Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Winterlust

Ein scharfer, bitterkalter Winter war ins Land gezogen. Die Eiszapfen an der Dachrinne tauten nicht ab. In Berlin, wo die hohen Häuser einander wärmten und Schutz gegen den schneidenden Ostwind boten, ließ sich die Kälte eher ertragen. Aber draußen in Schlachtensee heulte der Sturm mit ungeschwächten Lungen über verschneite Wiesen und den spiegelblanken See. Wer nicht auf die Straße mußte, blieb daheim am warmen Ofen.

Nur der Jugend war es einerlei, wieviel Grad unter dem Gefrierpunkt das Thermometer zeigte. Die schlug lachend dem eisigen Regiment des Winters ein Schnippchen. Je toller, je schöner! Ob man auch fußhoch im Schnee watete, was tat's! Um so tadelloser wurde ja die Rodelbahn zum See hinab.

Die Schularbeiten kamen jetzt erst bei einbrechender Dunkelheit zu ihrem Recht. Den Sportschlitten hinter sich oder die Schlittschuhe am Arm, so zogen Oberlehrers fünf, übermütige Jugendlust in den blitzenden Augen, hinaus in die weiße Winterwelt. Das wußte nichts von Kälte und Sturm; das tummelte sich jubelnd, bis die Wangen so rot waren wie die Näschen.

Der stumme, erstarrte Wald, in dem sich während der Morgenstunden nur das Krächzen frierender Krähen vernehmen ließ, war jetzt belebt. Rote, weiße und grüne Kobolde trieben darin lachend und rufend ihr Wesen.

»Juchhu« – flog ein Schlitten den Berg herunter, »juchhu« – folgte schon der nächste, und »juchhu« – da lag die ganze Gesellschaft im Schnee. Aber der war weich, und nur um so ausgelassener erklang das Jauchzen der jungen Schar.

»Schade, daß wir keinen Bobschlitten haben,« rief ein grüner Kobold, der auf den Namen Ilse hörte.

»Wir bauen einfach einen,« tönte es von einem roten Waldkobold zurück; unter der leuchtenden Wollmütze lugte Lillis Schelmengesicht hervor.

Ilse Gerhard traf jeden Nachmittag mit den Steffenschen Kindern beim Sport zusammen. Sie war vor einem Jahr in den Weihnachtsferien von ihrem Papa nach Oberhof mitgenommen worden und kannte daher den »Rummel«, wie Ludwig sich auszudrücken beliebte, ganz genau. Sogar die arme Miß war von der übermütigen Lilli dazu gebracht worden, einen Rodelschlitten zu besteigen; aber nachdem sie beim ersten Male gleich die nähere Bekanntschaft des Schnees gemacht hatte, zog sie es vor, Ilse nur abzuholen.

Ludwig war sofort bei der Hand, den Gedanken seiner Zwillingsschwester in die Tat umzusetzen. Geschickt koppelte er mehrere kleine Sportschlitten aneinander, daß ein langes schmales Ding daraus entstand.

»Ein großartiger Bob,« lobte Ilse. »Wer übernimmt die Führung?«

»Immer der Mann!« Ludwig schlug sich selbstbewußt auf die Brust und saß bereits auf. »Jetzt du, Ilse! Margot kommt als kleinste in die Mitte neben Sonja; der fällt das Herz beim Herabsausen ja doch immer in die Strümpfe. Nun du, Iwan, hop! Lilli kann das Ende bilden; der macht es nichts, wenn sie auch in den Schnee kegelt.«

»Du mußt zählen ›Bob eins – Bob zwei‹, und bei ›Bob drei‹ geht es los,« belehrte Ilse ihren Vordermann.

»Bob eins –«

»Nicht so doll, Ludwig,« bat Margots ängstliches Stimmchen.

»Bob zwei –«

»Ich will herraus – wirr fürrchten sich!«

Nein, war die Sonja ein Hasenfuß!

»Bob drei!«

Unter lautem Gekreisch seiner Insassen glitt der seltsame Schlitten rasch und immer rascher talwärts.

»Bahn frei!« ertönte gellend Ludwigs Warnungsruf.

Ein weites Stück flog man über splitterndes Eis auf den See hinaus, mitten hinein in die Schlittschuhläufer.

