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Das Preismärchen

Die Tage griffen ineinander wie die Glieder einer endlosen Kette. Sie kamen und gingen, brachten Arbeit und Streben, Frohsinn und Jugendfreude. Erst die Oktoberzensuren ließen die unaufhaltsam dahinwandernden Gesellen einen Augenblick Atem schöpfen, nur damit man sah, daß bereits wieder ein Vierteljahr vorbei war.

Lilli und ihre Freundinnen hatten schon oft in Gedanken das Ziel gestreift, das nun glücklich erreicht war. Schülerin der ersten Klasse!

Kein Herrscher, der zum erstenmal den Thron besteigt, kein Feldherr, der siegreich aus der Schlacht heimkehrt, kein Künstler, der sein Lebenswerk vollendet sieht, hat jemals auch nur annähernd jenes stolze, triumphierende Glücksgefühl empfunden, wie es solch ein junges Mädchenherz an diesem Versetzungstage durchzieht. Schülerin der ersten Klasse!

Lilli teilte ihre Standeserhöhung jedem einzelnen Familienmitglied strahlend mit. Onkel Martin knickte ordentlich zusammen vor soviel Erhabenheit; er wagte es nur noch, sich seinem Nichtchen in stummer Ehrfurcht zu nahen. Sogar auf Schnauzel schien die Mitteilung ungeheuren Eindruck zu machen. Er blickte seine junge Freundin unverwandt an, und wackelte mit seinem Stummelschwänzchen in unverhohlener Bewunderung.

In der ersten Klasse erwartete Lilli Liliput keine Enttäuschung wie vor einem Jahr. Sie hatte es nicht nötig, sich die gute Meinung des Klassenlehrers erst zu erringen. Professor Heinze kannte sie und ihre Leistungen.

Trotzdem kam es, daß die Erste der ersten Klasse sich bald nicht mehr der vollen Zufriedenheit ihrer Lehrer erfreuen konnte. Sie gab in den Stunden manchmal verkehrte Antworten, die deutlich bewiesen, daß sie mit ihren Gedanken ganz wo anders weilte. Sie zuckte oft zusammen, wenn man sie anrief, und selbst auch in die häuslichen Arbeiten, die stets der Klasse als Muster gegolten hatten, schlich sich jetzt des öfteren ein durch Unaufmerksamkeit verschuldeter Fehler.

Was aber war es, das die Gedanken Lilli Liliputs so stark in Anspruch nahm, daß sie sich selbst in der Schule nicht davon freimachen konnte?

Ein Zeitungsblatt – ein gewöhnlicher Zeitungsbogen trug ganz allein die Schuld daran!

An einem trüben Novembertage war es gewesen, einem Tage, an dem es überhaupt nicht hell wird. Die brennende Lampe hatte endlich die Ungemütlichkeit des grauen Nebeltages verscheucht. Vater las am Familientisch die Zeitung. Da ließ er das Blatt kopfschüttelnd sinken.

»Wieder ein furchtbares Grubenunglück – soundsoviele Familien ihrer Ernährer beraubt, viele hundert Kinder vaterlos geworden! Sucht von eurem Spielzeug und euren Büchern zusammen, was den armen Kindern dort eine Weihnachtsfreude machen könnte,« wandte sich der menschenfreundliche Mann an die mit erschreckten Augen lauschende Jugend.

»Ich will die Kleidungstücke der Kinder einer Musterung unterziehen; da wird sich wohl noch manch brauchbares Stück für die Ärmsten finden,« fiel Frau Mieze hilfsbereit ein.

Ludwig hatte sich der vom Vater fortgelegten Zeitung bemächtigt. Seine Zwillingsschwester hockte hinter ihm auf dem Stuhl und versuchte über seine Schulter hinweg ebenfalls einen Blick auf den traurigen Bericht zu werfen.

Aber Lilli Liliputs Auge kam nicht so weit. Das blieb gleich oben an einer fettgedruckten Überschrift haften.

»Preisausschreiben für Märchen« prangte da über einer Spalte. Lillis Anteilnahme war durch das Wort »Märchen« geweckt; sie durchflog die Zeilen.

