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Mama kommt heim!

Nie hatten die schlanken Schwalben so fröhlich um die Ecktürmchen der vornehmen Wannseevilla gezwitschert wie in diesem Jahre.

»Quiwitt – quiwitt –
Wir bringen Glück –
Quiwitt – quiwitt –
Mama kommt zurück.«

Man brauchte gar keine Märchenaugen und -ohren zu haben wie Freundin Lilli, um deutlich aus dem Schwalbensang diesen Vers herauszuhören. Auch Ilse, die sonst durchaus nicht solch poetisches Menschenkind war, vernahm ihn, und ihr Herz jubelte mit den Schwalben im Verein. Nie hatten die Augen der braunhaarigen Ilse so glückstrahlend in die Welt hineingeschaut wie in diesem Lenz.

Mama kommt heim! Endlich! Fast zwei lange Jahre hatte Ilse die Mutter nicht gesehen, da diese auf den Rat berühmter Arzte zur völligen Genesung längere Zeit in dem heißen Klima Ägyptens leben mußte. Ilses Vater war inzwischen einmal in Kairo gewesen, um seine Frau wiederzusehen. Aber das Töchterchen konnte er natürlich auf die weite Reise nicht mitnehmen, wie er das früher öfters nach Baden-Baden, ja sogar bis an den Gardasee getan hatte.

Zwei lange Jahre! Wie hatte sie es bloß all die Zeit über ausgehalten! Aber Ilse zählte jetzt nicht mehr rückwärts, sondern vorwärts. Tage, Stunden, ja Minuten berechnete sie bis zu Mamas Ankunft; sie hatte überhaupt keinen anderen Gedanken mehr. Selbst des Nachts fuhr sie öfters aus dem Schlafe empor, in dem unbewußten Gefühl, daß etwas besonders Schönes bevorstehe. Dann besann sie sich, was das wohl wäre, und mit glücklichem Lächeln schloß sie wieder die Augen.

Auch in der Schule vermochte sich die sonst stets aufmerksame Schülerin nicht von dieser ihr ganzes Wesen beherrschenden Vorfreude freizumachen. Es setzte öfters Rügen wegen Unaufmerksamkeit und Mangel an Teilnahme. Sogar in das französische Extemporale bei der gefürchteten Schulvorsteherin wagten sich nicht hingehörende Gedanken, die mitten in Konjunktiv und Gallizismen ein die Wannseestraße entlang ratterndes Auto malten: in die Polster zurückgelehnt eine zart, blonde Frau – der blaue Reiseschleier flattert um ihren Hut – sie winkt zur Terrasse herauf – und dann – ja dann – – – –

Weiter kam Ilse niemals bei dem Ausmalen des Wiedersehens mit der Mutter. Eine so starke Glückswelle flutete ihr dann stets vom Herzen durch alle Adern, daß jedes weitere Denken davon überspült wurde.

In der französischen Extemporalestunde aber war es etwas ganz anderes, als dieses übergroße Glücksempfinden, was Ilses Gedanken jäh unterbrach – nämlich die entrüstete Stimme der Schulvorsteherin.

»Ilse Gerhard, ich weiß wirklich nicht mehr, was ich von dir denken soll. Du hast jetzt fünf Minuten lang mich angestarrt, als ob ich ein Geist sei, ohne auch nur ein Wort von den letzten Sätzen niederzuschreiben, die ich diktierte. Ja, was soll denn das heißen, Mädchen? Du bist mir sonst immer eine liebe Schülerin gewesen, aber auch die anderen Damen und Herren klagen neuerdings über dein zerfahrenes Wesen. Ist jetzt während des französischen Extemporale Zeit, an Allotria zu denken? Ich will wissen, wo du soeben deine Gedanken hattest.«

»Mama kommt heim!«

Leise rangen sich die drei Worte von den Lippen der Gescholtenen. Tief hatte sie den Kopf gesenkt; da war nichts mehr von der Glückseligkeit, die sie soeben noch durchströmte.

Dennoch mußte wohl in diesen drei schlichten Worten etwas liegen, das die erzürnte Schulvorsteherin entwaffnete. Sie trat auf Ilse zu und hob ihr blutübergossenes Gesicht zu sich empor.