»Das war fein« – tief aufatmend hielt der Führer an – »wir wollen gleich noch einmal bobbsen!«

»Njet – njet – nein, nein! Iech nicht fahrren wiederr das Bob!«

Sonja hatte noch jetzt Herzklopfen vor Angst.

»Warum hast du mich denn bloß so gekniffen? Ich habe gedacht, ein Krebs sitzt hinter mir,« lachte Ilse sie aus.

»Nurr ich habe gekneift, niicht zu fallen in Schnee,« entschuldigte sich Sonja.

Ludwig zählte nun die Häupter seiner Lieben.

»Herrjeh – Lilli ist ja nicht da! Ihr Schlitten muß sich abgekoppelt haben.«

Richtig, das wollige rote Ende fehlte!

Man äugte durch die schneeglitzernden Stämme den Berg hinauf. Kein feuerroter Kobold zu sehen! Wo war Lilli bloß?

Gleich im Anfang hatte sich die Schlinge gelöst, die sie an Iwans Schlitten band. Die fröhlichen Genossen sausten zu Tal; Lilli war plötzlich allein mitten in dem schlohweißen Winterwald. Sie stand und schaute mit großen Augen um sich.

Wald? O nein! Wer im Märchenland zuhause ist wie Lilli Liliput, der sieht, daß es eine gläserne Zauberstadt ist, die einen umschließt. Schimmernde Eistürmchen mit Schneewächten und Söllern krönen das vereiste Buschwerk, das drüben wie ein kristallenes Märchenschloß steht. Tausende von Diamanten und funkelnden Edelsteinen sind in den Schneeteppich gewebt. Schau – lugen dort nicht kleine Gnomen mit schneeiger Zipfelmütze aus Eishöhlen hervor? Und da, der große gewaltige Baum – ein Schneeriese ist es mit geschwungener Keule. Er bewacht die schöne Prinzessin Schneeflocke, die unter den weißen Spitzenschleiern der Kiefern schlummert.

Horch – was knistert dort im Gezweig? Meister Rauhreif – er ist bei der Arbeit; feinsten Silberfiligran schmiedet er um das Gewirr der Äste. Die gläserne Zauberstadt färbt sich allmählich purpurrot; der kupferne Sonnenball geht hinter dem See zur Rüste. Und immer noch steht das winzige Menschenkind in der erhabenen Einsamkeit des Winterreiches, schaut und lauscht und erlebt ein Märchen.

»Lilli – Liliput –« frische junge Stimmen klangen von unten herauf.

Lilli rieb sich die Augen. Versunken war die Zauberstadt, der Riese wieder eine ganz gewöhnliche verschneite Kiefer; kein Gnom ließ sich mehr blicken. Der Märchenspuk war zerflattert.

Juchhei – da flog auch Lilli auf ihrem Schlitten den Berg hinab zu den rufenden Gefährten. Keiner von ihnen ahnte, was sie inzwischen dort oben erlebt hatte.

»Nun wirr werrden laufen Eis,« schlug Iwan vor.

»Ne, mein Junge, heute nicht mehr! Vater wartet mit der Stunde auf euch; wir müssen nach Haus.«

Aber Iwan hatte sein Lebtag nicht gehorchen gelernt. Der dachte gar nicht daran, Lillis Worte zu befolgen. Zu den langweiligen Schulstunden kam er noch immer früh genug.

Ohne daß die anderen es merkten, mischte er sich in das Gewühl der Eisläufer, denn die Schlittschuhe waren für alle Fälle auch zum Rodeln mitgenommen worden.

Die anderen koppelten ihre Schlitten ab. Plötzlich sauste ein weißes Geschoß durch die Luft, gerade an die Nase der verständig zur Heimkehr mahnenden Lilli. Hui – ein zweites – ein drittes! Hüben und drüben flogen die Schneebälle. Eine übermütige Schlacht entspann sich noch zum Schluß, trotzdem die arme wartende Miß fast anfror.

»Das Schneeball iist fürr derr rrussischer Sardine!« Da stäubte eine weiße Wolke über Ilses Braunhaar.

»Lilli, das soll ein Kuß sein, wenn auch ein recht kühler!« Selbst die Herzensfreundinnen bombardierten sich jubelnd.

