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Lilli hilft erziehen

Sonja – Sonja – du mußt noch mal zurückkommen! Du hast ja all deine Sachen herumliegen lassen!«

An der obersten Treppenstufe stand Lilli und rief es hinter der davoneilenden Russin her.

Die tat, als ob sie nichts gehört habe, trotzdem Lillis Stimme durch das ganze Haus schmetterte. Gleichgültig betrat sie das Eßzimmer, in dem der gedeckte Frühstückstisch stand.

»Sonja – Sonja – du mußt noch einmal zurückkommen.«

»Gutten Morgen!«

Ohne Herrn und Frau Doktor Steffen, die bereits mit Margot beim Kaffee saßen, die Hand zu reichen, griff sie nach der für die Kinder bestimmten Kanne Kakao. Aber so leicht wurde es ihr nicht gemacht. Frau Doktor streckte ihr freundlich die Hand über den Tisch hin, und wohl oder übel mußte Sonja ihre Rechte hineinlegen.

»Guten Morgen, mein Mädel! Na, ausgeschlafen? Du, ich glaube, Lilli ruft dich; sieh doch mal zu, was sie will!«

Sonjas finsteres Gesicht wurde noch finsterer. Sie hatte Lillis Ruf sehr wohl vernommen und wußte ganz genau, was die von ihr wollte. Aber das paßte dem russischen kleinen Fräulein durchaus nicht. Ob sie einfach auch der Frau Doktor Worte überhörte? Wieder griff sie nach der Kakaokanne.

Doktor Steffen runzelte die hellen Augenbrauen. Er war der gütigste Vater, aber er verlangte von seinen Kindern unbedingten Gehorsam. Und als seine Kinder betrachtete er jetzt auch Sonja und Iwan.

»Hast du nicht verstanden, Sonja, was meine Frau soeben zu dir gesagt hat?«

»Sto – was?«

Sonja erhob sich widerwillig. Vor Herrn Doktor Steffen hatte sie heillosen Respekt; dem wagte sie nicht zu trotzen. Unliebenswürdig betrat sie das Mansardenstübchen.

»Muß ich wieder gehen das Treppen – warrum rufen mirr du zurrück?«

Lilli Liliput war mit vor Eifer heißen Wangen beschäftigt, ihr Bett zu machen. Seitdem sie Pensionäre hatten, mußte auch Lilli, soweit es die Schulzeit erlaubte, im Hause tüchtig mit angreifen. Anna bewältigte sonst nicht alles.

Mit einem sprechenden Blick, halb belustigt, halb entrüstet, wies Lilli stumm nach Sonjas Ecke. Da sah es reizend aus!

In ihrem Bett hatten ihr Kamm und ein roter Saffianpantoffel es sich bequem gemacht. Das Nachthemd lag auf der Erde neben der deutschen Grammatik, und über den Stuhl waren ihre Sonntagskleider von gestern unordentlich hingeworfen. Auf dem hübschen schottischen Kleid prangte ein großer Lichtfleck.

Sonja machte keine Anstrengungen, ihre Sachen fortzuräumen. Fast täglich während der zwei Wochen ihres Aufenthaltes im Steffenschen Hause mußte sie morgens zum Aufräumen zurückgeholt werden.

Wie stets weigerte sie sich auch heute, Lillis Wunsch zu erfüllen. Feindselig sah sie die Tochter des Hauses an, und sobald sie ärgerlich war, pflegte sie Lilli immer noch »Sie« zu nennen.

»Es ist mirr uungenehm. Machen Sie es selberr, wenn Sie wollen haben es gutt!«

»Du hast deine Sachen selbst in Ordnung zu halten; ich bin nicht dein Diener,« entgegnete Lilli, nun auch gereizt.

»Soll machen es das Dienstbot!«

Sonja wandte sich, wieder an den Kaffeetisch zu gehen. Aber schnell wie ein Wiesel war Lilli an ihr vorüber, drehte den Türschlüssel um und zog ihn ab.

»Du kommst nicht eher hinaus, als bis du hier Ordnung gemacht hast! Anna hat mehr zu tun, als dir nachzuräumen!«

Das war ganz der Mutter Entschiedenheit und Ruhe, mit der Lilli jetzt sprach. Sie schien tatsächlich bei ihren Worten zu wachsen. Ohne noch einen Blick auf die mit geballten Händen dastehende Zimmergenossin zu werfen, ging sie wieder an ihre Arbeit. Sie mußte sich tummeln; die halbe Stunde, die sie jetzt früher aufstand, um der Mutter zu helfen, verging so schnell.

Sonja rührte sich nicht. Starr wie ein Steinbild stand sie da. Lilli Liliput seufzte tief. Man hatte schon seinen Ärger mit dem Mädel!

