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»Sie.«

Der erste Oktober brachte eine Umwälzung in das Haus von Doktor Steffen. Minna, die Lilli und Ludwig in den Armen gewiegt hatte, nahm tränenreichen Abschied. Sie heiratete, und Oberlehrers drei waren zur Hochzeit eingeladen.

Lilli ging die Trennung von der treuen Minna nicht so nahe, wie es ihrem warmen Herzen nach hätte sein müssen. Das kam daher, daß Minna die einzige im Hause war, die sie nach wie vor »Liliputchen« nannte. Vater und Mutter hatten, seitdem das Töchterchen damals gegen ihren Beinamen Einspruch erhob, sich redlich Mühe gegeben, den Wunsch zu erfüllen. Entschlüpfte ihnen wirklich mal die Koseform, so verbesserten sie sich mit ernsthaftem Gesicht. Das war Lilli ja immerhin etwas peinlich, aber doch noch besser als die ständige Erinnerung an ihre Winzigkeit.

Dem Bruder gestattete sie schon eine Ausnahme, aber wie kam Minna dazu, sie »Liliputchen« zu nennen? Die war doch nicht ihr Zwilling!

»Laß man, Liliputchen – laß man,« tröstete Minna immer, so oft Lilli sich darüber beschwerte. »Wenn du erst groß bist, sag' ich auch ›Fräulein Liliputchen‹ zu dir.« Aber Lilli wurde nicht groß, und Minna dachte gar nicht daran, sie »Fräulein« zu nennen.

Das würde sicher nun bei der neuen Anna anders werden! »Sie« mußte sie bestimmt zu ihr sagen; sie kam ja jetzt auch in die zweite Klasse, wo sie mit »Sie« angeredet wurde. Freilich, ob sie »Fräulein« zu ihr sagen würde, erschien zweifelhaft. Lilli wagte nicht, über diese heikle Sache mit Mutti zu verhandeln.

Ludwig, mit dem sie diese sie lebhaft beschäftigende Angelegenheit besprach, stand der Sache vollkommen gleichgültig gegenüber, oder in seiner Sprache ausgedrückt: es war ihm höchst schnuppe. Hier trat eine auffallende Verschiedenheit bei den Zwillingen zutage. Ein Mädel von dreizehn Jahren will schon als junges Fräulein angesehen werden, während dem gleichaltrigen Knaben noch rein gar nichts an der jungen Herrenwürde liegt.

Minna war fort, und Anna hielt ihren Einzug. Am Nachmittag vor ihrem Eintreffen tat Lilli noch alles mögliche, um ihr etwas zurückgebliebenes Wachstum zu befördern. Sie bammelte eine Stunde lang mit bewundernswerter Ausdauer am Reck, bis ihr die Handflächen so weh taten, daß sie kaum ihre schriftlichen Schularbeiten machen konnte. Sie legte das neue, stark auf Zuwachs berechnete Sonntagskleid an, das ihr – o Wonne – fast bis zu den Stiefeln reichte. Aber der Erfolg war niederschmetternd. Die Messung an ihrer Zimmertür ergab, daß sie auch nicht einen Millimeter durch das Am-Reck-Hängen gewachsen war, und das Sonntagskleid wanderte unter lebhaftem Widerspruch von Mutter wieder in den Schrank. Nur die guten Stiefel mit den etwas höheren Absätzen behielt sie an; die waren Mutter zum Glück entgangen. Das war immerhin ein Trost; die Stiefel mußten ihr möglichstes tun.

»Komm nur vor! Ich hab' dich schon gesehen.«

Anna, ein frisches junges Mädel von achtzehn Jahren, rückte mit ihrem Korb ein. Lilli hielt es doch für geratener, nicht gleich zum Vorschein zu kommen. Ja, als Anna unvermutet in das Mansardenstübchen trat, um das Bett herzurichten, da sprang seine junge Bewohnerin mit einem erschreckten Aufschrei – unter Großmamas Ledersofa!

»Komm nur vor; ich habe dich schon gesehen,« rief lachend Anna, die natürlich nicht annehmen konnte, daß ein »Fräulein« unter das Sofa kriechen würde.

