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Turnstunde

Eine Woche später fand die erste Turnstunde statt. Bereits am Abend zuvor zogen Lilli und Sonja ihre neuen Turnanzüge versuchsweise an. Außer den blauen Höschen gehörte noch eine den Hals freilassende, gleichfarbene Bluse zu der Ausrüstung, und dann die – Turnschuhe.

»Du sehen aus wie kleinere Junge,« rief Sonja lachend. »Nurr langen Zöpfen müssen werrden geschneidet ab!«

Lilli besah ihr zierliches Spiegelbild mit trübseligem Gesicht. Wirklich, wie ein Dreikäsehoch sah sie aus! Ob es nicht doch gescheiter gewesen wäre, auf die Turnstunde zu verzichten?

Am nächsten Tage wurden große Messungen unternommen. Ludwig mußte heimlich ein neues Bleistiftzeichen an der Tür machen, das ganz Lillis Größe entsprach. Wie weit würde sie es nach einem Monat überragen?

Auch die langen Blondzöpfe verschwanden. Sie schnitt dieselben zwar nicht ab, wie Sonja geraten hatte, sondern steckte sie zu einem dicken Knoten an dem Hinterkopf auf, damit die Turnlehrerin bloß nicht »Du« zu ihr sagen sollte. Nun sah sie wenigstens wie eine kleine Dame aus. Aber vor der Mutter ließ sie sich in diesem Aufzug nicht blicken.

Die Eisenbahnfahrt nach Berlin war eine Qual für Lilli, denn sie mußte wie ein Löwenbändiger Iwan stets im Auge behalten. Bald kamen seine Hände in zu gefährliche Nähe des Türgriffs; bald ließ er durch Liebäugeln mit der Notbremse Lillis Herz ängstlicher schlagen.

Sonja kümmerte sich um all das nicht; ihr war es gleichgültig, daß der Bruder den Heizungshebel auf »kalt« rückte. Ja, als der Schlingel plötzlich das eine Fenster herabsausen ließ, zum Ärger aller Mitfahrenden, machte das kaum einen Eindruck auf sie. Lilli dagegen saß wie auf Kohlen; sie war glücklich, als man endlich das Ziel erreichte.

In der Turnhalle einer Schule fand der Unterricht statt. Fräulein Gretchen, eine liebenswürdige junge Lehrerin, begrüßte die Neueintretenden in gewinnender Weise.

Welche Freude: sie sagte »Sie«! Das hatte Lilli sicher nur ihrem aufgesteckten Haar zu verdanken.

Ungefähr zwanzig Mädchen und Knaben, die schon länger Turnunterricht hatten, waren der Größe nach in zwei Riegen geordnet. Lillis gutes Herz hatte niemals Neid gekannt; doch als Fräulein Gretchen der langen Sonja jetzt einen Platz vorn anwies und sie selbst bis an den Schwanz der Turnschlange wandern mußte, ja, als man sie jetzt trotz des Haarknotens als Drittletzte unmittelbar vor Iwan, dem neunjährigen Knirps, einreihte, da regte sich doch ein kleines Neidteufelchen in Lilli Liliputs Brust.

Die Mädchen und Knaben waren der Größe nach in Riegen geordnet.

Aber sie hatte keine Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. Ein lustiger Marsch ertönte vom Klavier her – man turnte mit Musik – und unter diesen Klängen ging es nach dem Kommando von Fräulein Gretchen in Kiebitz-, Storch- und Hopsaschritt durch die Halle. Schnell und kurz folgten sich die Befehle. Die Wangen der Kinder glühten und die Augen blitzten; einem jeden sah man die Freude an dem gesunden Sport an.

Lilli war eine gute Turnerin. Sie warf ihre Beine mit einer Inbrunst, als ob sie dadurch bei jedem Schritt mindestens fünf Zentimeter wachsen würde. Sonja dagegen stellte sich wie ein richtiges »Elefantenkücken« an; die hatte keine Ahnung von all diesen Gangarten und durchbohrte mit ihren langen Gliedern im unmöglichsten Rhythmus die Luft. Die junge Lehrerin ließ sie heraustreten und vor allen Kindern besonders üben. Da machte das Neidteufelchen in Lillis Herzen dem Mitleid für die arme Sonja Platz.