»Unausstehlicher Balg!« Wie oft hatte sie diesen Ehrentitel wohl in den letzten zwei Wochen in sich hineingemurmelt! Zuerst war sie mit all ihren Kümmernissen über die neue Gefährtin zu Muttchen gelaufen. Aber als sie sah, daß sie der Mutter durch diese unerfreulichen Dinge das Leben schwer machte, hatte sie einen festen Entschluß gefaßt. Sie wollte es allein übernehmen, Sonja zu erziehen. Natürlich mit Strenge! Bei einem so störrischen Mädel, wie es die Sonja war, konnte man in Güte nichts erreichen.

Aber auch mit Strenge wollte es nicht glücken. Mochte Lilli ihre Befehle in noch so eindringlichem Tone geben, Sonja tat einfach, als verstehe sie plötzlich kein Wort Deutsch mehr. Das konnte Lilli »rasend« machen, und sobald sie erst ihre Ruhe verlor, war es vollends um ihre Stellung als Erzieherin geschehen. Sonja zuckte die Achseln und lachte sie einfach aus.

Dabei gab Lilli sich rührende Mühe, um des lieben Friedens halber ihre Sanftmut nicht zu verlieren. Aber bleibe einer mal sanftmütig, wenn alles Predigen nichts nutzen will! Wenn man schon morgens früh einen wahren Kampf auszufechten hat, um die Langschläferin überhaupt nur aus den Federn zu bringen!

Dann bis abends Ärger über Ärger! Lillis hübsches Mansardenstübchen, das vor Sauberkeit und Ordnung früher nur so geblitzt hatte, glich jetzt ständig einem Trödelladen. Niemand hatte Sonja daheim, da die Mutter den ganzen Tag ihren ärztlichen Beruf verfolgte, dazu angehalten, mit ihren Sachen ordentlich umzugehen. Niemand hatte sie gelehrt, daß auch das einfachste Zimmer, wenn es reinlich und aufgeräumt ist, Behagen auszuströmen vermag. Ja, es kam Lilli oft vor, als ob Sonja überhaupt die Empfindung für solches Behagen völlig abgehe.

So rücksichtslos, wie sie mit ihren eigenen Sachen umging, machte sie es obendrein auch mit fremden. Der neue Schreibtisch, auf den Lilli so ungeheuer stolz gewesen war, starrte bald von Tintenflecken. Die Fenstervorhänge waren von den Ringen gerissen, weil Sonja sich nicht erst die Mühe gab, sie mittels der Schnüre vorzuziehen. Von den hübschen Nippsachen auf dem Ofenbrett hatte die Schäferin bereits ein Bein eingebüßt und die kleine Dackelgruppe, die Lilli besonders liebte, ein Schwänzchen. Ja, sogar das Märchensofa zeigte einen klaffenden Riß von Sonjas derben Stiefeln. Fand ferner die kleine Russin ihren Kamm und ihre Zahnbürste nicht gleich, was bei ihrer Liederlichkeit öfters vorkam, dann benutzte sie einfach mit aller Gemütsruhe die betreffenden Gegenstände ihrer Zimmergenossin. Für die peinlich saubere Lilli war dies das schlimmste. Nicht einmal das Verschwinden ihrer Federn und Bleistifte kam dagegen auf, nicht die Eselsohren, die sich jetzt häufig an ihren Schulheften und Büchern vorfanden, da der Russin, die ewig etwas verlegt hatte, selbst Lillis Mappe nicht heilig war.

Weil mit Strenge ganz und gar nichts auszurichten war, nahm die junge Erzieherin ihre Zuflucht schließlich zu Bitten. Wen Lilli mit ihren lieben Braunaugen so recht flehentlich anschaute, der konnte ihr nicht leicht etwas abschlagen. Auch bei der unzugänglichen Sonja versagte dies Mittel nicht ganz.

Freilich nur unmerklich! Lilli ahnte es gar nicht, daß Sonjas Trotz durch ihre guten Worte und bittenden Vorstellungen allmählich zu schmelzen begann. Im Gegenteil, die junge Russin hütete sich ängstlich, etwas von diesen weicheren Gefühlen zu zeigen. Sie tat, als ob sie nicht die Spur Achtung vor ihrer kleineren Erzieherin habe, wenn diese sich auch noch so sehr auf die Zehenspitzen stellte.

Nein, Lilli Liliput konnte auf ihre Erziehungserfolge durchaus nicht stolz sein. Trotzdem warf sie die Flinte nicht ins Korn, sondern versuchte es immer aufs neue, Sonjas Vertrauen und ihre Zuneigung zu gewinnen.

