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Große Ferien

Die großen Sommerferien hatten das Band der Kränzchenschwestern auseinandergesprengt. Prinzeßchen reiste mit den Eltern ins Bad und schrieb glückliche Briefe über die nun völlige Genesung der Mutter. Heimchen, das blasse Ding, war mit der Ferienkolonie nach einem Mecklenburger Seebad geschickt worden, um sich rote Wangen zu holen. Trotzdem sie sich dort in dem Kreis fröhlicher Altersgenossen sehr wohl fühlte, wanderten ihre Gedanken nur allzuoft zurück zu der kleinen Dachwohnung in dem heißen Berlin. Es tat der guten Lena weh, daß sie es besser hatte als Mutter und Geschwister. Wie gern hätte sie diese auch an der Erholung teilnehmen lassen!

In dem weißen Lehrerhäuschen draußen in Schlachtensee, wo die schönsten dunkelroten Rosen im Vorgarten blühten und glühten, hatten die Juliferien auch eine Änderung herbeigeführt. Die russischen Kinder waren für fünf Wochen davongeflogen. In Zoppot trafen sie mit der Mutter zusammen, die dort in Gemeinschaft mit Sonja und Iwan ihre Erholungszeit verbringen wollte.

Auch Lilli, die Sonja eine so gute Freundin geworden war, hatte von Frau Pietrowicz eine liebenswürdige Einladung nach Zoppot erhalten. Das gab einen schweren Kampf für Lilli Liliput. Sonjas Jubel über die Reisegefährtin und den eigenen jungen Wünschen, die ungestüm zu dem fernen unbekannten Meeresstrand drängten, stand gegenüber, daß Muttchen durch den großen Pflichtenkreis angestrengt und abgespannt war. Großmama wollte sie mit auf die Reise nehmen; halb und halb hatte Frau Doktor Steffen schon ihre Zusage gegeben. Nur fürchtete sie, daheim nicht entbehrlich zu sein. Lilli hatte bereits ihre ganze Überredungskunst aufgeboten, um Muttchen davon zu überzeugen, wie glänzend sie von ihrer Tochter vertreten sein würde. Nun sollte sie plötzlich auf und davon gehen? Dem eigenen Vergnügen nach, während ihr Muttchen einer Erholung viel notwendiger bedurfte?!

Nein! Nur sekundenlang zauderte Lilli; dann war der Kampf entschieden.

Mitten in Sonjas verlockende Pläne: »Du mussen kaufen rrotes Badehos! Ich haben blaues, und zweiterr Klaß sollen wirr kommen gefahrren in Eisenbahn, schrreibt die Mamma« – mitten hinein in das Ausmalen der herrlichen Zukunftsbilder klangen Lilli Liliputs tapfere Worte des Verzichtens.

»Ich danke deiner Mama vielmals, Sonja! Ich werde ihr selbst noch schreiben – aber ich weiß, daß Muttchen dann ihre Reise, die ihr so not tut, aufgeben würde. Ich muß hier die Hausfrau spielen.«

Damit hob sich Lilli Liliput, trotzdem sie inzwischen ein gut Teil in der Turnstunde gewachsen war, auf die Zehenspitzen, um ihrer Person die zu diesem Amt nötige Würde zu verleihen. Durch ihre Worte, die zuerst leise und ziemlich niedergeschlagen gewesen waren, klang zum Schluß doch schon wieder geheimer Stolz.

Sonja küßte Lilli stumm auf die Wange; sie versuchte keine Überredung. Das russische Mädchen sah, trotzdem es einen Kopf größer war, heute zu der kleinen Lilli empor. Wie klaglos sie die eigenen Wünsche der Mutter zum Opfer brachte! Das hatte Sonja noch nie getan. An diesem Tag fiel wieder ein edles Samenkorn in das jetzt gelockerte Erdreich von Sonjas Seele, das zu seiner Zeit aufgehen und Frucht tragen sollte.

Drunten im Familienzimmer gab es noch einmal einen Kampf – diesmal einen selbstlosen Wettkampf. Eine Mutter ist ja daran gewöhnt, ihre Person in den Hintergrund zu stellen und zuerst an ihre Kinder zu denken. Frau Mieze wollte das Opfer ihres Liliputchens durchaus nicht annehmen. Dieses aber hatte einen starken Bundesgenossen: den Vater. Der fand Lillis angeführte Gründe, daß sie doch nächsten Februar schon fünfzehn würde und daher wohl in Gemeinschaft mit Ludwig den Haushalt leiten könnte, durchaus stichhaltig. Der war ihrer Meinung, daß sie sich hier im Grunewald in den Ferien genau so gut erholen könnte wie in Zoppot. Muttchen mußte sich als besiegt erklären.

So leerte sich das weiße Lehrerhäuschen in der Kirschallee. Lilli tat das Herz nicht einmal mehr weh, als sie Sonja und Iwan, die jungen Reisenden, davonfahren sah. Der glückselige Stolz über die bevorstehende selbständige Leitung des Hauswesens hatte längst die Oberhand gewonnen.