Die Redaktion der Zeitung lud zu einem Märchenwettbewerb ein, um zu beweisen, daß auch in der heutigen nüchternen Zeit noch wahre Märchenpoesie blühe. Für die beste Leistung war ein Preis von tausend Mark ausgesetzt; zwanzig andere sollten je hundert Mark erhalten. Es schwindelte Lilli bei diesen ungeheuren Summen. Bis zum ersten Dezember hatten die sich Beteiligenden ihr Märchen einzusenden, ohne Namen, ohne Adresse. Beides war auf einer Sonderkarte in geschlossenem Umschlag beizufügen. Der Umschlag sowohl wie das Manuskript mußten mit dem gleichen Kennwort versehen sein.

»Unglaublich,« sagte Ludwig, nachdem er die Beschreibung des furchtbaren Ereignisses schaudernd gelesen hatte.

»Unglaublich,« klang es hinter ihm auch von Lillis Lippen; aber der Zwilling dachte an ganz verschiedenes.

Als Lilli ins Bett ging, war auch jenes Zeitungsblatt mit ihr verschwunden. Droben im Mansardenstübchen beim flackernden Lichtschein studierte sie noch einmal mit brennenden Wangen jenen verheißungsvollen Aufruf. Diesmal war es Sonja, die über die Schulter der anderen spähte.

Droben, im Mansardenstübchen beim flackernden Lichtschein studierte Lilli noch einmal mit brennenden Wangen jenen verheißungsvollen Aufruf.

»Du mussen dirr beteiligen – natierrlich! Du sicher werrden gewinnen errstes Prreis,« rief Sonja so laut, daß Lilli ihr schnell den Mund zuhielt; die Jungen nebenan brauchten das doch nicht zu hören.

»Ich glaube, es wäre furchtbar dreist von mir, wenn ich es wagte, ein Märchen einzusenden; da sind sicher ganz andere Leute dabei – berühmte Schriftsteller und so was,« versetzte Lilli kleinmütig.

»Wirrst werrden du berrühmtes Schriftsteller dadurch,« behauptete Sonja mit felsenfester Überzeugung.

Aber Lilli schwankte noch immer.

In dieser Nacht schlief Lilli Liliput sehr wenig. Alle Geister der Märchenwelt waren losgelassen; sie huschten in das Mansardenstübchen, stellten sich um das Lager der schlaflosen Lilli und flüsterten ihr zu: »Da sind wir – nun wähle!«

Ach, die Wahl war schwer! Allzuviel waren es ihrer, und immer noch neue drängten herein. Da schwebten die Nebelschwestern in grauen wallenden Schleiern vorüber; da tanzte das Rosenelfchen herbei. Die Kornmuhme rauschte mit ihrem Ährenkleid und das kleine Gesindel der Wichtelmännchen strömte in hellen Scharen herzu. Die ausgelassensten aber waren die winzigen Geister des Hauses. Pux und Mux kletterten, sogar auf die Lehne des alten Märchensofas, auf dem das Liliputchen ruhte; sie zupften es übermütig an den langen Blondzöpfen, daß Lilli den Kopf unruhig hin und her warf. Da machte diese, als es ihr zu toll wurde, kurz entschlossen Licht. Husch – husch – fort waren die Geister der Märchenwelt. Aus der Ecke aber, wo Sonjas Bett stand, erklang sanfte Schnarchmusik, und die sang schließlich auch die erregte Lilli in den Schlummer.

Über Nacht war Schnee gefallen, der erste im Jahr. Lautlos und weich war er herabgesunken, hatte all das häßliche Novembergrau mit schimmerndem Weiß bemalt und die gewöhnliche Alltagswelt wieder zu einem Zauberreich verwandelt. Immer noch fielen leis und sanft die Flocken vom Himmel und jubelnde Kinder stürmten hinaus zur Schule.

Lilli schien stiller als sonst. Hatte das junge Fräulein etwa nicht ausgeschlafen?

Nein, die Braunaugen blickten so klar wie nur je. Sinnend schauten sie in das lustige Durcheinander der sie umtanzenden Schneeflocken.

»Liliputchen, du machst ja Märchenaugen,« rief Bruder Ludwig plötzlich.

Wie auf einer bösen Tat ertappt, fuhr die Schwester zusammen. Ein schneller Blick zu Sonja hin – die verriet nichts! Wenn die junge Russin Stillschweigen gelobt hatte, konnte man sich auf sie verlassen.