Auch heute! Lilli war mit ihrer Arbeit fertig. Sonja rührte noch immer keinen Finger. Das blondzöpfige Mädchen hielt es daher für geraten, andere Saiten aufzuziehen.

»Steh' doch nicht so bocksteif da, Sonja! Denk' mal, wie vergnügt wir hier zusammen hausen könnten, wenn du –«

Beinahe hätte Lilli gesagt: »– nicht solch Scheusal wärst,« aber sie fuhr schnell fort: »– wenn du nicht so unfreundlich wärest!«

Lillis Braunaugen, die aussahen, als könnten sie nur ins Leben hinein lachen, schauten ganz betrübt drein. In Sonjas Gesicht zuckte es. Aber noch war der Trotz größer als das weiche Gefühl, das Lillis Blick in ihr erweckte. Sie blieb unbeweglich.

Stillschweigend griff Lilli nach Sonjas Sachen. Es wurde ihr nicht leicht, nicht aufzubrausen und sich selbst zu der Arbeit der kleinen Russin zu zwingen. Aber der Gedanke, ihrer Mutter Ärger zu ersparen, half ihr. Ohne daß sie es wußte, erzog Lilli Liliput sich selbst mit.

Auch bei Sonja blieb ihr Verhalten nicht ohne Einfluß. Als sie Lilli in rührender Selbstlosigkeit ihre Obliegenheiten verrichten sah, kam ihr das Häßliche ihres Benehmens doch zum Bewußtsein. Ebenso stillschweigend wie Lilli legte sie jetzt Hand an.

In Lillis braunen Augen blitzte es froh auf. Aber sie hielt die Lider gesenkt, um Sonja nicht wieder irre zu machen.

Als die beiden Mädel endlich an den Kaffeetisch traten, nickte Mutter ihrer Lilli liebevoll zu. Sie sah es den heißen Wangen ihres Töchterchens an, daß es mehr Arbeit als bloß die häuslichen Pflichten im Mansardenstübchen gegeben hatte.

»Du mußt dich beeilen, Lilli; der Zug wartet nicht. Wo bleibt denn Ludwig?« sagte der Vater und verglich seine Taschenuhr mit der Standuhr in der Ecke.

Markerschütterndes Geheul aus dem Obergeschoß ließ die beiden Mädel plötzlich im Frühstück innehalten. Alles lauschte.

»Das ist Iwan!« Frau Doktor Steffen stieß einen Seufzer aus.

»Mein Brruderr wird tottgeschlagen!« Sonja sprang so ungestüm auf, daß der Stuhl umflog.

»Ih wo,« beruhigte Lilli sie lachend. »Sicherlich werden ihm bloß von Ludwig die Ohren gerubbelt. Er hat es ihm gestern schon angedroht, wenn er sich heute wieder nicht ordentlich wäscht.«

»Ja, und Ludwig hat auch gesagt, wir können im Frühling in Iwans Ohren Gurken pflanzen; es sind die schönsten Mistbeete,« fiel Nesthäkchen jubelnd ein.

»Aber Margot,« drohte die Mutter, »läßt du dich denn immer – –«

Sie kam nicht weiter. Der Lärm über ihnen wurde stärker. Scherben klirrten, und Ludwigs aufgebrachte Stimme erschallte. Die Eltern sahen sich kopfschüttelnd an.

»Ich werde nachsehen, was los ist!«

Lilli eilte zur Tür. Aber da erschien auch schon ihr Zwillingsbruder im Türrahmen, triefend wie ein Meergott. Aus seinen Haaren, seinen Kleidern rieselten kleine Bäche; ein niedlicher See bildete sich auf dem Fußboden um ihn herum.

»Ludwig, um Himmels willen, was ist geschehen – bist du unter die Brause gekommen?« rief alles durcheinander.

Der Junge schüttelte sich wie Schnauzel, wenn er ein unfreiwilliges Bad nehmen mußte.

»So ein Schlingel – so ein Galgenstrick! Wie eine Wildkatze hat er sich gewehrt – gebissen und gekratzt hat er – aber es nützte ihm alles nichts! Ich habe ihm doch die Ohren gescheuert. Plötzlich, als ich schon fertig war, griff der kleine Unhold nach der Waschschüssel und – haste nicht gesehen – warf er sie mir an den Kopf! Da – es blutet!« Ludwig wischte sich die Stirn, welche die Spuren des morgendlichen Kampfes zeigte.

»Vor allen Dingen ziehe dich mal um, mein Sohn, daß du dich nicht erkältest!« Vaters Ruhe wirkte im sonderbaren Gegensatz zu Ludwigs aufgebrachter Erzählung.