Noch ungeschickter, wenn das überhaupt möglich gewesen wäre, stellte sich Bruder Iwan an. Ein junger täppischer Bär war sehr zierlich im Vergleich zu ihm. Er wollte auch gar nichts lernen, während sich Sonja wenigstens redlich Mühe gab. Mitten im Schottisch-Hüpfen setzte er sich plötzlich auf einen Stuhl und erklärte mit Gemütsruhe: »Ich werrden nicht turrnen; iist serr mopsik.«

Lilli schlugen die Flammen ins Gesicht über diese offenherzige Ansicht und über das Wort »mopsig«, das der Junge ihr selbst abgelauscht hatte. Sie fühlte sich verantwortlich für das Benehmen ihrer Pensionäre.

Fräulein Gretchen aber machte kein böses Gesicht, wie Lilli fürchtete, sondern sagte mit liebem Lächeln: »Ei, Iwan, es wird dir schon besser gefallen, wenn du es erst begriffen hast. Jetzt aber machen wir was ganz Feines; das wird dir sicher Freude bereiten.«

Da folgte der Junge ohne Widerrede.

Schwedische Übungen kamen dran. Die Kinder mußten sich auf allen vieren zu Boden werfen und dann mit den Beinen nach dem Takt der Musik Übungen vollführen. Das machte dem kleinen Russen wirklich mehr Spaß, aber nur, weil er die vor ihm kauernde Lilli dabei heimlich kneifen konnte. Diese wagte nicht, sich gleich in der ersten Stunde zu beschweren, sondern mußte sich mit der Vornahme trösten: »Na warte nur, mein Junge! Zu Hause bekommst du deine Kloppe!«

Noch schlimmer wurde es, als Fräulein Gretchen jetzt Atemübungen machen ließ. In den ersten vier Takten sollte die Luft mit Armbewegungen tief eingezogen, in den nächsten vier kräftig ausgestoßen werden. Die wenigsten machten dies richtig.

Iwan beteiligte sich überhaupt nicht an dieser Übung. Lilli drehte den kleinen Kopf mit dem Riesenhaarknoten ein wenig zu ihm zurück.

»Iwan, du atmest ja nicht richtig – – –«

»Kann ich attmen, wie will; geht frremderr Frrau niichts an! Bin iich hierr zu lernen turrnen, niicht attmen,« war die unartige Antwort, die er mit Trompetenstimme gab.

Die andern Kinder kicherten verstohlen. Lilli hätte sich am liebsten in ein Mausloch verkrochen; doch das war selbst dem Liliputchen unmöglich. Fräulein Gretchen aber tat, als hätte sie überhaupt Iwans Ungezogenheit nicht gehört. Mit ruhiger Stimme kommandierte sie weiter.

Iwan sollte jedoch die Erfahrung machen, daß sein Atmen die »fremde Frau« doch etwas anging. Als er, anstatt den Atem kunstgerecht einzuziehen, den Mund sperrangelweit aufriß und gähnend ein lautes »ah – hu – ah – hu –« hören ließ, trat Fräulein Gretchen zu ihm.

»So, Iwan, nun zeige mal, daß du nicht dümmer bist als die andern Kinder. Jetzt wird eingeatmet – so – die Brust muß sich dehnen – immer mehr – immer mehr – – –«

»Kann iich niicht merr! Haben iich verrgestaucht errst neilich Fuß; Doktorr saggen, iich nurr machen Turrniebungen, die niicht strrengen an – strrengt serr an das Attmen!«

Fräulein Gretchen konnte sich nicht helfen; sie mußte hell auflachen, und ihre Zöglinge stimmten mit ein.

»Ei, Iwan,« sagte sie schließlich, nachdem wieder Ruhe eingetreten war, »das Atmen wird deinem Bein sicher nichts schaden. So, nun noch einmal kräftig ausatmen – ich will es hören – – –«

Ach, Fräulein Gretchen sollte es nicht nur hören! Sie sollte es auch fühlen, denn der ungeschickte Iwan ließ beim Ausatmen einen wahren Wasserstrahl wie der kleine Neptun draußen in Schlachtensee über seine Umgebung ersprühen.

»Aber Iwan, atmen, nicht spucken! Die Lilli muß ja sonst einen Regenschirm aufspannen!«

Wirklich, Fräulein Gretchen war reizend! Mit welcher Liebenswürdigkeit sie all den Überraschungen begegnete, die ihr Iwan im Laufe der ersten Turnstunde bereitete.