Als nun auch Muttchen endlich, einen Berg Ermahnungen und Ratschläge für das unerfahrene Töchterchen zurücklassend, sich mit Großmama auf die Reise begab, da vollführte Lilli Liliput, das frischgebackene Hausmütterchen, ihre erste Tat in dem neuen Wirkungskreis. Sie lief an den Spiegel, um zu sehen, wie sie jetzt in ihrer neuen Würde wohl ausschaute!

Onkel Martins Neckereien, daß er öfters in Schlachtensee nachforschen wollte, ob Fräulein Backfisch sich dort nicht zu viele Dummheiten leistete, waren wirklich unberechtigt. Die Wirtschaft ging tadellos vor sich. Lilli gab sich unbeschreibliche Mühe beim Aufteilen der Speisen, denn das andere besorgte ja eigentlich die Anna, wenn das Backfischchen ganz ehrlich sein wollte.

Nein, doch nicht! Anna sorgte nur für die Befriedigung des Magens. Aber es den Familienmitgliedern daheim traulich zu machen, das war Lillis Amt: den Vater mit ihrem Geplauder zu erfrischen und heiter zu stimmen, für Bruder Ludwig immer bereit zu sein und Klein-Margot mit mütterlicher Liebe zu hegen und zu beschäftigen.

In die Gartenpflege teilten sich sämtliche Familienmitglieder. Das Sprengen mit dem langen Gummischlauch, die Lieblingsbeschäftigung der Kinder, wurde laut schriftlichem Vertrag abwechselnd von Ludwig und Lilli besorgt. Auch Schnauzel war dabei beteiligt, allerdings durchaus gegen seinen Willen: als triefendes, heulendes und davonrasendes Etwas.

Sonja schrieb öfters an Lilli. Nie hätte diese gedacht, daß der einstige »Knurr-Murr« einen so vergnügten und herzlichen Ton in den Briefen anschlagen könne. Auch Frau Pietrowicz schien aufs freudigste überrascht zu sein von der vorteilhaften Veränderung, die in Deutschland mit ihrer Tochter vor sich gegangen war.

Iwan, der Faulpelz, blieb seinen Grundsätzen auch in Zoppot getreu: er sandte keine Zeile. Trotzdem brachte er sich bei Doktor Steffen lebhaft in Erinnerung, allerdings nicht gerade in angenehme.

Das war, als die Spalierbirnen abgenommen wurden, eine Arbeit, die der Oberlehrer niemand anderem überließ. Hatte er doch seine Edelfrüchte mit derselben Herzensfreude heranreifen sehen, mit der er das Gedeihen einer jungen Menschenseele beobachtete.

Goldgelb hingen die prächtigen Früchte an den Ästen. Behutsam löste der Oberlehrer sie aus dem grünen Blattwerk. Voll Genugtuung drehte er die erste köstliche Frucht nach allen Seiten und – – –

»Zum Kuckuck noch eins – wer ist das nur gewesen?!« entrang es sich ihm voll Zorn.

Lilli, die mit dem Schwesterchen Unkraut ausjätete und Ludwig, der eben den Komposthaufen umgrub, eilten auf Vaters ärgerlichen Ton erschreckt herbei. Stumm hielt dieser ihnen eine herrliche Birne entgegen. Sie zeigte auf der Rückseite den Biß kräftiger Zähne und war angefault.

»Das war sicher – – –« entfuhr es Ludwig; dann aber brach er jäh ab. Beinahe hätte er in seiner Empörung geklatscht – pfui!

Vater wußte selber ganz genau, wer der Urheber war, denn er sagte: »Meine Kinder haben mich viel zu lieb, um mir solchen Schmerz zu bereiten!«

Die zweite und dritte Birne wurde gepflückt: eine wie die andere auf der Rückseite angebissen! Es war geradezu ein Jammer. Sämtliche Edelbirnen hatte Iwan, der gefräßige Unband, mit dem Abdruck seiner Zähne versehen. Alles verdorben und angefault!

Lilli und Ludwig eilten erschreckt herbei.

Lilli weinte vor Ärger; Vater aber reckte verheißungsvoll die Rechte: »Der Schlingel soll mir nur zurückkommen!«

Doch bis Iwan Pietrowicz sonnengebräunt und frohgemut wieder in Schlachtensee einrückte, war Doktor Steffens Zorn verraucht. Der kleine Tunichtgut kam mit einem kräftigen Ohrenzieher davon.

Wie einem Kinde, das Sand durch die Finger rieseln läßt und schließlich erstaunt auf seine leeren Hände blickt und nicht weiß, wo der Sand denn eigentlich geblieben ist, so waren Lilli die Ferientage dahingerieselt. Ein Sandkorn nach dem anderen aus der großen Ewigkeit! Erstaunt stand sie plötzlich da: die großen Ferien waren zu Ende!

Voll Freude ließ sich die mit frischen Kräften heimkehrende Mutter vom Vater berichten, wie umsichtig und tüchtig sich ihr Liliputchen angestellt hatte – wie eifrig es bemüht gewesen war, seine Gedanken nicht von der Arbeit abschweifen zu lassen, und wie Lillis Lachen nie heller geklungen hatte, als wenn es am meisten zu tun gab.