»Ich muß eine Entschuldigung haben, Vater! Ich erreiche den Zug nicht mehr; ich kann erst um neun Uhr in die Schule gehen. Ach, und wir schreiben gerade lateinisches Extemporale!«

Für den pflichtgetreuen Primus war das Schulversäumnis das schlimmste an dem ganzen Zweikampf. Auch der Vater machte ein höchst unzufriedenes Gesicht.

»Das geht doch zu weit; wenn die Kinder in ihren Schulpflichten gestört werden, habe ich die Sache bald satt,« murmelte er.

Lilli jagte schon mit schiefsitzendem Hütchen dem Bahnhof zu, während Ludwig, zitternd vor Nässe, sich wieder nach oben begab. Frau Mieze griff tatkräftig ein, die Überschwemmung im Zimmer zu beseitigen. Sonja aber saß indessen voll Gemütsruhe bei ihrem Frühstück, als ginge sie die ganze Sache nichts an.

»Sonja, du bist die Große; du mußt dem Iwan gut zureden, daß er sich nicht so ungebärdig benimmt. Der Junge zerschlägt mir ja meine ganze Wirtschaft,« wandte sich Frau Doktor an das kauende Mädchen.

»Kann ich nicht dafürr – sind nicht meine Ohrren,« verteidigte sich Sonja.

Frau Doktor mußte wider Willen lachen.

»Ich meine, du sollst dem Iwan sagen, daß er brav sein muß« – Frau Mieze sprach ganz langsam, damit Sonja sie verstehe – »Herr Doktor behält euch sonst nicht,« setzte sie noch ernst hinzu.

In Sonjas schwarzen Augen blitzte es auf.

»Oh, soll err uns schicken zurück nach Rruußland; wollen wirr sein ganz unbrrav,« rief sie.

»Du irrst dich, mein Kind; nach Petersburg werdet ihr nicht zurückgesandt. Eure Mutter gibt euch dann irgendwo anders hin, vielleicht in eine besonders strenge Pension, wo man euch nicht mit soviel Liebe entgegenkommt wie wir hier.«

Diese Worte machten großen Eindruck auf die kleine Russin; sie wurde blaß. Solche Möglichkeit hatte sie nicht bedacht. In eine besonders strenge Pension? Gräßlich! Wenn sie schon in Deutschland sein mußte, war es hier bei Doktor Steffen sicherlich am besten. Ja, es gab bereits manchmal Augenblicke, wo Sonja sich in dem warmherzigen Familienkreise sehr wohl fühlte. Aber sie wollte sich in Deutschland nicht wohl fühlen – nein, sie wollte nicht!

Der abgescheuerte Iwan erschien mit dem wieder getrockneten Ludwig. Da hielt es Sonja endlich doch für angebracht, dem Kleinen in russischer Sprache ernste Vorhaltungen zu machen. Die Folge davon war jedoch nur, daß der Bruder jetzt mit geballten Fäusten auf seine Schwester losstürzte. Frau Doktor selbst mußte die beiden Kampfhähne trennen.

Wo war die Ruhe und der Frieden ihres traulichen Familienlebens hin? Hatte sie nicht doch unrecht gehandelt, daß sie ihren Mann gegen seinen Willen zur Aufnahme der fremden Kinder bestimmte? Immer wieder legte sich Frau Mieze zweifelnd diese Frage vor ...

Der Vater war mit seinen Zwillingen nach Berlin hineingefahren, Frau Doktor an die Haushaltungsbesorgungen gegangen. Klein-Margot spielte in ihrem Puppenwinkel einträchtig mit Schnauzel und dem Kätzchen. Der Dackel stellte den Vater ihrer zahlreichen Puppenschar vor; Mija, das geduldige weiße Kätzchen, schlummerte sanft im Steckkissen der großen Babypuppe.

Iwan, der im Zimmer nebenan seine Aufgaben für den Nachmittagsunterricht bei Herrn Doktor Steffen machen sollte, zeigte bedeutend mehr Teilnahme für Margots vierfüßige Familie als für seine vierstelligen Zahlen. Im Mansardenstübchen an dem neuen kleinen Schreibtisch aber wurde um so emsiger gearbeitet. Sonja war ein begabtes Mädchen. Es machte ihr Freude, wenn Herr Doktor sie lobte und über ihre raschen Fortschritte erstaunt war. Doktor Steffen hatte es nämlich übernommen, die russischen Kinder bis Ostern für die deutsche Schule vorzubereiten. Nur mußte der Nachmittag zum Unterricht genommen werden, da der Oberlehrer vormittags am Gymnasium beschäftigt war.