Solch eine Dreistigkeit! In Lilli kochte es vor Empörung; finstere Gedanken wälzte sie in ihrem sonst so sonnigen Köpfchen. Sollte sie dem neuen Mädchen mitteilen, daß sie verlangte, »Sie« genannt zu werden, oder aber – Lillis Herz setzte im Gedanken an solch eine Kühnheit aus – sollte sie die Anna, die kaum fünf Jahre älter war als sie selbst, auch mit »Du« anreden?

Beim Abendessen mußte sie ihre Unsichtbarkeit aufgeben und im Familienzimmer erscheinen.

»Wie sagt sie zu dir?« konnte sie sich nicht enthalten, Ludwig flink zuzuflüstern.

Der zuckte die Achseln. Er hatte nicht mal darauf geachtet.

»Und das ist hier unsere Lilli, unsere Große. Wo hast du bloß gesteckt, Kind?« stellte Mutter sie dem Mädchen vor.

Das lachte über das ganze rote Gesicht. Sie glaubte, die Dame mache einen Scherz, daß sie das kleine zierliche Ding als »Große« bezeichnete. Und wo sie gesteckt hatte? Oh, das wußte Anna genau.

Sie nickte der kleinen Lilli vertraulich zu und sagte treuherzig: »Wir werden schon gut freund miteinander werden.«

Aber Lilli hegte vorläufig noch durchaus keine freundschaftlichen Gefühle gegen sie, wenn auch der Mutter Wort »unsere Große« Balsam für ihr wundes Herz gewesen war.

»Wann soll ich den jungen Herrn morgen wecken?« erkundigte sich die Neue, nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte.

Die Eltern machten belustigte Gesichter. Ludwig wurde krebsrot und verbarg sein Gesicht in einem Buch. Lilli aber hielt den Atem an. Nun würde sie gleich kommen, die beseligende Frage, wann »das junge Fräulein« zu wecken sei.

»Und die beiden Kinder?« fuhr Anna fort.

»Wie – wa–as?«

Lilli blieb der Mund vor Entsetzen offen. Auf eine Stufe mit Klein-Margot wagte diese Anna sie zu stellen? So klein war sie –? Tränen schossen ihr in die Braunaugen.

»Du brauchst mich überhaupt nicht zu wecken, Anna! Das ist wahrhaftig nicht nötig. Wenn man fast vierzehn Jahre alt ist, wacht man schon von allein auf!«

Da hatte sie in ihrer Empörung doch tatsächlich die kaum faßbare Unverfrorenheit begangen, Anna ebenfalls mit »Du« anzureden. Das Mädchen ging aus dem Zimmer, einen erstaunten Blick auf die kleine Zornige werfend, die sie duzte. Das Lächeln der Eltern aber schwand. Der Vater runzelte sogar die Stirn, und Ludwig sah die sonst so bescheidene Lilli, sprachlos über ihre Ungeschicklichkeit, an.

»Du hast dich höchst ungehörig benommen, Kind,« tadelte der Vater sehr unwillig. »Wie kannst du es wagen, einen erwachsenen fremden Menschen mit Du anzureden? Du hast dadurch nur deutlich gezeigt, daß du noch ein ganz unreifes Mädel bist, zu dem man nicht Sie sagen kann.«

»Oh, bitte sehr, in der Schule werde ich auch jetzt ›Sie‹ genannt,« rief Lilli, weinend über Vaters Verweis und über die ihr angetane Schmach.

»Dann habt ihr auch die Verpflichtung euch danach zu benehmen.«

»Weine nicht, Liliputchen,« tröstete Ludwig seinen Abgott Lilli, als sie miteinander die Treppen hinaufstiegen. »Ich sage der Anna, sie soll zu mir auch Du sagen.«

Das war nur ein geringer Trost einem solchen Schmerz gegenüber. Aber Lilli kam plötzlich auf einen feinen Gedanken, größer zu werden. Sie legte ihre Beine wie zwei Hunde an die Leine, das heißt, sie band sie mit den Strumpfbändern an das weiße Drahtgitter der Bettrückwand fest. Nun mußte sie ausgestreckt liegen bleiben und konnte sich nicht im Schlaf wie ein Igel zusammenrollen.