Lilli war froh, als die Atemübungen beendigt waren, denn der durchtriebene Iwan war jetzt plötzlich einer der Eifrigsten geworden. Sie konnte sich vor seinem gleich einer Blumenspritze sprühenden Atem nicht retten.

»Keulenschwingen,« klang es da zum Glück von den Lippen der Lehrerin. Jedes der Kinder mußte an einen Kasten treten und ein Paar Holzkeulen ergreifen. Da gab es kleine und große, schwere und leichte, je nach der Muskelstärke der Turner.

Lilli Liliput hatte ein Paar besonders schwere Keulen gefaßt. Sie schienen beinahe ebenso groß wie ihre Trägerin.

»Ei, Lilli, werden die Keulen nicht zu schwer für Sie sein?« erkundigte sich Fräulein Gretchen.

»Ih bewahre, ich habe dolle Muskeln!«

Lilli warf sich in die Brust und kletterte auf die Zehenspitzen. Und wenn sie unter der Last zusammenbrach, sie mußte Fräulein Gretchen beweisen, was für Kräfte sie trotz ihres schmächtigen Aussehens hatte!

Mit krebsrotem Gesicht kam sie den Befehlen nach: Vorwärts-, Seitwärts-, Aufwärtsstrecken der Arme und Keulen. Jetzt kreisförmiges Schwingen derselben –

O weh! Lilli hatte die Übung zu nachdrücklich betrieben; der unweit von ihr stehende Iwan erhielt einen kräftigen Puff gegen die Nase.

»Au – uh – au – uh –« er pfiff wie eine Lokomotive – »meine Augens – sie blutten, au – uh –«

Er preßte laut weinend den Ärmel seiner Matrosenbluse gegen die blutende Nase.

Mit entsetztem Gesicht stand die arme Lilli da. Von der einen Seite eilte Fräulein Gretchen herzu, von der andern Sonja.

»Mein Brudder sterrbt – mein Brudder sich verblutten – err werrden blind!« Sonja heulte mit Iwan um die Wette.

In dieses liebliche Duett klang Fräulein Gretchens Stimme seltsam beruhigend hinein: »Von Nasenbluten ist noch niemand blind geworden. Hört auf mit dem Geschrei! Lilli, führen Sie Iwan an die Wasserleitung und waschen Sie ihm die Nase ab!«

Aber so rasch ging das nicht. Als Iwan hörte, daß es nur die Nase und nicht die Augen wären, wollte er vor allen Dingen mal erst der Lilli einen Denkzettel für den ihm zugefügten Stoß geben. Mit erhobenen Keulen stürzte er auf sie los. Ohne Fräulein Gretchens Dazwischentreten wäre es wohl zu einer regelrechten Prügelei gekommen, denn Lilli konnte sich des kleinen Wüterichs kaum erwehren.

»Du bist ja ein ganz boshafter kleiner Strick! Wirst du wohl Ruhe geben, Junge?«

Niemand hätte der jungen, liebenswürdigen Lehrerin solch einen bestimmten Ton zugetraut. Auch auf den kleinen Angreifer verfehlte er seine Wirkung nicht. Iwan folgte jetzt Schwester Sonja gezähmt zur Wasserleitung.

Die Stunde konnte ihren Fortgang nehmen. Den Iwan aber behielt Fräulein Gretchen vorläufig an ihrer Seite; sie fürchtete noch weiteres Unheil.

Nach den Freiübungen kam jetzt das Gerätturnen daran.

Rundlauf, Engelschweben – himmlisch! Darin hatte Lilli stets in der Schule geglänzt. Heute aber wollte sie sich ganz besondere Mühe geben, um den Ärger, den Fräulein Gleichen durch Iwan hatte, wieder gut zu machen.

Sie warf verächtlich die Lippen auf. Pah! Bei den meisten sah das Schweben recht wenig nach Engeln aus. Sonja hing wie ein Mehlsack an ihrem Riemen. Iwan aber, der um seines Fußes und seiner Nase willen nur zugucken sollte, wurde plötzlich ehrgeizig und wollte auch am Rundlauf turnen. Dabei war er so träge, daß er die Füße überhaupt nicht vom Erdboden hob. Aber geradezu empörend fand es Lilli, daß auch sie dadurch nicht ihre Künste entfalten konnte. Der Junge trat nicht in die Mitte, wie Fräulein Gretchen es denen befahl, die nicht mitkamen, sondern stellte sich wie ein störrischer Maulesel mitten in den Weg, daß Lilli jedesmal im schönsten Schweben bei ihm haltmachen mußte. Auch beim darauffolgenden »Fischen« erging es ihr nicht besser. Als unüberwindliches Hindernis pflanzte sich dieser abscheuliche Schlingel jedesmal mit grinsendem Gesicht vor ihr auf.