Auf dem Fensterbrett neben dem Schreibtisch standen Lillis Blumentöpfe: winzige Kakteen, eine kleine Zimmerlinde und ein Myrtenstöckchen. Lilli, die jeden Gegenstand mit ihrer Phantasie belebte, liebte die kleinen stachligen Gewächse, als wären es lebendige Kinder; sie pflegte sie mit peinlicher Pünktlichkeit und beobachtete ihr Wachstum von Tag zu Tag. Jede Blume hatte für sie eine Seele, für die sie sich verantwortlich glaubte. Seitdem Großmama ihr nun den kleinen Myrtenableger geschenkt hatte, galt ihre Hauptsorge der Weiterentwicklung dieses neuen Pfleglings. Ein jedes junge Blättchen wurde mit Jubel begrüßt.

Es sah wüst auf dem kleinen Schreibtisch aus. Die Bücher und Hefte lagen zu kleinen Türmen aufgestapelt; die liederliche Sonja dachte nicht daran, das Gebrauchte fortzuräumen. Frische Tintenkleckse prangten auf der neuen graublauen Schreibtischplatte; unachtsam wischte sie die kleine Russin mit ihrem Kleiderärmel fort.

Das umfangreiche russisch-deutsche Wörterbuch, in dem Sonja soeben nachgeschlagen hatte, fand durchaus keinen Platz mehr in dieser Bücherunordnung. Unbedacht schleuderte es Sonja einfach neben sich auf das freie Plätzchen des Fensterbretts. Klirr – flog Lillis Myrtenbäumchen zur Erde; abgebrochen lag die grüne Krone unter den Topfscherben.

Sonja, die sonst nie Rücksicht auf das Eigentum anderer zu nehmen pflegte, bekam einen Heidenschreck. Lillis Myrte! Heute morgen erst hatte sie ihr strahlend ein neues Zweiglein gezeigt!

Behutsam hob sie die Trümmer auf. Aber da war nichts mehr zu retten; mitten durch war das junge Bäumchen gebrochen.

»Ach was,« dachte Sonja, die ihr unbequemen Gedanken geradeso wie die Topfscherben beiseite schiebend, »ich kaufe ihr eine neue!« Damit war für sie die Angelegenheit erledigt.

Nicht lange dauerte die wohltuende Ruhe in dem Lehrerhäuschen. Iwan hatte es nur kurze Zeit bei seinen Schularbeiten ausgehalten. Margots lustiges Geplauder mit ihrer zahlreichen Familie lockte ihn in das Nebenzimmer. Hier war es lustiger, als sich mit den dummen Zahlen abzuplagen!

Klein-Margot begrüßte den Spielkameraden freudig. Er wurde ihren Kindern sofort als Großmama vorgestellt. Leider aber hatte der wilde Schlingel recht wenig von der Ruhe und Bedächtigkeit einer solchen Dame. Nach fünf Minuten war ihm das Spiel über, und er sann auf ein neues.

»Wenn Hund iist Pappa, err muuß sitzen an Schrreibtisch!«

Damit packte er den in stiller Beschaulichkeit alle viere von sich streckenden Papa und band den sich verzweifelt Sträubenden mit der Hundeleine auf Herrn Doktor Steffens Schreibsessel fest.

Da saß nun der arme gefesselte Schnauzel, ließ seine Ohren und sein Schwänzchen hängen und blickte mit dem betrübtesten Teckelgesicht auf den Schreibtisch seines Herrn. Er wußte ganz genau, daß er auf diesem Platz nicht weilen durfte, und das schmerzte seine brave Hundeseele nicht weniger als die Freiheitsberaubung.

Der kleine Russe aber hatte bereits wieder ein neues Opfer beim Wickel. Diesmal war es Mija, das Kätzchen. Mit ungestümer Hand riß er das arme, süß schlummernde Katzenbaby aus dem Steckkissen.

»Soll sein derr Mamma! Heißt sich Mieze wie Frrau Doktorr – muuß setzen an Nähtisch!«

Das unmündige Kind verwandelte sich im Umsehen in eine Mutter. Freilich mußte Iwan ihm zum Zeichen seiner Würde der Frau Doktor schwarzseidene Schürze vorbinden.

Die neue Mutter schien sich in ihrer Rolle nicht recht wohl zu fühlen. Nachdem sie die scharfen Pfötchen glücklich durch die Schürzenseide gebohrt hatte, begann sie auf den Nähtisch zu klettern und sich mit dem Körbchen, das dort stand, eingehend zu befassen. Bald hatte sie all die Knäuel Stopfgarn und Wolle mit flinken Pfötchen herausgerissen und zu einem lustigen Wirrwarr verheddert.

Iwan jubelte. Margot dagegen wußte nicht recht, sollte sie lachen oder weinen. Die Kleine fühlte sehr wohl, daß Iwan etwas Unrechtes damit tat, die Katze an die Sachen der Mutter zu lassen. Aber – das Kätzchen war zu drollig bei seinem Spiel!

Der kleine Tunichtgut hatte immer noch nicht genug.