»Ich hörte bereits, daß deine Mutter krankheitshalber von Hause fort war; du hast sie lange nicht gesehen, Kind?«

»Fast zwei Jahre.«

»Nun, Ilse, da freuen wir uns mit dir, daß deine Mutter nach so langer Zeit wieder heimkehrt. Aber das ist nur ein Grund, doppelt aufmerksam in der Schule zu sein und dir besondere Mühe zu geben, um deiner Mutter recht viel Freude zu machen. Denn das willst du doch, nicht wahr?«

»Da freuen wir uns mit dir, daß deine Mutter nach so langer Zeit wieder heimkehrt.«

Ilse nickte dankbar zu den gütigen Worten.

Die Schulvorsteherin wiederholte noch einmal die letzten von Ilse ausgelassenen Sätze.

Grenzenlose Mühe gab sich letztere jetzt die davonflattern wollenden Gedanken fest auf die Arbeit zu richten, und sie hatte die Genugtuung, daß die zweite Hälfte des Extemporales, im Gegensatz zur ersten, fehlerfrei ausfiel.

Daheim aber gab es keinen Zwang; da durfte sie ihrer Vorfreude ungehinderten Lauf lassen. Da küßte die sonst so ruhige Ilse ihre steife, für solch einen Glücksüberschwall ziemlich verständnislose Miß plötzlich auf offener Straße beim Spazierengehen, obgleich dies ganz und gar nicht »ladylike« war. Da wirbelte sie ihre alte Alwine plötzlich im Kreise umher, daß deren weiße, schön gestärkte Haube, die zu Alwine gehörte wie ihr graues Haar, ebenso übermütig auf das Ohr rutschte.

»Unser Kind ist ganz und gar aus dem Häuschen,« schmunzelte Alwine, »ist ja kein Wunder – ist ja kein Wunder, wenn Mamachen endlich wieder heimkommt!«

Aber auch die anderen zum Haushalt Gehörigen mußten sich mit Ilse freuen. Die Hausmädchen beschenkte sie mit Schleifen und Bändern, um frohe Gesichter zu sehen. Friedrich, der Diener, brauchte nicht erst etwas geschenkt zu bekommen. Wenn der beim Auftragen der Speisen in das glückliche Mädchengesicht sah, wurde es ihm hell und freudig zumute. In die Küche lief Ilse, die sich bisher niemals um die von selbst abschnurrende Wirtschaft gekümmert hatte, und erkundigte sich angelegentlich bei der Köchin, ob auch genügend Sorge für die Anschaffung von Hühnern und Tauben getragen sei.

»Denn Mama darf sicherlich nur leichtes, weißes Fleisch essen,« erklärte sie.

»Da kann unser Fräuleinchen völlig beruhigt sein; der Herr Bankdirektor hat schon alles mit mir besprochen,« war die Antwort.

Hinaus zum Gärtner ging es.

»Müller, glauben Sie, daß die Früherdbeeren bis Sonntag schon reif sein werden? Die ersten muß Mama bekommen! Und für die Vasen brauche ich Flieder und Schneebälle! Schade, daß die Rosen noch so zurück sind!« Ilse blickte mißbilligend auf die Edelrosen, die nicht mal den Ehrgeiz hatten, der heimkehrenden Mutter zuliebe vier Wochen früher zu blühen.

Am seligsten aber war Ilse, wenn sie ihrem Papa entgegenspringen, sich an seinen Hals hängen und ihm zuflüstern konnte: »Nur noch einen Tag, vierzehn Stunden, fünfundzwanzig und eine halbe Minute!«

»Herzchen, ich kenne dich ja gar nicht wieder! Ruhig, Ilschen, ruhig! Mama wird noch sehr schonungsbedürftig sein; auch allzu lebhafte Freude kann ihr schaden.«

Der Bankdirektor, der genau so froh wie seine Tochter der Wiedersehenstunde entgegensah, vermochte sich doch nicht uneingeschränkt wie das Kind darauf zu freuen. Die bange Frage: »Wie wird sie heimkehren? Wird sie das nördliche Klima vertragen, ohne daß die Fieberzustände aufs neue eintreten?« mischte sich in das Glücksempfinden des bedachten Mannes.