Treulos kam sich die Lilli ihrem Ludwig gegenüber vor; aber sie mußte erst mit sich selbst im reinen sein. Das klare, prosaische Urteil des Bruders vertrugen die schemenhaften Gebilde nicht, die noch keine feste Form in ihrem Kopf angenommen hatten.

Als Lilli den verschneiten Schulhof betrat, hatte sich von all den Märchengestalten, die ihr den hübschen Kopf wirr machten, eine deutlich und greifbar gelöst. Sie folgte ihr in den nüchternen Klassenraum – leider, leider! – der doch ganz und gar nicht der geeignete Aufenthaltsort für luftigen Märchenspuk ist.

»Prinzessin Schneeflocke –«

Statt der Insel Sumatra, die der Zeigestock des Lehrers auf der Wandkarte wies, sah Lilli das zarte Prinzeßchen droben im großen Wolkenreich zu den Füßen der Mutter Schneekönigin mit bunten Eiskristallen spielen, hörte seine bettelnde Stimme, es doch mit den Schwestern hinab zur Erde reisen zu lassen. Aber die Mutter schüttelte ihr Haupt, mit dem funkelnden Eisdiadem auf den schneeigen Locken und sagte: »Nein, Kind, du bist noch zu klein und unerfahren. Erst wenn du erwachsen bist, darfst du mit den Schwestern ziehen, und –«

»Lilli Steffen, was habe ich soeben gesagt?« erklang eine menschliche Stimme vom Katheder dazwischen.

Lilli Liliput fuhr erschreckt empor. Ach, sie wußte ganz genau, was die Schneekönigin soeben gesagt hatte, aber die Worte des Herrn Professors hatte sie nicht vernommen.

Der blickte vorwurfsvoll auf die unaufmerksame Erste und machte sich in seinem Büchelchen eine tadelnde Anmerkung.

Lilli nahm sich jetzt zusammen. Geraume Weile beteiligte sie sich an der Reise der Klasse nach den Inseln Java, Borneo und Celebes. Aber als es nun nördlich gegen Japan ging, entwischte sie plötzlich wieder in ihr Wolkenland.

Warum hatte sie auch ihren Platz gerade am Fenster? Warum sah sie die Schneeflocken so verlockend herniedersinken, so weich, so licht und dicht, daß sie ihre Gedanken mit sich zogen? Lilli träumte von neuem ...

Zu ihrem sechzehnten Geburtstage erhielt Prinzessin Schneeflocke zwei kleine Silberflügel, und nun durfte sie endlich mit den Geschwistern zur Erde ziehen. Aber der große Bruder Sturmwind mußte die Aufsicht über das junge Prinzeßchen führen, daß es sich nicht zu leichtsinnig mit dem jüngeren Bruder Sausewind jagte.

Da – gerade als das Prinzeßchen am Schloß des Königs Donner vorbeiflog, donnerte es auch in Lillis Märchen hinein: »Lilli Steffen, jetzt wird es mir aber wirklich bald zu bunt! Sie träumen ja am hellen, lichten Tage! Von der Ersten der ersten Klasse habe ich anderes erwartet!«

Die Beschämung war groß. Lilli konnte sich nicht entsinnen, jemals so ernst gerügt worden zu sein. Sie hob den Kopf nicht mehr, und das war gut. Da sah sie nicht, wie übermütig die weißen Flöckchen gegen das Klassenfenster sprangen und wie sie ihrer kleinen Freundin tröstend zublinzelten. Aber all das nützte der ausgelassenen Gesellschaft nichts. Lilli Liliput schwamm jetzt mit allen ihren Gedanken mitten im Gelben Meer.

Auch am Nachmittag lockte die weiße wirbelnde Schar draußen vergebens. Lilli Liliput saß in ihrem Mansardenstübchen und schrieb – schrieb. Zeile um Zeile, Bogen auf Bogen füllten sich.

Prinzessin Schneeflocke, die sich auf der großen Erde verirrt hatte und dort jämmerlich erfroren war, hatte der warme Gruß des Prinzen Sonnenstrahl zu neuem Leben erweckt. Aber er hatte sie auch gleichzeitig verwandelt. Ein großer, klarer Wassertropfen war das schöne Prinzeßchen geworden. Es floß den Bach herab, bis es in den großen See, das Reich des Forellenkönigs, kam.