»Mamma muus rrichtik nähen!«

Er zog den Nähtischkasten weit heraus, und mit einem Satz war die Katzenmama auf dem Kasten. Aber das Übergewicht war zu stark. Mit kläglichem Miau drehte sie sich alsbald auf der Erde zwischen Bändern, Knöpfen, Garnrollen, Nadeln, Fingerhut, Scheren und anderem Zeug.

Klein-Margot brach in lautes Weinen aus, als sie die Bescherung sah. Schnauzel klaffte wütend von seinem Schreibsessel herunter, während die Katze unter dem sie beengenden Wirrwarr jämmerlich mauzte.

»Sei sie still, dummerr Ding! Nicht schrreien laut – Frrau Doktorr hörren und kommen,« versuchte Iwan das weinende Kind zu beruhigen.

Mit kläglichem Miauen drehte sich das Kätzchen zwischen Bändern, Knöpfen, Garnrollen, Nadeln, Fingerhut, Scheren und anderem Zeug.

Es war ihm selbst nicht ganz wohl zumute. Schnell hockte er nieder, befreite das Kätzchen aus seinem Gefängnis und schleuderte mit flinker Hand die tausenderlei Kleinigkeiten, wie er sie gerade zusammenraffte, in den Schubkasten.

Aber das dreistimmige Konzert war bereits bis in die Küche gedrungen. Frau Doktor Steffen ließ ihre Gans im Stich und kam eilig herzu, zu sehen, was ihrem Herzblatt fehle, das stets so artig spielte.

Als sie die Tür öffnete, war sie starr vor Entsetzen. Ihr tadellos ordentlicher Nähtischkasten, an den kein Kind herangehen durfte! Von Vaters Platz blaffte Schnauzel in ehrlicher Entrüstung, und im Zimmer sprang das Kätzchen in merkwürdiger Verkleidung umher! Frau Mieze traute ihren Augen nicht – war das wirklich ihre gute schwarzseidene Schürze, welche die Katze in Fetzen von sich abzureißen suchte? Die beiden Kinder aber standen daneben, das eine heulend, das andere mit trotzigem Schuldbewußtsein im Gesicht.

»Um Himmels willen, was soll das denn bedeuten?« Frau Mieze, die stets so tatkräftige, wußte nicht, wo sie hier zuerst anpacken sollte.

Klein-Margot stieß ein verzweifeltes »Nicht böse sein, Muttchen!« heraus, während Iwan unsicher auf das nichtsahnend herumspringende Kätzchen wies.

»Derr Katz hat gemacht alles,« stieß er auf Frau Doktors strafenden Blick hervor.

»So – auch sich selbst meine neue Schürze vorgebunden und den Hund auf Herrn Doktors Schreibsessel gesetzt?« fragte Frau Doktor empört.

»Alles derr Katz,« beteuerte Iwan, dem es in seiner Haut immer ungemütlicher wurde.

»Klein-Margot wird mir die Wahrheit sagen!«

Die Mutter wandte sich an das Kleinchen. Das schluchzte wortlos.

»Na, Margot?«

»Ludwig sagt, ein anständiger Junge verklatscht niemand,« stieß Margot in ihrem Jammer hervor.

Mutter mußte trotz ihres Ärgers lächeln.

»Erstens bist du kein Junge, und zweitens habe ich dich ja danach gefragt – also?«

»Wir haben gespielt; Schnauzel war der Papa und Mija die Mama, und Iwan hat gesagt, sie müssen am Nähtisch und am Schreibtisch sitzen,« schluchzte die Kleine.

»Und meine Schürze?«

»Die hat Iwan der Katze umgebunden – nicht böse sein, Muttchen!« Eine erneute Auflage des Geheuls erfolgte.

»Sie hat gelügt – derr Katz hat genehmt derr Schürrz,« unterbrach der kleine Russe das Verhör.

»Iwan, sieh mich mal an!«

Trotzig hob der Knabe die Augen zu dem Gesicht der Dame. Aber vor dem klaren Blick der Frau Doktor, der ihm durch die Matrosenbluse bis ins innerste Herz zu schauen schien, senkte er schnell wieder die Lider.

»Margot lügt nicht,« sagte die Mutter ernst. »Meine Kinder wissen, daß der liebe Gott jede Lüge hört und darüber traurig ist. Wenn du mein Junge wärst, würde es jetzt tüchtige Prügel setzen – nicht dafür, daß du mir das Haus auf den Kopf stellst, meine Sachen verdirbst und die Kleine auch noch zu diesen Streichen verleitest, sondern vor allem für das böse Lügen!«

Iwan machte Miene, zu entwischen.