Die Tage, Stunden, Minuten schmolzen zusammen, und endlich kam der ersehnte Sonntag heran, ein sonniger, lachender Maiensonntag. In aller Frühe war Ilse schon wach. Während die Miß noch sanft schnarchte, kleidete ihr Schützling sich geräuschlos an. Es hielt Ilse nicht im Bett, nicht im Zimmer; sie mußte mit ihrem übergroßen Glück, das ihr die Brust fast zersprengte, hinaus in Gottes weite Natur.

Mäuschenstill war es noch in der Villa; auch die Dienerschaft schien noch nicht aufgestanden zu sein. Draußen aber im Garten, da war schon Leben. Da jauchzte und jubilierte es aus den Goldregen- und Fliederbüschen; da summte und surrte es von kleinem geschäftigem Insektenvolk. Ganz still stand die Ilse zwischen all der jungen Morgenpracht. Ohne daß sie es wußte, fügten sich ihre Hände ineinander, und die Augen suchten den weiten blauen Himmelsdom. »Lieber Gott, ich danke dir für diesen Tag!« So rang es sich innig aus selig pochendem jungen Herzen.

Aber heute war keine Zeit zum Sinnen und Säumen. Geschäftig griff Ilse nach der großen Gartenschere. Die schönsten tauschweren Blüten schnitt sie. Nein, das überließ sie nicht dem Gärtner! Weißen Flieder für die tiefblaue Vase, rotvioletten für die graue Urne – die Schalen alle mit Veilchen, Maiglöckchen, Vergißmeinnicht und Goldlack gefüllt. Es konnte der Ilse gar nicht schön genug zum Empfang der Mutter werden. Mit heißen Wangen und leuchtenden Augen, über und über mit Blumen beladen, trat sie auf die Veranda zum Morgenfrühstück, wo Papa sie erwartete.

»Ei, Ilschen, du hast ja nicht schlecht geplündert! Recht so, Kind! Heute muß Haus und Garten sein Bestes hergeben.«

Eine Enttäuschung hatte Ilse allerdings niederzuringen: Papa wollte sie nicht zum Bahnhof mitnehmen.

»Ich weiß nicht, wie Mama die weite Reise überstanden hat; vielleicht ist sie sehr angegriffen davon. Da dürfen wir ihr nicht auf einmal zuviel zumuten. Hier zu Hause hat sie auch eine viel größere Freude mit dir, als unter den vielen fremden Menschen.«

So sprach Papa, und Ilse mußte ihm, so schwer es ihr auch wurde, recht geben.

»Sie haben es gut, Johann,« sagte sie ein wenig neidisch zu dem Kraftwagenführer, »Sie sehen Mama eine halbe Stunde eher als ich.«

Ilse hatte ihr Frühstück kaum beendet, da tauchte Lillis Blondkopf zwischen den Fliederbüschen auf. Die Herzensfreundin war ja ebenso aufgeregt wie Ilse selbst. Anemonen, Tausendschönchen und Löwenzahn brachte sie von ihrer Frühwanderung mit. Da wurden noch in aller Geschwindigkeit Girlanden gewunden, und das Eingangstor, Mamas Sessel, auf dem das selbstgearbeitete Kissen lag, ihre Tasse und der Rollstuhl damit geschmückt. Auch bei der Verteilung der Vasen mußte Lillis Geschmack den Ausschlag geben. Niemand verstand das ja so gut wie Lilli Liliput.

Dann aber, als alles fertig, alles empfangsbereit war, zog Lilli die Freundin noch einmal zärtlich in die Arme.

»Grüße dein Muttchen von mir,« und fort war sie, trotz Ilses Bitten, zu bleiben.

Wenn eine Mutter nach Jahren wieder zu ihrem Kinde heimkehrt, darf kein Fremder, und sei es die beste Freundin, Zeuge dieser Wiedersehensfreude sein. Das empfand Lilli feinfühlend, so jung sie auch war.

