, zuckte Sonja nur die Achsel.

»Wirr nicht sein vergehätschelt wie deutschen Kinders,« sagte sie so ruhig, als ob sie die ganze Sache nichts anginge. »Wirr nicht sehen unserr Mamma oft ein, zwei Tag – ist immerr da nurr für krranke Leuten – hat nicht Zeit für ihr Kinderr!«

»Ja, was ist denn da so schön in Petersburg, daß du gern zurück möchtest?« fragte Lilli aufs höchste betroffen.

»Iist eben Ruußland – iist schön in Ruußland – serr schön!«

Die schwarzen Augen der kleinen Petersburgerin blitzten begeistert. Lilli aber ging an diesem Tage still umher, ganz anders, als das sonst ihre Art war.

Sie, die selbst ein echtes, rechtes Elternhaus besaß, die sich auf Schritt und Tritt von Elternliebe umsorgt sah, fühlte die klaglosen Worte Sonjas schmerzlich in ihrer weichen Seele nachklingen. Vieles in der mangelhaften Erziehung der beiden fremden Kinder wurde ihr jetzt klar, und sie nahm sich vor, ungeachtet aller Ärgernisse, noch liebevoller zu Sonja zu sein, die keinen Vater mehr hatte und auch ihre Mutter fremden Leuten abtreten mußte.

Lilli Liliput wuchs an diesem Tage um ein großes Stück. Zwar nicht äußerlich, nicht sichtbar, aber innerlich: sie war ein gut Teil reifer geworden.

Freilich, oft dachte sie später, ob Sonja denn wirklich bedauernswert sei, da sie selbst doch gar nicht empfand, daß ihrem Leben in Petersburg etwas gefehlt habe. Aber wenn Lilli, die gerade Anna in der Küche beim Backen von Kartoffelpuffern zur Hand ging, jetzt einen Blick in ihr Mansardenstübchen geworfen hätte, wäre sie vielleicht anderer Meinung geworden.

Sonja hatte den schwarzen Kopf in die Hand gestützt und starrte auf die Zeilen ihrer Mutter. Das Schreiben war so wie alle anderen bisherigen Briefe, eilig, knapp und kurz. Verschiedene Anfragen nach ihrer Ausbildung, einige gesundheitliche Ratschläge und viele Küsse für sie und Iwan.

An diesen letzten Worten der Mutter haftete Sonjas Auge. Nie hatte sie früher irgend etwas dabei empfunden, ebensowenig, wie wenn Mama sie in Petersburg auf die Wangen küßte. Und jetzt –

Sonja wischte mit kräftigem Strich eine Träne von den dunklen Wimpern. Nein, sie wollte nicht den liebevollen Familienkreis, den sie hier kennen gelernt hatte, mit ihrem Leben daheim vergleichen! Ein russisches Mädchen durfte nicht weichlich sein!

Aber als sie nun ihre Geige aus dem Kasten holte und den Bogen leise über die Saiten gleiten ließ, da quoll es unter ihren Fingern hervor, was sie so fest in ihrer Brust zu verschließen trachtete: die Sehnsucht nach einem Vaterhaus, wie die Steffenschen Kinder es besaßen.

Drunten lauschte der Oberlehrer und seine Frau den weichen Geigenklängen.

»Es ist kaum denkbar, daß unsere verschlossene, trotzige Sonja so spielt,« sagte Doktor Steffen kopfschüttelnd.

»Das Mädel hat sicherlich mehr Gemüt, als es zeigt,« entgegnete Frau Mieze sinnend ...

Schön goldbraun gebacken standen Lillis Kartoffelpuffer auf dem Abendtisch.

»Die Mama hat geschreibt, wirr sollen nemmen Turrnstund, zu werrden grroß und starrk,« berichtete die kleine Russin aus ihrem Petersburger Briefe.

Lilli Liliput spitzte die Ohren. Groß werden? Dieses Wort wirkte elektrisierend auf sie.

»Schön« – der Oberlehrer nickte einverstanden – »ich bin ebenfalls für körperliche Übungen; ich werde euch zum ersten März anmelden.«

»Ach, mich auch, bitte, bitte, Vatchen!« erklang es von Lillis Lippen.

»Dich? Du hast doch in der Schule Turnstunde, außerdem hier zu Hause Schaukelringe und Reck; das wäre wirklich eine überflüssige Ausgabe, Kind,« wandte der Vater ein.