»Siehst du, Iwan, weil du dich heute wieder nicht ordentlich gewaschen hast! Jetzt wirst du wenigstens sauber werden.« Ludwigs Schneekugel durchsauste die Luft und traf an richtiger Stelle.

Als sie dann den Heimweg endlich antreten wollten, war Iwan plötzlich verschwunden. Keine Spur von dem Jungen, als habe der Eisspiegel ihn plötzlich verschluckt!

Pah – auf solche Witze fielen die Zwillinge nicht mehr rein. Sicher hatte er sich hinter irgend einen der überzuckerten Schneebüsche versteckt. Oder er hatte sich im Bogen durch den Wald gepirscht, um plötzlich mit lautem Geschrei wie ein Wegelagerer aus dem Hinterhalt hervorzubrechen und ihnen einen Schreck einzujagen.

Man schüttelte sich die Hände zum Abschied.

»Also morgen zum Eislauf auf dem Wannsee!«

Da lag der Wald wieder still und starr da, als hätten nie fröhliche Kobolde sein eisiges Schweigen belebt.

Hu, pfiff der Wind draußen auf der Landstraße! Zu Vieren eingehakt, um seinem wilden Atem Trotz zu bieten, stampften sie durch den Schnee.

»Wie schön, daß zu Hause heißer Kaffee und eine warme Stube auf uns warten,« sagte Lilli und kostete die Gemütlichkeit schon im voraus. »Denkt nur, wer heute kein Heim hat und auf der Straße bleiben muß!«

»Iich finden garr niicht kalt es; iich finden warrm es. Iist Winter in deutsche Land wie Sommerr in Rrußland,« sagte Sonja großsprecherisch.

»Schwindel!« Wie aus einem Munde riefen es die Zwillinge.

»Sein kein Schwindel,« beharrte Sonja, »frraggt Brruder Iwan!«

Herrjeh, der Iwan! Jetzt erst, da die Antwort auf Sonjas Frage ausblieb, kam es den vieren wieder zum Bewußtsein, daß der Junge sich ja noch nicht eingefunden hatte.

»Ob wir noch mal umkehren?« fragte Lilli ihren Zwillingsbruder; sie hatte eigentlich nun genug von der eisigen Kälte und freute sich auf die warme Stube zu Hause.

»Brruder Iwan sein wirrd gegangen zu Haus anderres Weg,« versetzte Sonja.

»Ja – ja, kommt nur!«

Klein Margot, die von einem Fuß auf den anderen tappelte, um nicht zu erstarren, versuchte die Großen mit fortzuziehen.

»Ne, die Sache ist mir zu brenzlig,« überlegte der bedächtige Ludwig. »Bei diesem durchtriebenen Strick muß man auf alles gefaßt sein. Geht ihr weiter nach Hause! Ich laufe noch mal schnell zu dem See zurück.«

»Nein, Ludwig, dann kehren wir alle um!« Die gute Schwester wollte es nicht besser haben, als ihr Zwilling.

»Vater wartet auf Sonja mit der Stunde; du hast doch die schwere französische Übersetzung zu machen, und unser Küken hier kann sich 'nen Schnuppen holen!«

Damit schnitt Ludwig alle uneigennützigen Einwendungen der Schwester ab.

»So gib mir wenigstens deine Schlittschuhe mit!« Irgend etwas Liebes mußte Lilli noch ihrem zweiten Ich antun, während sich seine langen Beine bereits wieder seewärts in Bewegung setzten.

»Na, warte, mein Jungchen, wenn ich den Weg umsonst machen muß und du dir etwa zu Hause inzwischen meinen heißen Kaffee schmecken läßt,« knurrte Ludwig in das Pfeifen des Nordosts hinein.

Als die drei Mädchen zu Hause anlangten, war Iwan noch nicht da. Keines von ihnen machte sich darüber Gedanken; Ludwig würde ihn schon heimbefördern.

Frau Doktor empfing die rotwangig und lachenden Auges heimkehrenden Mädel mit warmem Gruß, half ihnen eigenhändig beim Ablegen der Sachen und erwärmte Nesthäkchens klamme Finger zwischen den ihren. Anna erschien mit der dampfenden Kaffeekanne; selbst der Vater kam aus seinem Zimmer herbei, um sich an dem frischen, jungen Blut zu freuen. Da empfanden nicht nur die Steffenschen Kinder das Behagen eines solchen Heimkehrens. Auch Sonja konnte sich nicht dem Zauber des deutschen Familienlebens entziehen.