Im Ecktürmchen, von rankendem Frühlingsgrün umrahmt, stand Ilse im weißen Mullkleid und blickte die lange Wannseestraße entlang – stand und schaute sich fast die Augen aus dem Kopf. Jede Staubwolke, die in der Ferne aufzog, ließ ihr Herz schneller pochen.

Es sausten viele Kraftwagen an diesem herrlichen Sonntag aus den Mauern der Millionenstadt hinaus ins Freie, nach dem von blauen Havelarmen umschlungenen Potsdam. Sogar die kaiserliche Hupe ertönte. Ilse, die sonst Feuer und Flamme war, die kleinen Prinzen bei ihrer Vorbeifahrt zu grüßen, rührte sich heute nicht von ihrem Auslug. Nur nach einem Wagen spähte sie, und der wollte und wollte nicht kommen.

Aber dann – plötzlich, ehe Ilse überhaupt recht zur Besinnung gekommen – hielt das erwartete Fahrzeug am Gartentor, und Papa hob mit rührender Zartheit seine heimkehrende Gattin in den bereitstehenden Rollstuhl. Ilse aber – sie wußte nicht, wie sie hinuntergekommen war – lag still an dem Mutterherzen. Eine schmale, weiche Hand strich ihr das braune Kraushaar aus der Stirn; leis und süß hörte sie Mamas Stimme.

»Mein Kind – mein Ilsenkind – wie habe ich mich nach dir gesehnt!«

Keinen Ton brachte die Ilse über ihre Lippen, als wagte sie nicht, diesen heiligen Augenblick durch ein Wort zu entweihen. Aber in den strahlenden Grauaugen las die Mutter eine ganze Welt von Glückseligkeit.

»Ich fahre Mama ins Haus – bitte, bitte, laßt mich!«

Das war das erste, was Ilse sprach. Den Händen des Dieners gönnte sie die geliebte Last nicht. Dann schob sie mit ihren schwachen Armen und feuerrotem Gesicht, unter Aufbietung aller Willenskraft, den schweren Rollwagen durch die Frühlingswege zur Freitreppe.

Mama war tatsächlich von der langen Reise recht angegriffen, aber sie ließ ihr Töchterchen trotzdem heute nicht von der Seite. Immer wieder glitten die Augen der bleichen Frau froh zu ihrem blühenden schlanken Mädel.

»Bist du groß geworden, Ilschen! Fast hätte ich dich nicht wiedererkannt. Kaum mehr viel kleiner als der Papa!«

Aber nicht nur die äußerliche Veränderung fiel der Mutter auf. Als sie ihre Ilse vor zwei Jahren zuletzt in Baden-Baden gesehen hatte, da war es noch ein rechtes Kind gewesen, ein liebes, schüchternes Mädelchen, für das sie auf Schritt und Tritt sorgen mußte. Jetzt schienen Mutter und Tochter die Rollen getauscht zu haben. Wie eine kleine Hausfrau schaltete das Backfischlein, geräuschlos und selbstverständlich, als ob es gar nicht an eine größere Dienerschaft gewöhnt sei.

Ilse rückte Mama das zum Empfang gestickte Kissen zurecht, das diese dankbar bewunderte, holte geschäftig eine Fußbank herbei und schlang, da es vom See herauf leise wehte, eine seidene Decke um der Mutter zarte Gestalt. Eigenhändig brachte sie ihr die Frühstückschokolade, in dem richtigen Empfinden, daß es der Genesenden tausendmal besser aus den Händen des Töchterchens munden würde, als vom Diener dargeboten.

Auch Papa kam nicht aus dem Staunen heraus. Fabelhaft war es, wie seine Ilse, die sich bei der zahlreichen Dienerschaft niemals um wirtschaftliche Dinge hatte zu kümmern brauchen, plötzlich voll liebender Sorge und mit fein-weiblichem Verständnis die Pflege der Mutter in die Hand nahm. Daß der innige Verkehr mit Lilli Liliput unbewußt so günstig auf Ilse eingewirkt, daß sie es dort im Lehrerhäuschen kennen gelernt hatte, stets für ihre Lieben da zu sein und ihnen die Wünsche von den Augen zu lesen, ahnten die Eltern nicht, ja, nicht einmal Ilse selbst.