»Du kannst hier bleiben,« fuhr Frau Doktor fort. »Ich mag anderer Leute Kinder nicht schlagen. Aber in den Kaninchenstall, der gerade leer steht, werde ich dich sperren; dort kannst du über deine Ungezogenheit nachdenken.«

Wildes Quieken, als ob ein Schwein gestochen würde, ertönte von den Lippen des russischen Jungen.

»Nicht verrsperren in Stall – gebe sie mirr Prrügel,« heulte er.

»Willst du künftig immer die Wahrheit sagen?« fragte Frau Doktor eindringlich.

»Iich will saggen wahrr iemerr!« beteuerte der Kleine.

»Dann will ich es dir heute noch einmal verzeihen! Aber sobald ich dich noch mal auf einer Lüge ertappe, wanderst du in den Stall – verstanden, mein Sohn? Nun marsch an deine Aufgaben, und wenn ich dich wieder bei einem Unfug treffe, wirst du mit der Hundeleine wie Schnauzel an dein Arbeitspult gebunden!«

Damit befreite Frau Doktor den abwechselnd wedelnden und blaffenden Dackel von seinem Ehrenplatz. Iwan aber trollte sich erleichterten Herzens, und Frau Mieze machte sich seufzend daran, ihren Nähtisch wieder einzuräumen.

Als der Vater und die Zwillinge mittags heimkamen, ahnten sie nicht, was für ein stürmischer Vormittag dem stürmischen Morgen gefolgt war.

Lilli deckte den Tisch und zeigte sich bei allem so anstellig, daß Mutter ihre Freude daran hatte. Ihrem Liliputchen tat der erweiterte Familienkreis mit seinen größeren Anforderungen an das Haustöchterchen gut. Lilli zeigte von Tag zu Tag mehr, daß sie nicht nur des Vaters phantasievolle Tochter war, sondern daß sie auch die praktische Ader ihrer Mutter geerbt hatte.

Lilli Liliput war eigentlich immer heiter und fröhlich; heute aber strahlte ihr Gesicht besonders. Doktor Petersen hatte sie in der französischen Stunde der Klasse als Muster für Pflichttreue und eifriges Streben hingestellt. Lilli hatte es endlich erreicht! Der Klassenlehrer nannte sie schon lange nicht mehr »abgebrochener Riese«; er hatte Achtung bekommen vor dem tüchtigen Geist, der in dem kleinen Mädel steckte. Lilli war so beseligt, daß sie sich vornahm, zum Dank dafür von heute an für Doktor Petersen zu schwärmen, trotzdem sie ihn eigentlich immer noch nicht recht leiden konnte.

»Muttchen, nächstens soll unser erstes Kränzchen bei Ilse Gerhard sein. Lena darf auch; ihre Mutter will, daß das arme Ding ein bißchen herauskommt,« erzählte Lilli glücklich beim Mittagstisch. »Nicht wahr, ich darf doch, Muttchen? Sonja kann auch dabei sein,« setzte sie noch schnell hinzu, und dabei lachte ihr Schelmengesicht, daß sich die Grübchen vertieften.

Die Mutter nickte bejahend; sie gönnte ihrem fleißigen Kinde gern die Freude. Sonja aber, die Lilli gegenüber wegen des Myrtenstöckchens kein reines Gewissen hatte, sagte noch abweisender als sonst: »Warrum lachen du, daß ich mitkomme? Ich will nicht gehen zu Ilse Gerrharrd, wenn du lachen darrieber.«

Lilli kicherte wie ein Kobold. Sie konnte sich gar nicht beruhigen. Ludwig mußte sie sogar auf den Rücken klopfen, damit sie sich nicht verschluckte.

»Sei nicht böse, Sonja,« stieß sie endlich hervor, »ich lache bloß, weil Ilse so was Drolliges gesagt hat.«

»Was hat Ilse gesaggt?« fragte Sonja neugierig.

»Sie fragte, ob meine russische Sardine auch mitkommt.«

Lilli begann schon wieder zu prusten. Ludwig und Margot stimmten in das Gelächter ein.

»Ist rruussischer Sarrdine iich?« fuhr Sonja ärgerlich in das jugendliche Lachen.

Lilli nickte, sprechen konnte sie nicht.

»Iich niicht werrden gehen zu Leiten, die mir rruussischer Sarrdine genennt haben,« sagte Sonja aufgebracht.

»Sonja hat recht,« mischte sich jetzt der Vater hinein. »Es war kein hübscher Scherz von Ilse; sie hat es sich wohl nicht überlegt, daß sie Sonja damit weh tun könnte.«

Lilli hatte aufgehört zu lachen. Kein Wort hatte Vater von ihrem eigenen Verhalten gesagt, und doch fühlte sie in der Stille, die seinen Worten folgte, deutlich den Vorwurf, den er ihr selbst machte.