Draußen von der Straße klang helles Jauchzen der sich schneeballenden Jugend ins Mansardenstübchen. Aber Lilli hörte nur das leise Klagen ihres armen Prinzeßchens im dämmerigen Schilfwalde, wie es sich nach dem Licht und dem Prinzen Sonnenstrahl sehnte. Und jetzt – der Kobold in Lilli bekam die Oberhand über die Märchenstimmung – eine derbe Dienstmagd sandte sie zum See hinab; die schöpfte dort Wasser und – fing das Prinzeßchen mit ihrem großen Holzeimer!

Da zappelte es nun, das arme gefangene Prinzeßchen, in dem häßlichen Kerker, aber alles Planschen und Strampeln half ihm nichts. In einen großen Kessel wurde es gegossen. Die Magd zündete ein helles Feuer darunter, und – Lilli schlug das Herz gerade so bang wie der armen Prinzessin, die bei lebendigem Leibe gekocht werden sollte. Aber als die kleine Schneeflocke vor Angst fast ohnmächtig war, sprang plötzlich ihr Ritter, der Prinz Sonnenstrahl, in goldener Rüstung durch das Küchenfenster, huschte zum Herd und warf ein goldenes Strahlenringlein in das Wasser. Da begann es darin zu wallen und zu sieden, und Prinzessin Schneeflocke verwandelte sich plötzlich in eine weiße schöne Dampfwolke. So flog sie hinter dem Prinzen Sonnenstrahl her, durch den schwarzen Schornstein hindurch, hoch hinauf in die klare blaue Luft bis zum Wolkenland. Dort machten die beiden Hochzeit, und wenn –

Ja, wenn Bruder Ludwig nicht plötzlich ins Stübchen gestürmt wäre, dann hätte Lilli auch sicher noch ihren Schlußsatz »und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch« vollendet. So aber wischte sie in ihrem Schreck, ertappt zu sein, die Tintenschrift mit der bergenden Hand aus, daß es mehr nach düsterer Trauer als nach froher Hochzeit ausschaute.

»Armes Liliputchen, mußt du dich noch immer plagen? Komm, kann ich dir nicht helfen?« fragte der gute Bruder mitleidig.

Da hielt Lilli es nicht länger aus, ein Geheimnis vor ihrem Zwilling auf dem Herzen zu haben.

»Schwöre mir, Stillschweigen wie das Grab zu bewahren, Ludwig,« sagte sie feierlich, »dann will ich dir etwas anvertrauen.«

»Hast du irgendwas zertöppert?« rief der Bruder aus alter Erfahrung.

»Bewahre! Etwas ganz anderes – viel Höheres!«

»Dann hast du dich mit Ilse Gerhard verkracht.«

»Was fällt dir ein! Keine Spur! Aber ich will mich an einem Märchenpreisausschreiben beteiligen!«

Ihr Unternehmen erschien ihr jetzt plötzlich wieder ungeheuerlich. Sie hielt ihm das bewußte Zeitungsblatt hin.

»Je kleiner die Leute sind, um so mehr leiden sie an Größenwahn,« sagte Ludwig mit der Seelenruhe, die er stets seinem erregbaren Schwesterchen entgegenzusetzen pflegte.

»Wenn ich einen Hundertmarkpreis gewonnen habe, wirst du schon anders reden,« trumpfte das Liliputchen auf.

»Warum nicht gar den Tausendmarkpreis? Mit Kleinigkeiten soll man sich nicht erst abgeben,« spottete Ludwig.

Da lachte Lilli mit ihm um die Wette. Dann las sie ihm auf Großmamas altem Märchensofa die Geschichte von Prinzessin Schneeflocke vor.

»Na?« fragte sie erwartungsvoll, als sie geendet hatte.

»Hm – recht nett! Aber ein gewisser Herr von Goethe hat den Kreislauf des Wassers eigentlich viel schöner beschrieben:

»Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder zur Erde muß es,
Ewig wechselnd ...«

deklamierte er mit erhobener Stimme.

»Quatsch mit Soße! Das ist doch im Leben kein Märchen!« Das unternehmungslustige Liliputchen wagte es, sich sogar mit Goethe zu messen.