Von den Freundinnen ließ sich Mama berichten, die sie schon gut aus den Briefen ihres Töchterchens kannte. Mit geschlossenen Augen und stillglücklichem Lächeln lauschte sie dem frischen Geplauder, das sie so lange entbehrt hatte. Bis sich Ilse erschreckt auf die Lippen biß und zaghaft fragte: »Ich spreche zuviel, nicht wahr, Mütterchen? Das kannst du noch nicht vertragen. Soll ich dich nicht lieber allein lassen?«

Aber Mama behauptete, daß die Anwesenheit ihres Mannes und ihres Kindes sie nicht anstrenge, sondern Genesung für sie bedeute. Ja, als sie selbst Papas Bitten willfahrte, ein wenig zu schlafen, durfte Ilse bei ihr bleiben, während der Vater sein Zimmer aufsuchte.

Neben Mamas Ruhebett, das man auf die sonnige Terrasse gerückt hatte, saß das Töchterlein und bewachte ihren Schlummer. Mäuschenstill saß Ilse da; sie wagte kaum zu atmen. Zärtlich hingen ihre Augen an der Mutter zartem, schmalem Gesicht, das der Schlaf ein klein wenig rötete, an dem schönen Blondhaar, das die Sonne wie lauter Gold erflimmern ließ. Dankbar nickte das junge Mädchen der lieben Sonne zu wie einer treuen Verbündeten, die ihr behilflich war, die Teure gesund zu pflegen. Die Insekten summten so leise, als wüßten sie, daß sie die Schlummernde nicht stören dürften. Jede fürwitzige Fliege, jede Mücke scheuchte das wachehaltende Töchterchen. Selbst der See schien den Atem anzuhalten. Die weißen Segel auf seiner unbewegten blauen Fläche lagen schlaff; murmelnd gluckerten seine Wasser in müder Mattschläfrigkeit gegen das Parkufer.

Neben Mamas Ruhebett, das man auf die sonnige Terrasse gerückt hatte, saß Ilse und bewachte ihren Schlummer.

Da – die Sirene eines Dampfers – schrill durchschnitt sie die weite Stille. Die Schlafende fuhr zusammen, schlug die Augen auf, sah lächelnd in das entsetzte Gesicht ihres Töchterchens und schloß die Lider dann wieder.

Niemals in ihrem vierzehnjährigen Leben war Ilse Gerhard so empört gewesen wie in diesem Augenblick. Ja, als der Vergnügungsdampfer näher kam, mit singenden Ausflüglern an Bord, da meinte das Backfischchen allen Ernstes, daß solch eine Rücksichtslosigkeit unerhört sei, und daß Papa die Dampfschiffahrtgesellschaft des Wannsees veranlassen müsse, künftig einen anderen Weg für ihre Dampfer zu wählen.

Die Mutter, die so lang entbehrte, und ihr Wohlbefinden bildeten jetzt den Mittelpunkt von Ilses ganzem Denken und Empfinden. Alles andere trat dagegen zurück.

Sie bestürmte Papa, sie einige Wochen zu Mamas Pflege und Gesellschaft aus der Schule zu lassen, da er doch selbst täglich ins Geschäft mußte. Aber davon wollten beide Eltern nichts hören. Pflichten darf man nicht vernachlässigen, auch wenn die Beweggründe die besten sind.

»Alwine wird für mich sorgen und die Miß wird mir Gesellschaft leisten, Kind,« beruhigte Frau Gerhard Ilses Bedenken.

Gewiß, sorgen würde Alwine, die treue Seele, schon für Mama. Aber ob sie es verstand, ihr die Schnittchen so einladend herzurichten? Ihr jetzt dies, dann jenes zur Erfrischung zu bringen? Den Rollstuhl bald in die Prallsonne, bald in den kühlen Schatten zu schieben, je nach der Tagestemperatur? Das war dem besorgten Töchterchen doch zweifelhaft. Und auch, ob die Gesellschaft der ziemlich einsilbigen Miß so anregend für Mama war wie die ihres Kindes, schien Ilse bei aller Bescheidenheit nicht recht glaublich.