»Liebes, gutes Vatchen, ich will nur auch nichts weiter zu meinem Geburtstag wünschen! Es ist mein einziger Wunsch! Erlaube es doch!«

Flehentlich wandte sich das Töchterchen jetzt an die Mutter. Lilli Liliput sah sich bereits durch die Turnstunde zu riesenhafter Größe emporgewachsen.

»Das wird sich finden!«

Damit schnitt Frau Mieze vorläufig alle weiteren Erörterungen ab. Ludwig aber spießte mit pfiffigem Gesicht seinen Kartoffelpuffer auf die Gabel. Er wußte ganz genau, warum seine Zwillingsschwester plötzlich so erpicht auf die Turnstunde war.

Soviel Lilli auch in den nächsten Tagen bat und bettelte, anzapfte und anbohrte, sie bekam immer nur dieselbe wenig verheißungsvolle Antwort von den Eltern: »Das wird sich alles finden!«

So rückte der zweiundzwanzigste Februar, der wichtige Tag näher, an dem sie und Ludwig vierzehn Jahre alt wurden. Das Kränzchen, das in voller Blüte stand und stets den schönsten Tag der ganzen Woche bildete, war feierlich geladen. Auch Ludwig hatte seinen besten Freund, Walter Ritter, zu sich gebeten.

Es war noch früh am Tage. Sonja lag mit fest geschlossenen Augen blinzelnd im Bett, weil sie sich nicht entschließen konnte, Lilli als erste Glück zu wünschen. Da donnerten drei Faustschläge aus der Jungenstube gegen die Wand.

Im Nu war die bereits angekleidete Lilli aus dem Zimmer. Es war ein herzerfreulicher Anblick, wie der große Bruder sein zierliches Zwillingsschwesterchen zärtlich in die Arme schloß, und wie dieses liebevoll zu dem Gesicht des langen Jungen emporangelte, um ihm ihren Geburtstagskuß zuteil werden zu lassen. Innig sahen die blauen Jungenaugen in die braunen Schelmenaugen der Schwester. So wie bisher sollte es allezeit zwischen ihnen bleiben, sie beide die treusten Kameraden!

Dann brachte ein jedes sein Geschenk herbei. Lilli hatte zu einem Füllfederhalter für ihren Ludwig gespart. Diese Gabe, ein lang gehegter Wunsch des Tertianers, verursachte ein wahres Freudengeheul, das den kleinen Russen in der einfachsten Morgenbekleidung auf den Flur lockte.

Aber auch Lilli stieß einen Jubellaut aus. Nein, wie geschickt Ludwig war! Eine Blumenkrippe hatte er für ihr Mansardenstübchen aus weißen Birkenstämmchen gezimmert und sie mit grünem Blattgerank bepflanzt. Allerliebst sah das Ding aus! Wieder langte Lilli Liliput nach Ludwigs weit überragendem Haupte; ein zärtlicher Kuß dankte ihm für seine Mühe.

Plötzlich unterbrach ein Schrei des Entsetzens das herzliche Beieinander. Iwan, der Tunichtgut, hatte ihn ausgestoßen. Da stand er, der Schlingel, im unschuldig weißen Nachthemd; ein düsteres Tintenbächlein rieselte an diesem herab. Er hatte den neuen Füllfederhalter erwischt und ihn mit dem ihm eigenen Forschungstrieb sofort in seine Bestandteile zerlegt.

Ludwigs Hand durchflog kriegerisch die Luft, und da knallte auch schon eine kräftige Ohrfeige in den Morgenfrieden. Die erste inhaltschwere Tat im neuen Lebensjahr!

Der kleine Forscher schrie Mord und Zeter. Ludwig bastelte schimpfend an seinem Federhalter, und Lilli hielt sich die Seiten vor Lachen.

»Sieht er nicht aus wie Schneewittchen: weiß wie Schnee, rot wie Blut« – sie wies auf die dunkelgerötete Wange Iwans – »und schwarz wie Ebenholz?« Ein erneuter Lachanfall verschlang die letzten Worte.

»Sieht er nicht aus wie Schneewittchen: weiß wie Schnee, rot wie Blut?«

Tritte ließen sich unten von Vaters Zimmer vernehmen, und im Nu lag der Oberflur einsam, still und friedlich da, als wäre er nie der Schauplatz kriegerischer Vorgänge gewesen.