Schnell streckte sie der neben ihr sitzenden Sonja die Hand hin.

»Es war häßlich und unbedacht von mir. Ich glaubte, du würdest auch darüber lachen. Sei wieder gut, Sonja,« bat sie in ihrer lieben Art.

Aber Sonja war nachtragend.

»Laß mirr,« sagte sie mürrisch.

Da war es um Lillis heitere Stimmung geschehen. Sie machte sich Vorwürfe, Sonja wegen etwas verlacht zu haben, wofür die doch nichts konnte. Und schließlich war es ja ganz gleich, was für eine Landsmännin sie war, wenn sie nur ein nettes Mädel gewesen wäre.

Nach Tisch, ehe Lilli an ihre Schularbeiten ging, war ihr erster Weg stets zu Goldschopfs Bauer und zu ihren Blumen. Ob die Sonne wohl ein neues Myrtenblättchen hervorgelockt hatte?

Sonja wagte sich nicht in das Mansardenstübchen hinein; sie blieb draußen auf dem Treppenflur. Das Gewissen schlug ihr.

»Nanu?«

Lilli sah sich suchend im Zimmer um. Ihre Augen wanderten von dem Fensterbrett über den Tisch und von dort in alle Ecken des Stübchens. Da lugte etwas Grünes unter braunen Scherben hervor. Mit dem Schrei einer Mutter, deren Kind ein Unglück zugestoßen ist, stürzte Lilli in die Ecke.

»Meine Myrte – mein gutes, kleines Myrtchen,« jammerte sie, die Teile des gebrochenen Stückchens zärtlich zusammenpassend.

Sonja trat ins Zimmer. Bei Lillis Schmerzausbruch hielt sie es draußen nicht länger. Unten noch hatte sie geglaubt, sich an Lillis Ärger zur Strafe für die »russische Sardine« weiden zu können; jetzt hätte sie was darum gegeben, wenn die Myrte unversehrt auf dem Fensterbrett gestanden hätte.

»Du mussen nicht sein traurrik« – sie trat zu dem Ledersofa, auf dessen Lehne Lilli schluchzend den blonden Kopf vergrub – »ich werrde kaufen einer neuer Blume.«

»Ich will keine neue! Mein armes Myrtchen! Nun muß das Blumenelflein sterben, das darin gewohnt hat,« jammerte Lilli.

»Was fürr ein Elfen sterrbt?« fragte Sonja erstaunt.

Lilli Liliput wischte sich die Tränen aus den Braunaugen, hielt die geknickten Myrtenzweiglein liebevoll an ihr Herz gepreßt und begann mit leiser, tränenvoller Stimme zu erzählen. Sonja hockte neben ihr auf Großmamas Märchensofa und lauschte mit großen Augen ihren Worten.

Von dem Blumenelfchen erzählte Lilli, das der liebe Gott, sobald eine Blume den Kopf aus der Erde strecke, zu ihm herabsende. Wie der Schutzengel ein gutes Kind, so umschwebt das Elfchen seine Blume. Es gaukelt lustig im Sonnenschein und freut sich über das Wachstum, das Gedeihen seines Blümchens. Wenn der Abendtau fällt, dann huscht es wieder in sein Blumenhaus, und die Blüte schließt ihre Blätter, daß dem schlummernden Elfchen kein Leid geschieht. Es badet im Morgentau, trocknet sich mit Sonnenstrahlen und nährt sich von süßem Blütenseim. Ist die Pflanze, in der das Elfchen wohnt, abgeblüht, dann fliegt das Blumenelflein zurück zu Gott. Ein Samenkorn jedoch nimmt es mit sich; daraus läßt der liebe Gott im nächsten Jahre eine neue Blüte für das Elfchen erstehen. Wenn aber eine Blume oder ein Bäumchen, bevor es verblüht ist, durch rauhe Hand zerstört wird, dann muß das arme Elfchen sterben.

Lilli schwieg betrübt. Eine Hand strich zärtlich über ihr nasses Gesicht, und Sonja flüsterte, selbst Tränen in den dunklen Augen: »Oh, tut mich serr, serr leid, daß armer Blumenelfen hat gesterrbt!«

Das sonst so unzugängliche, schroffe Mädchen küßte Lilli nach russischer Sitte auf beide Wangen. Da schlang Lilli Liliput beide Arme um den Hals der kleinen Russin.

»Ich will nicht mehr weinen,« flüsterte sie, während ihr, ungeachtet ihrer Worte, immer noch glänzende Tropfen von den Wangen perlten, »denn jetzt weiß ich wenigstens, wie lieb du sein kannst. Siehst du, das hat sicher mein Blumenelflein zuwege gebracht!«


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