Wirklich, sie mußte über Nacht mächtig gewachsen sein, denn als sie mittags aus der Schule kam, bat Anna, der gegenüber sie ein recht schlechtes Gewissen hatte, laut und deutlich: »Ach, wollen Fräulein Lilli mir vielleicht sagen, wie ich die Mundtücher verteilen soll?«

Lilli blickte Anna etwas ungewiß an. Machte die sich etwa über sie lustig?

Aber das Mädchen sah ganz ernsthaft drein; es war ihm wohl inzwischen zum Bewußtsein gekommen, daß Lilli bald vierzehn Jahre alt wurde und Sie genannt zu werden wünschte. Das war mehr, als Lilli in ihren kühnsten Träumen erhofft hatte.

Zwei ganze Tage blieb es ihr vergönnt, sich an Annas Ehrerbietung zu erheben. Da erst hörte Mutti, daß ihr Liliputchen »Fräulein« angeredet wurde. Sie erhob Einspruch.

»Nein, Anna! ›Sie‹ mögen Sie meinetwegen zu Lilli und Lulu sagen, obwohl ich auch das noch reichlich früh finde. Aber mit Fräulein und Junger Herr wollen wir noch ein paar Jahre warten.«

Lillis zärtliche Tochtergefühle kamen durch diese Bestimmung stark ins Wanken. Aber Mutter tat, als sehe sie gar nicht, daß ihr Töchterchen mit ihr schmollte. Da hielt auch Lilli es für das beste, das unbequeme Gekränktsein aufzugeben. Schließlich war es doch nett von Mutti, daß sie ihr wenigstens das Sie gelassen hatte.

»Wirst du zu Hause schon Fräulein genannt, Ilse?« erkundigte sich Lilli angelegentlich, sobald sie die Freundin nach diesen Begebenheiten wiedersah.

»Ach wo« – Ilse lachte – »die Miß und meine alte Alwine werden doch nicht Fräulein zu mir sagen! Die übrigen nennen mich ›Kleines Fräulein‹. Ich bin doch auch noch ein halbes Kind.«

»Das bist du durchaus nicht mehr,« belehrte sie Lilli mit größtem Eifer. »Wir sind zwar noch keine ganz richtigen Backfische, aber Schmaltierchen sind wir auf alle Fälle.«

»Was sind wir?« Ilse unterhielt sich köstlich.

»Schmaltierchen – jawohl! Mein Onkel Martin nennt mich immer so. Es klingt zwar nicht so erwachsen wie Backfisch, aber es ist doch auch jedenfalls nicht mehr ›Kind‹.«

»Lilli, du bist ja nicht recht gescheit!« Ilse schüttelte lachend den Kopf.

»Ja, du hast gut reden! Du bist groß, aber ich – wenn ich mir auch nur das geringste von meiner fast vierzehnjährigen Würde rauben lasse, gleich sinke ich auf die Stufe eines Jörs herab.«

Nun kam sie, Lillis Beichte, das einzige, was ihrem Freundschaftsbund noch gefehlt hatte! Von dem großen Schmerz ihres Lebens berichtete Lilli, gar so klein geraten zu sein. Selbst den Namen »Liliputchen«, den verhaßten, verschwieg sie der Freundin nicht.

Ilse sah mit ungläubigen Augen auf die Erregte. Sie war ganz bestürzt von der Mitteilung.

»Ich finde den Namen Liliputchen einfach süß,« entgegnete sie schließlich, als Lilli schwieg.

»Wenn du mich lieb hast, nennst du mich nie so! Ilse, versprich es mir!«

Feierlich gab die Freundin ihr Wort.

»Ich würde gern noch viel kleiner sein als du,« sagte sie dann, immer noch nachdenklich, »wenn nur dadurch meine Mama gesund würde.«

Diese schlichten Worte machten tiefen Eindruck auf die empfängliche Lilli. Die längste Rede hätte ihr nicht so deutlich zeigen können, wie kindisch und undankbar ihr Schmerz war. Nein, sie wollte sich wirklich nicht mehr über solch äußerliche Dinge grämen.