Sonja schien von dem Lärm nicht aus ihrem totenähnlichen Schlummer erweckt zu sein; immer noch lag sie mit geschlossenen Augen in ihren Kissen. Aber als Lilli jetzt ans Fenster ging, um Ludwigs Blumenkrippe aufzustellen, da stand dort ein kleines Myrtenbäumchen, und in seinen Zweigen hing ein Zettel mit der Aufschrift: »Habe mir lieb, wenn ich auch ein neuer Blumenelfen bin.«

Mit einem Satz war Lilli an Sonjas Bett und schlang die Arme um den Hals der durch die Lider Blinzelnden.

»Sonja, wie gut und nett von dir! Ich danke dir tausendmal! Du hast mir eine große Freude gemacht!«

Da vergaß auch die kleine Russin ihre Scheu und erwiderte Lillis Liebkosungen.

»Ich wünsche dich viel Schönes! Sollst werrden grroßes Dichterr!«

Lilli ließ ihr von Herzen kommendes Lachen hören.

»Wenn ich nur sonst hübsch groß würde! An dem Dichterruhm liegt mir vorläufig weniger.«

»Iist serr unrrecht! Werr kann dichten so schöne Märrchen, muuß werrden Dichterr,« behauptete Sonja eifrig.

Wie eine Weissagung klangen diese Worte durch das Mansardenstübchen in Lillis neues Lebensjahr hinein. Sie zitterten noch in der Luft, als ihr Klang schon längst verhallt war.

Aber wenn man eben vierzehn Jahr alt ist, denkt man weder an ein Vorzeichen noch an die Zukunft. Da ist die Gegenwart so herrlich, so voller Sonnengold; da blüht und sprießt es von lachenden Blümlein auf dem Lebensweg, ob draußen auch der Schnee das Land deckt. Da hat selbst Vaters drohender Finger wegen »nächtlicher Ruhestörung und unwürdiger Einweihung des neuen Lebensjahres« nur Scherzhaftes. Wenn aber gar auf dem Gabentisch noch dunkelblaue Turnhöschen prangen, dann ist der Gipfel alles menschlichen Glückes erstiegen. Wenigstens war er es für unsere Lilli.

Der Mutter leise geflüstertem Wunsch: »Bleib unser Sonnenkind, mein Liliputchen, wie bisher,« machte das Töchterchen heute alle Ehre. Das Geburtstagskind war von strahlender Heiterkeit und Ausgelassenheit, während Ludwig den wichtigen Tag ruhiger an sich vorüberziehen ließ.

Vierzehn Lichter flammten auf jedem Tische und beleuchteten die nützlichen Gaben, mit denen Elternliebe ihren Kindern den Eintritt in das fünfzehnte Lebensjahr verschönte. Da war so mancher Wunsch erfüllt, den Lilli gar nicht gewagt hatte, laut werden zu lassen, aus Angst, dann nicht an der Turnstunde teilnehmen zu dürfen. Mit liebevollen Blicken betrachtete sie ihre Turnhöschen und sah als Mutters praktische Tochter gleich nach, ob man sie auch verlängern konnte. Denn daß sie in ihnen eine stattliche Größe erreichen würde, stand bombenfest bei ihr. Doch ach: »Des Lebens ungemischte Freude wird keinem Irdischen zuteil!«

Erst Tags zuvor hatte Lilli diese Zeilen aus dem »Ring des Polykrates« in der Schule vorgetragen, ohne sich eigentlich recht was dabei zu denken. Und heute schon sollte sie diese Wahrheit an sich selbst erfahren! Denn o weh, neben den Turnhöschen lag ein Paar Turnschuhe – Turnschuhe ohne Absätze! Die waren für das kleine Liliputchen ein Gegenstand des Schreckens. Es mußte ja vom Erdboden verschwinden, wenn es gar keine Absätze hatte!

Aber Lilli überlegte. Das war doch nur im Anfang! Sie würde ja beim Turnunterricht wachsen – ungeheuer wachsen! Am vierzehnten Geburtstag vermögen selbst absatzlose Schuhe nicht die frohe Stimmung zu beeinträchtigen ...