Aber es war doch gut, daß sie Bruder Ludwig eingeweiht hatte, denn der half ihr bei dem nüchternen Teil ihres Vorhabens. Er verschaffte ihr große weiße Bogen zur Abschrift und übernahm den Versand.

Viel Kopfzerbrechen machte Lilli noch das Kennwort, das sie dem Märchen und dem geheimnisvollen Briefumschlag, der ihren Namen barg, beifügen sollte. Keines war ihr schön genug. Auf die abenteuerlichsten Sachen verfiel sie, bis Ludwig schließlich, da die Zeit drängte und Lilli zu keinem Entschluß kommen konnte, einfach »Liliputchen« darauf schrieb.

Da aber wurde Lilli so böse, wie sie noch nie im Leben auf ihren Ludwig gewesen war. Der gräßliche Name! Nun war es ja ganz klar: damit konnte sie keinen Preis gewinnen!

Als der Briefkasten mit lautem »Klapp« das umfangreiche Schreiben schluckte, hatte das Backfischchen das Gefühl, als ob es ihm das Wohl und Wehe ihres Lebens anvertraut habe.

Würde sie Antwort erhalten? Oder würde das Märchen einfach in den Papierkorb wandern?

Es gab Zeiten, zu denen Lilli letzteres aus vollem Herzen wünschte. Sie hatte ein bodenlos schlechtes Gewissen ihren Eltern gegenüber, daß sie ihnen zum erstenmal im Leben etwas verheimlichte. Als ob sie das größte Unrecht begangen habe, so schwer lag es ihr auf der Seele, wenn Vater sie beim Gutenachtsagen so liebevoll anschaute oder wenn Mutter sie zärtlich an sich zog.

Dennoch – erzählen mochte sie es ihnen nicht! Sie schämte sich, etwas so Keckes gewagt zu haben. Wenn Onkel Martin Wind davon bekam, der neckte sie ja zeitlebens damit!

Wirklich, das beste war schon, das Märchen wanderte in den Papierkorb der Redaktion. Aber wenn das nun nicht der Fall war? Wenn sie gar einen Hundertmarkpreis erhielt? Himmel, was sollte sie bloß mit dem vielen Gelde anfangen?

Ja, Lilli Liliput hatte jetzt schwere Sorgen. Da war es wohl kein Wunder, daß die Weihnachtszensur diesmal nicht so tadellos ausfiel, wie man es sonst von Lilli gewohnt war, und daß sie ihren ersten Platz opfern mußte. Lena Ritter nahm ihn ein – und hatte doch keine rechte Freude daran, weil sie Lillis Jammer sah! Ach – nie wieder wollte sich Lilli Liliput an einem Preisausschreiben beteiligen!

*

Die russischen Kinder lernten zum erstenmal den Zauber des deutschen Weihnachtsfestes kennen. Für Lilli aber hatte Knecht Ruprecht diesmal ein besonderes Geschenk in seinem Sack. Ein dicker Brief war es, an »Frau Lilli Steffen« adressiert.

Unter Lachen und Scherzen öffnete Lilli das Schreiben. Neugierig durchflog sie es und – wurde so weiß wie das Tafeltuch. Entsetzt ließ sie den Brief sinken und brach in Tränen aus.

»Lilli – Kind – um Himmels willen, was ist denn geschehen?« riefen erschreckt Vater und Mutter wie aus einem Munde.

Lilli vermochte nicht zu antworten. Mit geradezu entsetzten Augen starrte sie auf das Blatt. Stumm, mit zitternder Hand reichte sie es dem Vater hin.

»Sehr geehrte Frau,« las der Vater mit wachsendem Erstaunen, »hierdurch beehren wir uns, Ihnen mitzuteilen, daß Ihrem zum Wettbewerb eingesandten Märchen ›Prinzessin Schneeflocke‹ der erste Preis von tausend Mark zuerkannt worden ist. Wir gestatten uns, Ihnen die Summe gleichzeitig per Post zugehen zu lassen, und hoffen auf Ihre weitere geschätzte Mitarbeit an unseren Zeitschriften und Tagesblättern.«

Ludwigs lautes »Juchhu«, von Sonja und Iwan jubelnd wiederholt, verschlang den Schlußsatz.