Das hinderte Lilli aber nicht, am nächsten Sonnabend mit strahlendem Gesicht das Oktoberzeugnis in Empfang zu nehmen, das sie in die zweite Klasse, in die Oberstufe, versetzte. Es war nicht nur der Stolz, trotz der letzten ungenügenden Rechenarbeit ihren ersten Platz gegen Lena Ritter behauptet zu haben, sondern vor allem, daß man es schwarz auf weiß hatte: Von heute an bist du für alle Lehrer »Sie«.

Freilich, daß Fräulein Neubrink ihr die bewußte Rechenarbeit auf das Zeugnis geschrieben hatte, beeinträchtigte die Freude. Eine Auszeichnung bekam Lilli diesmal nicht. Lena, die Zweite, erhielt sie, weil Lilli erst im vorigen Jahr ausgezeichnet worden war. Lenas Glückseligkeit über die schöne Gedichtsammlung und ihre Bitte, ihr wegen der Bevorzugung nicht böse zu sein, war so rührend, daß es Lilli leid tat, sie als Freundin an zweite Stelle gesetzt zu haben. Ernstlich erwog sie, ob man nicht zwei beste Freundinnen haben könnte.

Am Zeugnistage ging es von der Schule stets zu Großmama.

»Na, Schmaltierchen, wieviel Tadel stehen denn auf dem Zeugnis?« scherzte Onkel Martin, der mit Großmama zusammenwohnte.

»Onkel Martin, ich bin jetzt Schülerin der zweiten Klasse. Von heute an wird Sie zu mir gesagt; da bin ich ganz sicher kein Schmaltierchen mehr.«

»Ich weiß im Augenblick wirklich nicht, ob Schmaltierchen im allgemeinen mit Sie angeredet werden, so weit reichen meine zoologischen Kenntnisse nicht. Aber, bitte, zeigen Sie mir doch mal Ihr Zeugnis!«

»Pfui, Onkel Martin!« Lilli stand mit dem Bruder ihres Vaters stets auf dem Neckfuß.

»Sie haben mir doch in diesem Augenblick mitgeteilt, daß man von heute an Sie zu sagen hat. Was ist Ihnen denn nun wieder nicht recht daran?« neckte der Onkel.

Da trat zum Glück Großmama ins Zimmer.

»Na, mein Liliputchen, wie ist das Zeugnis ausgefallen?«

Großmama holte die Brille hervor und begann zu studieren. Großmama durfte auch »Liliputchen« sagen; dagegen hatte Lilli nichts. Einer alten Dame konnte man unmöglich Vorschriften machen.

»Ich hab's von meinem Liliputchen auch nicht anders erwartet.« Großmama nickte, nachdem sie gelesen hatte, befriedigt mit dem Kopf und reichte das Zeugnis Onkel Martin.

»Jammervoll – ganz jammervoll, lauter Ungenügend« – er überflog all die Sehr gut – »ja, schämen Sie sich denn gar nicht, Schmaltierchen?«

Onkel Martin blieb heute bei seinem »Sie«. Da hieß es gute Miene zum bösen Spiele machen, denn wenn Lilli zeigte, daß sie sich ärgerte, hörte er niemals damit auf.

»Sie?« Großmama verstand den Scherz nicht.

Lilli barg den Blondkopf an Großmamas Schulter.

»Ach, Großmuttchen, Onkel Martin foppt mich so, weil ich jetzt in der Schule Sie genannt werde.«

»Das darf er nicht, mein Herzenskind,« tröstete Großmama zärtlich. »Aber nun sage mal, hast du vielleicht einen Wunsch, den ich dir zur Belohnung für das gute Zeugnis erfüllen könnte?«

Lilli wurde rot. Sie hatte eigentlich schon auf dem ganzen Wege über diesen Wunsch nachgedacht. Großmama pflegte den Kindern, solange sie denken konnten, eine Freude zu machen, wenn die Zeugnisse gut ausgefallen waren.