In dem gemütlichen Eßzimmer saß man bei der Nachmittagschokolade und den selbstgebackenen Waffeln. Obenan strahlte der Großmama liebes Gesicht, die heute noch zärtlicher und liebevoller als sonst auf ihr mit Schokoladenkanne und Kuchenschüssel eifrig die Runde machendes Liliputchen schaute. Onkel Martin beglückwünschte die Zwillinge zu ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag und wies, als sie dagegen lachend Widerspruch erhoben, mit ernsthaftem Gesicht auf die Geburtstagslichte, die ihm ihr Alter verrieten. Er neckte sich mit den Kränzchenschwestern herum, nannte die große Sonja »Elefantenkücken« und die Zwillinge »Herr und Fräulein Backfisch«, trotz der übermütigen Versicherung Lillis, daß sie erst in sieben Wochen ein regelrechter Backfisch sei.

Pfänderspiele folgten. Die Großen nahmen ebenfalls daran teil und wurden wieder jung bei dem Lachen und Jauchzen der Jugend. Onkel Martin mußte unter allgemeinem Jubel mit den Zähnen einen Ring aus einem Mehlberg hervorgraben; eher bekam er sein Pfand nicht zurück. Als er aber endlich, weiß gepudert wie ein Clown, aus seinem Berg auftauchte, wollte er seinem kreischend flüchtenden Nichtchen durchaus einen Kuß geben.

Prinzeßchen war glückselig in diesem lustigen Kreise; auf Heimchens blassen Wangen blühten rote Rosen, und Knurr-Murr machte heute durchaus kein mürrisches Gesicht. Es war doch gar nicht so arg in Deutschland, wie Sonja geglaubt hatte.

Margot, die kleinste, war daran, eine Pfänderstrafe zu ersinnen, und da sie der Schwester rote Haarschleife in der Hand des Verteilers erkannt hatte, rief sie: »Ein Märchen erzählen!«

»Nein, nein, du hast gemogelt,« wehrte sich Lilli, aber es half alles nichts; eher bekam sie ihre Schleife für den langen Blondzopf nicht wieder.

»Erst muß die rechte Märchenstimmung sein,« sagte Onkel Martin und drehte im Nu die Gasflamme aus, daß der Schein der rotverschleierten Lampe geheimnisvoll durch das verdunkelte Zimmer zitterte.

»Alle auf die Erde sitzen wie im Morgenland,« befahl er dann. »Fräulein Backfisch muß auf einem Kissen unter uns thronen.«

Lachend nahm man die ungewohnten Plätze ein; nur Großmama durfte ihren bequemen Lehnstuhl behalten.

Erwartungsvolles Schweigen. Lilli schloß die Augen. Da war es ihr, als ob sie droben im Mansardenstübchen auf ihrem Märchensofa säße. Mit halblauter Stimme begann sie zu erzählen.

Von dem kleinen Volk berichtete sie, das in Ecken und Winkeln, in Ritzen und Wänden eines jeden Hauses wohnt und seinen Bewohnern Glück und Segen bringt – wie die kleinen Geister durch Küch' und Keller huschen, wie sie für Ordnung, Eintracht und Zufriedenheit sorgen.

Auch in einem weißen, weinumrankten Häuschen bei einem jungen Paar hauste das kleine Gesindel. Aber eines Tages wurde es ihnen zu einsam, und da beschlossen sie, sich ein Kindlein ins Haus zu holen. Mux, der älteste, und Pux, der jüngste der winzigen Gesellschaft, wurden zu diesem Amt ausersehen. Aber da es Winter war, kalter Februar, wagten sich die kleinen Gesellen nicht in die eisige Luft hinaus. Pux kroch vorn in die Türangel des Haustors, und Mux, der Alte, in die warme Strohmatte, die hinten vor dem Garteneingang lag. Hier warteten sie, ob ihnen das Glück nicht günstig wäre.

Siehe da, durch die kalte Februarluft kam es die Straße entlang mit silbernen Schwingen! Ein Gottesenglein war es, das in seinen Armen ein blondes Kind trug, um es in eine bereit stehende Wiege zu legen.

»Holla!«

Pux, der kleine Geist rief es, so laut er es mit seiner piepsenden Stimme konnte, aber das hörte sich nur an, als ob die Türangel quietsche. Doch als das Englein jetzt an ihm vorüberfliegen wollte, da erwischte Pux ein Zipfelchen seines flatternden Gewandes und hielt den erstaunten Himmelsboten daran fest.