Fräulein Gretchen bemerkte schließlich Lillis vergebliche Anstrengungen, in Schwung zu kommen.

»Die kleine Blonde soll uns mal allein zeigen, was sie kann,« sagte sie freundlich, »die drei andern abtreten.«

Lilli wußte nicht, sollte sie sich freuen oder ärgern.

»Kleine Blonde« – das ist schmerzlich, wenn man bereits vierzehn Jahre und acht Tage alt ist! Aber wer jemals am Rundlauf die Lüfte durchsaust hat, der weiß, daß auch die bedrückteste Gemütsverfassung dabei im Umsehen unbekümmerter Heiterkeit weicht. Mit strahlendem Gesicht kam Lilli auf Fräulein Gretchens »Halt« wieder zur Erde herab.

»Bravo! Da haben wir ja eine tüchtige Turnerin bekommen,« sagte die Lehrerin anerkennend.

Lilli war glückselig, und ihr Herz machte einen noch größeren Sprung als sie selbst soeben. Von Doktor Petersen, für den sie nur aus Mangel an etwas Besserem geschwärmt hatte, flog es begeistert der jungen Lehrerin zu. Von heute an schwärmte Lilli für Fräulein Gretchen.

»Zeppelin – ach, bitte, Zeppelin! Dürfen wir einen Zeppelin machen, Fräulein Gretchen?« Bittend umringten jetzt sämtliche Hosenmätze die Turnlehrerin. Die lächelte freundlich Gewährung.

Zeppelin? Nanu, was war denn das? Lilli vermochte sich durchaus nichts darunter vorzustellen. Die beiden Russen aber eilten ans Fenster, um das vermeintliche Luftschiff zu sehen.

Nein, war das ulkig!

Die Arme wurden durch zwei Riemen gezogen, und die Füße in die beiden anderen Riemen gesetzt. Ein liebevoller Anstoß von einer guten Freundin – und da flog man wagrecht wie das schönste Luftschiff durch die Turnhalle.

Großartig! Lilli war Feuer und Flamme. Das mußte sie auch versuchen!

Ihre kleine leichte Person durchschnitt die Luft, als ob sie Flügel hätte. Da hängte sich plötzlich Iwan mit lautem Gesurr an ihre Vorderriemen und hielt sie im Schwung auf.

»Junge, willst du loslassen?«

»Luuftschiff muuß habben Prropellerr –« er burrte weiter wie ein großer Maikäfer.

»Na, Zeppelinchen, dann landen Sie nur wieder auf der Erde!« Damit half Fräulein Gretchen Lilli, die für ihr Leben gern noch ein wenig geflogen wäre, aus den Riemen.

Als sie ganz niedergeschlagen über all die Bosheiten ihres kleinen Pensionärs aus ihren Platz schritt, streckte ihr Iwan hinter Fräulein Gretchens Rücken, soweit er nur konnte, die Zunge heraus.

»Iist Strrafe wegen Nasenblutten, werrd' ich strrafen ihr noch immerr merr,« flüsterte er triumphierend.

Nun wurden die Schaukelringe an langen Ketten herabgelassen und für die verschiedenen Größen eingestellt. Klimmzüge im Laufen, so oft es ein jeder konnte, sollten ausgeführt werden. Lilli war stolz darauf, daß sie es auf acht Male brachte; nur ein großer kräftiger Junge übertraf sie noch. Man sah es dem zierlichen Ding nicht an, daß es solche Muskelstärke besaß, aber dafür hatte Bruder Ludwig daheim am Reck gesorgt.

Den Schluß der Stunde bildete eine recht schwere Übung. Die Schaukelringe wurden etwas herabgelassen, und nun galt es, im Laufen mit beiden Füßen zu gleicher Zeit in die Ringe zu springen. Den meisten gelang das Kunststück daneben, allenthalben mußte Fräulein Gretchen nachhelfen. Sonja hatte sich mit einem Bein verfangen und hing nun an ihrem Ring wie ein Affe am Kletterbaum.

Lilli war ganz aufgeregt, als die Reihe an sie kam. Sie hätte so gern ihre Sache fein gemacht und Fräulein Gretchen erfreut.