»Ich wünsche mir dreiundsechzig Pfennig,« sagte sie schließlich nach eifriger Überlegung und sah Großmama schüchtern an, ob es auch nicht zu unbescheiden war.

»Der Tausend« – die alte Dame lachte – »du willst dir wohl ein Rittergut dafür kaufen, Kind?«

»Wie wollen Sie denn das Kapital anlegen, Schmaltierchen? In Zuckerplätzchen oder in Kuchenkrümel?« Onkel Martin packte die kleine Nichte bei den blonden Zöpfen.

»Mir fehlen an meinem Spargeld für Mutters Geburtstag gerade noch dreiundsechzig Pfennig zu drei Mark,« erklärte sie, seine Frage überhörend.

»Da muß ich wohl Abhilfe schaffen,« entgegnete Großmama lächelnd, und ehe Lilli wußte, wie ihr geschah, wurde ihr ein blankes Dreimarkstück in die Hand gedrückt! Ein funkelnagelneues aus demselben Jahr, das eigentlich viel zu schade zum Ausgeben war!

Großartig! Nun konnte sie auch an ein hübsches Freundschaftszeichen für Ilse denken. Der zerrissene Glücksklee lag ihr immer noch schwer auf der Seele, trotzdem sie beide den Austausch bis auf Weihnachten verschoben hatten.

Großmama wurde vor Jubel halbtot gedrückt und geküßt.

»So, nun komme ich dran,« sagte Onkel Martin, sich den Schnurrbart streichend. »Klettern Sie auf den Stuhl, Schmaltierchen, damit Sie besser herankommen.«

»Jawohl, du bekommst keinen Kuß! Du hast mir ja nichts geschenkt,« ging Lilli auf den Scherz ein.

»Abwarten! Das kommt erst!«

Onkel Martin machte ein geheimnisvolles Gesicht. Aber soviel sein Nichtchen auch bat und in ihn drang, es erfuhr vorläufig nichts. Gewiß war das auch bloß wieder eine von Onkels Hänseleien.

Es klingelte.

Vater und Ludwig traten ein, letzterer natürlich wieder als Primus. Versetzung hatte er diesmal nicht gehabt, aber sein Zeugnis war musterhaft.

»Ich weiß nicht, wie ich als Onkel zu zwei solchen Tugendspiegeln komme,« rief Onkel Martin und schüttelte betrübt den Kopf.

»Ich auch nicht, Martin,« versetzte lachend sein älterer Bruder Ernst, denn Onkel Martin hatte sich niemals in der Schule allzusehr angestrengt.

»Du, Lilli, der Weber ist auf die dritte Bank gekommen; er ist mir so dankbar,« flüsterte Ludwig der Schwester zu, stolz auf seine Erfolge als Mathematiklehrer.

Vater studierte inzwischen Lillis Zeugnis.

»Rechnen gut, doch war die letzte Arbeit verfehlt. Nanu, du kannst doch sonst ganz flott rechnen, Mädel; wie kam denn das?«

Eine peinliche Frage, besonders wenn ein Onkel dabei ist, der einem mit dem linken Auge so lustig zuzwinkerte.

»Ich habe statt zu multiplizieren dividiert,« bequemte sie sich endlich zu gestehen.

»Also die Gedanken nicht beisammen gehabt! Wohin flogen die denn wieder mal?«

Aber Lilli hätte sich eher die Zunge abgebissen, ehe sie vor Onkel Martin eingestanden hätte, daß Ilses erster Besuch an der Zerstreutheit schuld gewesen war.

»Schmaltierchen, geben Sie das Dreimarkstück wieder her; Sie verdienen es nicht. Aber nicht etwa vorher dividieren!« Damit hatte sich der Onkel schon des neuen Neckstoffs bemächtigt.

»Du brauchst kein Gesicht wie drei Tage Regenwetter zu machen, Kind; sonst ist das Zeugnis ja gut,« tröstete Vater und hob den gesenkten Kopf Lillis empor.

»Wenigstens so einigermaßen,« konnte sich Onkel Martin nicht enthalten einzuwerfen.