»Gib mir das Kindchen,« bat der kleine Wicht, »Es soll es hier im Hause gut bei uns haben.«

Das Englein überlegte. Eigentlich sollte es das Kind in ein anderes Haus tragen; aber es war froh, daß es so schnell wieder von der kalten Erde in sein warmes Himmelsland zurückkehren konnte. So reichte es dem Hausgeist das Kindlein dar. Der nahm es erfreut und legte es geschwind in einen großen Waschkorb, der gerade im Zimmer stand.

Bei dem jungen Paar herrschte Freude und Glück über das Erscheinen des kleinen Mädchens. Alle Geister des Hauses jubelten und schossen Purzelbaum. Nur Mux lag hinten in seiner Strohmatte warm eingepackt, die Ohren mit Watte verstopft, und hatte keine Ahnung, daß bereits ein Kindlein seinen Einzug in das Haus gehalten hatte.

Drei Stunden war das kleine Mädchen gerade alt, da geschah es, daß der liebe Gott wieder einen Engel mit einem kleinen Kinde auf die Erde herabsandte. Diesmal war es für das weiße weinumrankte Häuschen bestimmt. Durch den Garten flog der Engel und pochte am Kücheneingang. Da sprang Mux aus seiner Strohmatte hervor und nahm freudestrahlend den kleinen Jungen, den das Englein ihm darbot, in Empfang.

Aber o weh, als er mit seinem Kindlein in das Zimmer der Eltern huschte, da lag bereits ein anderes Kindchen in dem Korb!

Mux fing an, auf Pux zu schimpfen, daß er voreilig und unbedacht sei, und wollte, jener solle sein Kind wieder zurückgeben. Aber die Mutter hielt ihr kleines Mädchen fest ans Herz gepreßt, daß niemand es ihr fortnehmen konnte.

»Lege doch deinen Jungen ebenfalls in den Korb hinein! Mein Mädel ist ja nur klein und zierlich; die zwei werden sich schon vertragen,« wisperte Pux von dem großen Uhrgewicht herab, von dem er die Sache mit ansah.

Immer noch brummend tat Mux, wie ihm geheißen, und: »Hurra – wir haben Zwillinge!« rief eine Männerstimme, die des Vaters.

»Das ist heute gerade vierzehn Jahre her, und wenn ihr's nicht glauben wollt, dann fragt nur Mux und Pux.«

Lilli schwieg und blickte erstaunt mit ihren Märchenaugen um sich. Sie hatte ihre Umgebung während des Erzählens völlig vergessen. Großmama und Mutter hatten Tränen in den Augen; Vater sah stillverklärten Blickes vor sich nieder, während die andern das Rascheln und Knistern der kleinen Hausgeister zu vernehmen glaubten.

Nur Onkel Martin packte die versonnene Lilli bei den Blondzöpfen und sagte anerkennend: »Sieh mal an, Mädel, du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst!«

Das brach den Bann, der über allen lag. Lachend wurde Licht gemacht, und als Klein-Margot, die sich ganz in der Mutter Arm verkrochen halte, neugierig fragte: »Und welcher kleine Geist hat mich und Schnauzel ins Haus gebracht?«, da war die vorherige lustige Stimmung wieder da.

Onkel Martin trug das Grammophon herbei, zu dem er den Kindern neue Platten geschenkt hatte. Die lustigen Weisen zerstreuten im Umsehen die Märchenstimmung.

Die beiden Tertianer begannen den Teppich aufzurollen, und nun ging das Gehopse los. Alles tanzte.

Selbst Großmama mußte sich mit den Enkeln im langsamen Walzer drehen. Es war wunderschön, bis Iwans unnütze Finger plötzlich dem Vergnügen ein Ende bereiteten. Knacks – machte das Grammophon, und da stand es still. Der kleine Russe hatte seine Untersuchungen des Innern mit allzu großem Forschungseifer betrieben. Alles Schelten, alle Vorwürfe und alles Herumbasteln half nichts; das Grammophon bockte.

Aber trotzdem war es ein herrlicher Geburtstag! Das fanden die jungen Gäste genau so wie die alten, besonders aber die beiden Geburtstagskinder. Die träumten sogar noch von den Herrlichkeiten, die der Tag gebracht hatte, während die kleinen Geister, von denen Lilli erzählte, in allen Ecken und Winkeln des kleinen weinumrankten Hauses raschelten und knisterten.


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