Frau Miezes Sorge wegen Lillis früherem oft träumerischem Wesen war nun gehoben. Sie wußte jetzt: wenn der Ernst und die Pflicht an das junge Mädchen herantraten, würde man es stets zuverlässig auf seinem Posten finden.

Nie hätte Lilli es gedacht, daß sie der Rückkunft ihrer Zimmergenossin mit solcher Freude und Ungeduld entgegensehen würde. Ordentlich hübsch war die Sonja an der See geworden. Das Gesicht war leicht gebräunt, und in den dunklen Augen stand ein glückliches Leuchten.

Was wurde an den linden Spätsommerabenden alles in dem Mansardenstübchen erzählt und geflüstert! Da erfuhr Lilli beim schimmernden Sternenlicht, woher das frohe Leuchten in den Augen der jungen Russin stammte. Daß sie mehr, viel mehr als nur die Erholung des Körpers in dem Seebad gefunden hatte: die innere Zusammengehörigkeit mit ihrer Mutter! Das einst so wenig zugängliche Mädchen verstand nun, daß es selbst mit seinem abstoßenden Wesen die Schuld daran getragen hatte, daß sich ihm die Mutterliebe jetzt erst offenbarte ...

Die Rosenpracht des Sommers war verblüht. Der Garten hatte sein buntes Asternkleid angelegt; der Wald stand in goldgelben Herbsttönen. Lustige Wandervögel zogen wieder durch das jetzt raschelnde Laub. Aber von Vergehen und Absterben wußte die heitere Gesellschaft nichts. Sie schmetterte lenzfreudig ihre Frühlingslieder in die Lüfte, ob ihre kleinen Kollegen im entblätterten Forst auch schon verstummt waren.

Zarte, lichte Sommerfäden schwebten wieder durch die klare Herbstluft. Sie umflatterten Ilses Braunhaar und hingen sich in Lillis Blondscheitel, gerade wie vor einem Jahr.

»Du mußt dir etwas wünschen, Ilse – schnell, schnell – es geht sicher in Erfüllung! Du weißt doch: unsere Freundschaft ist auch durch solch einen Glücksfaden geknüpft worden,« drängte Lilli aufgeregt.

Die schlanke Braunhaarige blickte sinnend in das Purpur der Blutbuche.

»Ich wünsche mir, daß meine Mama diesmal den ganzen Winter bei uns bleiben darf und nicht wieder nach dem Süden muß! Morgen kommt der Herr Professor; da soll es sich entscheiden,« sagte sie ernst.

Aber als die Freundin ihr jetzt voll Gewißheit zuflüsterte: »Meine Glücksfee erfüllt dir sicherlich den Wunsch,« lachte Ilse Gerhard wieder, daß man die Grübchen in ihren Wangen sah.

»Nun, du Märchenkobold, sieh nur, wie der Sommerfaden an deinen langen Wimpern zittert! Schnell – was wünschen!«

»Das ist bereits geschehen,« erwiderte Lilli Liliput, nach dem Glücksfaden blinzelnd und wurde dabei rot.

»Ei, dürfen wir nicht wissen, was dir der Sommerfaden Schönes bringen soll, Lilli?« fragte Fräulein Gretchen belustigt.

Purpurner färbte sich Lilli als die Blutbuche, unter der sie rasteten. Dann aber schmiegte sie in plötzlichem Entschluß den Blondkopf gegen die Schulter der so viele Wochen schmerzlich Entbehrten und flüsterte, nur Fräulein Gretchen verständlich: »Ich habe mir gewünscht, daß Sie mich ebenso lieb haben möchten, wie ich Sie!«

Die so angeschwärmte junge Lehrerin drückte einen Kuß auf Lillis Lippen.

»Du bist wirklich ein sehr liebes Mädel! Dein Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen.«

Verklärt saß Lilli Liliput da; sie hörte kaum, wie die anderen jubelnd riefen: »Lena, der Sommerfaden ist zu dir geflattert. Flink – was wünschst du dir?«

»Ich möchte recht bald auf eigenen Füßen stehen, damit meine Mutter sich nicht mehr so arg plagen muß,« sagte die leise.

Ludwig aber rief dazwischen: »Sonja, an deinem Rattenschwänzchen hängt er jetzt. Sage, was für einen Wunsch soll dir der Sommerfaden erfüllen?«

»Will iich werrden einmal grroßes Violinvirtuose,« rief die junge Russin ohne Besinnen.

Da hatte Bruder Iwan bereits das flatternde Spätsommergespinst aufgefangen.

»Iich mirr winschen alle Schokoladen und Bonbons, die gibt in Rruußland und Deitschland,« überschrie er die Schwester.

Ob sein Wunsch in Erfüllung gehen würde, erschien mehr als fraglich. Dem Dickschädel Iwans vermochte das zarte, schneeige Feenfädchen nicht lange standzuhalten. In nichts war es alsbald zerstoben – und all die jungen Wünsche dazu.


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