Da siegte auch bei Lilli die gute Laune wieder. Sie lachte mit den anderen um die Wette und ließ sich Großmamas kleine Mandelkuchen schmecken, die immer für die Naschmäulchen bereit standen.

Dann gab es einen zärtlichen Abschied von Großmama und einen übermütigen von Onkel, der sich in Höflichkeiten seinem Fräulein Nichte gegenüber erschöpfte. Danach ging es aus dem lärmenden Berlin wieder in den stillen Vorort hinaus, Ludwig natürlich ebenfalls mit einem Dreimarkstück in der Hosentasche. – –

Nichts vergeht schneller als zehn Ferientage. Wenn man sie vor sich hat, glaubt man in ein unbegrenztes Land von Freiheit und Ungebundenheit hineinzuwandern. Aber wie schnell ist dieses Endchen Glückseligkeit durchmessen!

Als der letzte der Ferientage herangekommen war, wußten unsere Zwillinge nicht, wo sie eigentlich geblieben waren. Vater hatte bei dem herrlichen Oktoberwetter mit seinen Großen weite Wanderungen in die Herbstwälder hinein unternommen. Mutter aber hatte ihre Lilli daneben tüchtig im Haushalt herangenommen. Sie mußte morgens ihr Zimmer selbst aufräumen und auch in der Küche zur Hand gehen; ja, sie durfte sogar ganz allein Eierkuchen backen.

Daß diese etwas negerartig wurden, lag weniger an Lillis Ungewandtheit, als an dem Feuer, das gar so lustig knackte und prasselte. Was erzählten die bläulichroten Flammen der jungen Köchin alles, während sie sinnend in ihre Pfanne starrte! Ein ganzes Märchen. Kleine Kobolde waren die Flämmchen, mit blauen Röckchen und roten Zipfelmützen, die da eifrig im Herde durcheinandersprangen, um den Menschen zu dienen; und wenn sie die Eierkuchen zu schwarz werden ließen, so war das einer ihrer Koboldstreiche. Ihre Schuld war es, und nicht die von Lilli, wenn Anna auch zehnmal behauptete, sie hätte die Pfanne früher zurückziehen müssen. Ja, Anna hatte gut reden; der erzählte das Feuer keine Märchen.

Auch Klein-Margot machte ihre Ansprüche an Lillis und Ludwigs Ferienzeit geltend. In frohem Spiel tobten alle drei durch Haus und Garten. Lilli kam nicht einmal dazu, Ilses Besuch zu erwidern.

Als das Töchterchen die Erlaubnis dazu erbat, sagte Mutter: »Weißt du, mein Mädel, es wäre mir lieber, wenn du dich erst noch mal von Miß White auffordern ließest. Vielleicht wünscht Ilses Papa den Verkehr nicht.«

»Dann hätte sie mich doch nicht besucht,« entgegnete Lilli, durchaus nicht einverstanden.

Aber bei verschiedenen Meinungen zwischen Mutter und Tochter pflegte leider die letztere niemals den Ausschlag zu geben. So mußte sich das Töchterchen auch diesmal fügen.

Der erste Schultag in der neuen Klasse graute. Lilli war an diesem Morgen schon lange vor sechs Uhr auf. Sie sah ihn heranbrechen, den wichtigen Tag, der für sie einen Abschnitt in ihrem dreizehnjährigen Leben bedeutete. Ob die Lehrer überhaupt noch unzufrieden sein konnten, wenn »Sie« gesagt wurde?

Der graue Tag brachte Lilli drei graue Enttäuschungen.

Die erste war, daß Ilse bei dem regnerischen Wetter vom Bahnhof Wannsee aus fuhr. Trotzdem sie aus dem Fenster schaute und der Freundin einen Gruß zuwinkte, war das nur ein geringer Ersatz für die gemeinsame Fahrt.

Die zweite Enttäuschung ging noch tiefer: Lilli war nicht die Erste der zweiten Klasse. Vier waren sitzen geblieben, und diese »Alten«, wie man sie nannte, nahmen mit selbstverständlichem Recht die vier ersten Plätze in Anspruch. Lilli hätte weinen können vor Ärger. Seit Jahren saß sie schon als Erste, und nun mußte sie den vier Faulpelzen weichen!