Vater griff sich an die Stirn. Da war er, der Weg ins Dichterland, der ihn so oft gelockt hatte! Sein Liliputchen hatte ihn eingeschlagen, beinahe unbewußt, wie ein Kind bei lachendem Spiel! Sein Liliputchen – sein Mädel!

Er wollte Lilli in die Arme schließen, aber die weinte längst an Mutters Herzen den ganzen Jammer über das so plötzlich hereingeschneite Glück aus.

»Aber Lilli, was heulst du denn?« fragte Ludwig mit dem dümmsten Gesicht von der Welt.

Ja, wußte Lilli denn das wirklich selbst?

»Muttchen, bist du auch nicht böse, daß ich es heimlich getan habe?« und: »Vatchen, ach, wenn es doch bloß ein Hundertmarkpreis wäre! Was soll ich denn nur mit dem gräßlich vielen Geld anfangen?« schluchzte sie.

Aber als Lilli nun den Kopf hob und in Mutters Gesicht, trotzdem dieselbe ihr lächelnd wegen der Heimlichkeit drohte, innige Freude las, als sie des Vaters still verklärte Augen schaute, kam auch ihr endlich das Glücksempfinden.

Und plötzlich wußte sie auch, was sie mit dem »gräßlich vielen« Geld beginnen sollte! Der Weihnachtsabend vor einem Jahr, an dem der Vater um seiner Kinder willen auf seine Studienreise verzichtet hatte, er tauchte plötzlich vor Lilli Liliput auf.

»Ich weiß – ich hab's,« jauchzte sie noch unter Tränen. »Von dem Geld reist Vater nach Italien und Griechenland!«

Jetzt empfand Lilli reine Freude an ihrem Preismärchen. Dem Vater aber wurden die Augen feucht, während sein Liliputchen schon wieder über das ganze Gesicht lachte. Denn merkwürdig ist es im Leben: die Tränen der Kleinen entlocken den Großen oft ein Lächeln, während junge Freude alte Augen näßt.

»Nein, Kind,« sagte Vater schließlich und streichelte immer wieder ihren weichen Blondkopf, »das Geld geben wir auf die Sparkasse für dich, und wenn du groß bist, kannst du mich davon auf meiner Reise begleiten.«

Nun brach erst der wahre Jubel bei Lilli los. Sie mußte das Zeitungsblatt herbeiholen, in dem der Märchenwettbewerb erschienen war, und da – da kam Lilli Liliput auf einen Gedanken, der ihrem Herzen alle Ehre machte.

»Vater, dürfte ich wohl hundert Mark für die armen vaterlosen Kinder im Kohlengebiet geben? Denn eigentlich sind die doch die Ursache gewesen, daß ich überhaupt das Ausschreiben gelesen habe.«

Gern gaben die Eltern ihre Einwilligung.

»Hab' ich gewuust, daß du wirrst werrden grroßes Dichter! Nun müssen du schrreiben immerr mehrr – immerr mehrr,« rief Sonja begeistert.

»Ei, das wollen wir vorläufig lieber bleiben lassen,« entgegnete der verständige Vater. »Lilli ist noch ein Schulmädel, das seine Gedanken auf seine Arbeit zu richten hat. Durch frühzeitiges Schreiben wird sie nur von ihrer Pflicht abgelenkt. Willst du deine Geschichten für dich selbst aufzeichnen, Kind, so ist das eine gute Stilübung; aber einer Redaktion wird vorläufig nichts mehr eingeschickt – verstanden?« Und Mutter setzte mit bedeutungsvollem Lächeln hinzu: »Damit die Osterzensur besser ausfällt als die zu Weihnachten.«

Dieser kleine Dämpfer auf Lillis stolze Freude war durchaus angebracht, denn Großmama, die Tanten und Onkel und vor allem die Freundinnen machten die junge Preisgekrönte mit ihrer Bewunderung ungeheuer eitel. Onkel Martin brachte ihr sogar einen Lorbeerkranz.

So schnurrte das alte, für Lilli Liliputs Zukunft so bedeutungsvolle Jahr ab, und der liebe Herrgott steckte eine neue Spule auf die Zeitenwinde. Ahnte niemand an jenem sonnigen Neujahrsmorgen, daß die gleichmäßigen Fäden des kommenden Jahres sich zu einem wüsten Knäuel verwirren würden, das Jammer und Elend über die ganze Menschheit bringen sollte?


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