Jeden Tag, bevor sie in die Schule fuhr, legte sie auf Mamas Frühstücksgedeck einen Blumengruß und ein paar liebe Zeilen zum Guten Morgen.

Nur zu oft wollten ihre Gedanken während der Schulstunden zur Säulenterrasse am blauen Wannsee enteilen, auf der die zarte, schlanke Gestalt im weißen Gewand meistens ruhte. Aber Ilse setzte ihre Ehre drein, die Ausreißer auf den Vortrag des Lehrers zu zwingen. Leicht war das nicht immer. Doch die Worte, welche die Vorsteherin damals zu ihr gesprochen hatte, und die Freude, die aus Mamas Augen schaute, wenn sie ihr des Mittags erzählen konnte, daß sie in der Schule gelobt worden war, ließ sie tapfer gegen jedes Abschweifen der Gedanken ankämpfen.

Sobald aber die Schulglocke das Ende des Unterrichts anzeigte, da sah man die braunhaarige Ilse im Galopp zum Wannseebahnhof stürzen, um, wenn irgend möglich, einen früheren Zug zu erwischen. Selbst die Herzensfreundschaft mit Lilli Liliput, auf die sie sonst getreulich gewartet hatte, trat dagegen zurück.

Aber Lilli war nicht eifersüchtig. Sie verstand, daß sie augenblicklich erst in zweiter Reihe kam. Ihr selbstloses, gutes Herz ließ sie trotzdem mit der Freundin fühlen und ihr Glück teilen.

Bald hatte auch Frau Gerhard den Wunsch, die »Intimste« ihres Töchterchens, die dieses das lange Alleinsein weniger schwer hatte empfinden lassen, von Angesicht kennen zu lernen.

Als sich Lilli Liliput zum erstenmal über die schmale, weiße Hand der im lichten Spitzengewand Ruhenden ehrerbietig neigte, glaubte sie, kein irdisches Wesen vor sich zu sehen. Wie eine gütige Fee erschien Ilses Mutter dem »Märchenkobold«. Das sonst so lebhafte Mädel wagte kaum, den Mund aufzutun.

Aber Frau Gerhards gütige Art löste bald Lillis ungewohnte Befangenheit. Ilse wollte sich nicht von dem Sessel der Mutter fortrühren; aber diese wußte: Jugend muß sich ungehindert, zwanglos austoben. Sie schickte die beiden Mädel auf den Tennisplatz, ins Badehäuschen zum Schwimmen und ins Ruderboot. Das helle Mädchenlachen, das bald zu ihr herauftönte, stimmte auch sie froh.

»Sag, Märchenkobold, ist denn der Mai in diesem Jahr noch tausendmal schöner als sonst, oder kommt mir das nur so vor?« fragte Ilse die Freundin, mit leuchtenden Augen um sich blickend.

»Für dich ist er sicher noch niemals so schön gewesen, Prinzeßchen. Denn du bist jetzt nicht mehr allein in der stillen Villa, sondern hast jemand, den du ständig mit deiner Liebe umhegen kannst,« war Lillis innige Antwort.

»Du hast recht,« entgegnete Ilse sinnend. »Wenn ich jetzt durch den Garten gehe, dann kommt es mir vor, als hätten die Blumen noch niemals so herrlich geblüht, weil ich Mama mit ihnen eine Freude machen kann. Die Sonne scheint mir goldener, da sie Mama so gut tut, und die Vögel singen ihre Lieder ganz bestimmt nur für sie allein. Früher habe ich mir immer Geschwister gewünscht und dich sogar ein wenig darum beneidet; jetzt aber bin ich wunschlos glücklich.«

Stumm drückte Lilli der Freundin die Hand.

Der Bankdirektor und sein Töchterchen wetteiferten in ihrer Sorge um die Genesende. Mehr als die Heimatluft beschleunigte die Liebe, die ihr aus ihrem Heim entgegenwehte, die vorwärtsschreitende Heilung der Mutter. Als sie zum erstenmal wieder, auf den Arm ihres Gatten und ihres Kindes gestützt, langsam, Schritt für Schritt die Parkwege am See entlang wandeln konnte, war es für alle drei ein Feiertag.


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