Ein tüchtiger Anlauf – hop – nanu, was war das? Die Stricke gaben nach – Lilli wurde zu Boden gerissen – einer der Ringe flog ihr heftig gegen den Kopf.

Für einen Augenblick schwanden ihr die Sinne. Erst als sie einen kalten Umschlag auf der Stirn fühlte, schlug sie wieder die Augen auf. Da blickte sie in Fräulein Gretchens erblaßtes Gesicht, das sich besorgt über sie neigte.

»Kindchen, haben Sie Schaden erlitten – tut Ihnen irgend etwas weh?« fragte die Lehrerin.

Lilli schüttelte den Kopf. Er schmerzte zwar noch etwas von dem starken Stoß, aber sie vermochte schon wieder aufzustehen. Sonja lief herzu und schlang schützend die Arme um Lilli. In diesem Augenblick kam es der Russin zum Bewußtsein, wie lieb sie das deutsche Mädchen gewonnen hatte.

Einer aber stand daneben mit verstörtem Gesicht: Iwan Pietrowicz.

»Iich niicht haben gewillt dich machen fallen herrab, Lilli; iich nurr haben gewillt dirr ärrgern – jagen ein dirr Schrreck,« beteuerte er.

»Hast du die Ketten herabgelassen?« wandte sich die Lehrerin streng an den kleinen Russen.

Der wagte nicht zu leugnen; stumm stand er da.

»Du darfst meine Turnstunde nicht weiter besuchen! Das größte Unglück hätte durch deinen Leichtsinn geschehen können. Wir wollen Gott danken, daß es so abgelaufen ist,« sagte Fräulein Gretchen so streng, wie man es niemals von ihr vermutet hätte.

Iwan wurde abwechselnd blaß und rot. Die Schande war groß, und außerdem fürchtete er Doktor Steffens Strafgericht.

Da kam ihm von einer Seite Fürsprache, von der er es am wenigsten erwartet und verdient hatte. Trotzdem Iwan Lilli heute so viel Ärgernis bereitet hatte und sie eigentlich hätte froh sein können, daß er künftig von der Turnstunde ausgeschlossen werden sollte, ließ sie ihr mitleidiges Herz ein gutes Wort für den jetzt ganz zerknirscht dastehenden kleinen Sünder einlegen. Sie wandte sich bescheiden an Fräuleins Gretchen.

»Iwan wollte nur einen Scherz machen; er hat unüberlegt gehandelt, aber sicher nicht mit böser Absicht. Bitte, versuchen Sie es doch noch einmal mit ihm, Fräulein Gretchen! Er wird sich künftig gewiß zusammennehmen!«

Die Lehrerin nickte der allerliebsten jungen Fürsprecherin freundlich lächelnd zu.

»Da Sie selbst für Iwan bitten,« sagte Fräulein Gretchen, »will ich es noch einmal nachsehen. Aber bei der geringsten Ungehörigkeit wirst du vom Turnunterricht ausgeschlossen! Schreibe dir das hinter die Ohren, mein Junge,« wandte sie sich sehr ernst mit erhobenem Zeigefinger an den kleinen Russen.

Hurra! Lilli Liliput war drei Zentimeter gewachsen.

Durch diesen Vorfall war Lilli gleich von Anfang an der Liebling Fräulein Gretchens geworden. Sie selbst turnte mit Begeisterung weiter, und dabei trat sogar der Wunsch, größer zu werden, hinter dem Wunsch zurück, der angebeteten jungen Lehrerin Ehre zu machen.

Iwan nahm sich tatsächlich zusammen. Er war die ersten Tage voll Dankbarkeit gegen Lilli und opferte ihr mehrere Marmel und verschiedene Gummibändchen. Seine Anerkennung über ihr Schweigen den Eltern gegenüber drückte er durch die Worte aus: »Sie iist serr anständik, niicht zu haben verpetzt mirr bei Doktorr; nurr noch serr wenik iich ihrr werrde ärrgern.«

So verging Woche um Woche. Eifrig waren die Mädel und Jungen aus Fräulein Gretchens Turnstunde dabei, ihrer freundlichen Lehrerin rechte Freude zu machen, und so verfloß ein Monat, schneller, als man es gedacht hatte. Herzklopfend zog Lilli am ersten April ihren Bruder ins Mansardenstübchen, um an der Tür festzustellen, ob das Turnen etwas genützt habe.

Hurra! Lilli Liliput war drei Zentimeter gewachsen!


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