Der neue Klassenraum war trotz der Oberstufe auch nicht anders als der vorige. Überhaupt – Lilli behagte es nicht in der zweiten Klasse. Sie kam sich neben den vier langen Sitzengebliebenen noch winziger vor denn sonst, und die Würde als Klassenerste, die sie früher um einige Zoll erhoben hatte, fehlte.

Doktor Petersen, der neue Klassenlehrer, bei dem sie noch nie Unterricht gehabt hatten, nahm die Liste der Schülerinnen auf und diktierte den Stundenplan. Er redete die Klasse mit »Ihr« an, was Lilli als eine Beeinträchtigung ihrer Rechte empfand.

Der kurzsichtige Herr mit der gewaltigen Glatze und der hüstelnden Stimme sagte ihr nicht halb so zu wie Doktor Schuster in der III&nbsp;M. Er behandelte sie alle so fremd, so unpersönlich. Als er Lilli aufrief, nannte er sie nicht Lilli Steffen, oder wie die meisten Lehrer der Unter- und Mittelstufe »Lilli Liliput«; nein, er sagte »Steffen«. Erst Lenas wohlmeinendem Puff war es zu danken, daß Lilli auf den ihr ungewohnten Namen sich von ihrem Sitz erhob.

»Steffen, stehen Sie auf, wenn ich mit Ihnen spreche!«

Doktor Petersen räusperte sich unzufrieden und sah durch die Brillengläser auf die kleine Lilli.

»Ich stehe ja,« klang es weinerlich von ihrem Platz.

Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus. Auch Doktor Petersen lachte hüstelnd mit und gebot dann plötzlich, auf den Tisch klopfend, Ruhe.

»Also ein abgebrochener Riese?«

»Sie heißt ja auch Liliput,« rief ein vorlautes Ding dazwischen.

Da war er wieder, der gräßliche Name, der sie durch die ganze Schule verfolgte, und dem sie in der zweiten Klasse endlich entgangen zu sein glaubte! Lilli hätte das Mädel verprügeln können.

»Ruhe,« rief Doktor Petersen noch einmal.

Für ihn war die Sache erledigt; für das arme kleine Liliputchen aber durchaus nicht. Das saß in der zweiten Klasse, in die es so stolz seinen Einzug gehalten hatte, und kämpfte seine dritte, größte Enttäuschung nieder. Glänzende Tropfen rollten ihm über die Wangen, und trotz aller Bemühungen, sie zurückzudrängen, kamen sie immer wieder, die kindischen Tränen.

Das also war das erste Mal, daß man in der Schule zu ihr »Sie« gesagt hatte! Darauf hatte sie sich so gefreut! Ausgelacht war sie worden wegen ihrer kleinen Gestalt, und »abgebrochener Riese« hatte sie der Lehrer genannt. Wie lieb und wohlwollend hatte dagegen Doktor Schusters »Liliputchen« geklungen! Ach, wie gern hätte sie wieder zu sich »Du« sagen lassen, wäre damit jener schmerzliche Augenblick zu tilgen gewesen!

Ja, Lilli, das wird dir noch öfters in deinem Leben so gehen, daß du die Vergangenheit, die du nicht schnell genug entschwinden sahst, dir zurückwünschst.

Eine warme kleine Hand umfaßte die kalten Hände Lillis. Sanft streichelten die Finger der guten Lena über die fest zusammengepreßten Fäuste der Weinenden, und in dieser stummen Liebkosung lag eine solche Beruhigung, daß Lillis Tränen zu fließen aufhörten.

»Laß nur, Lilli,« flüsterte die Stimme der Nachbarin tröstend, »Doktor Petersen wird schon sehen, daß du mehr weißt als wir anderen alle.«

Wie gut tut solch ein treues Wort oft einem gekränkten Herzen! Lillis niedergetretenes Selbstbewußtsein rankte sich daran wieder empor. Ja, sie wollte Doktor Petersen beweisen, daß sie, trotzdem sie klein war, etwas zu leisten vermochte.

Wie sagte Ludwig stets von ihr? »Klein, aber oho!«


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