»Ludwig und Iwan kommen gleich nach,« hatte Lilli auf die Frage der Eltern geantwortet.

Das war ja keine Unwahrheit, und sie ersparte dem Kleinen, der sicher nur einen Spaß hatte machen wollen, dadurch Schelte. Ludwig würde ihm schon die Flötentöne beibringen; davon konnte Lilli überzeugt sein.

Aber »die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn«, besagt ein altes Sprichwort. Vergebens suchte Ludwig am Ufer des Schlachtensees und auf der noch immer befahrenen Rodelbahn nach dem kleinen Russen. Sollte der Strick etwa die edle Dreistigkeit gehabt haben, trotz Lillis Verbot noch Schlittschuh zu laufen?

»Na, freu' dir, mein Jungeken!« sagte Ludwig als echter Berliner.«

Scharf äugte Ludwig über die blanke, vom Wind gefegte Fläche. Es begann schon zu dunkeln; man unterschied nur noch die Umrisse der über das Eis Fliegenden gegen den weißen Schneehintergrund, der das Ufer umböschte.

Aber Ludwig hatte Augen, so scharf wie ein Luchs. Dort drüben am Badehäuschen der Knirps mit der großen Pelzmütze – natürlich, das war doch kein anderer als der Gesuchte!

»Na, freu' dir, mein Jungeken!« dachte Ludwig als echter Berliner, während er quer über den See auf die Pelzmütze zusteuerte.

Doch die blieb nicht an einem Ort. Jetzt war sie hier, jetzt dort, nun wieder am entgegengesetzten Ende des Sees. Hätte er der Lilli doch nur nicht seine Schlittschuhe mitgegeben! Es war keine Kleinigkeit, auf Stiefeln über das tückische blanke Eis zu laufen und noch dazu jemand auf Schlittschuhen zu erwischen.

Dreimal hatte der Gymnasiast bereits die Anziehungskraft der Erde kennen gelernt, was seine Laune und Iwans Aussichten nicht gerade verbesserte. Jetzt endlich war die große Pelzmütze nur noch etwa zehn Meter von ihm entfernt. Immer kleiner wurde der Zwischenraum, da Iwan, der trotz seiner Jugend ein vorzüglicher Schlittschuhläufer war, gerade einen Eistanz versuchte.

Schon streckte Ludwig den Arm aus, um den kleinen Durchgänger von hinten zu fassen. Da schlug dieser nichts ahnend einen Bogen und – heidi, weg war er.

»Iwan – Iwan – wirst du wohl sofort abschnallen!« Ludwig legte die Hände an den Mund und schrie es hinter dem Fortsausenden her.

Hatte der Schlingel wirklich nicht gehört, oder stellte er sich nur taub? Jedenfalls ließ er sich in keiner Weise in seinen Künsten stören.

»Iwan, du versäumst die Unterrichtstunde!«

Mit dem Nordost um die Wette strengte Ludwig seine Lungen an. Aber selbst wenn Iwan ihn verstanden hätte, wäre wohl nichts weniger geeignet gewesen, ihn zur Unterbrechung seines Vergnügens zu bewegen, als der Hinweis auf die wenig beliebte Schulstunde.

An das äußerste Ende des Sees hatte der Racker sich zurückgezogen, und wieder mußte der arme Ludwig auf Schusters Rappen hinterdrein. Die zunehmende Dunkelheit erschwerte die Verfolgung; kaum vermochte Ludwig noch die große Pelzmütze zu sichten.

Potz Donnerdoria – da lag er wieder! Schimpfend krabbelte sich Ludwig aus seinem feuchtkalten Lager empor. Als er sich den Schnee aus den Augen gerieben hatte und aufs neue Umschau hielt, entdeckte er plötzlich Iwan mit hohnlachendem Gesicht in unmittelbarer Nähe.

»Iwan, du schnallst augenblicklich ab, sonst kannst du dich auf mächtige Haue gefaßt machen,« befahl Ludwig ihm aufgebracht.

Statt der Aufforderung Folge zu leisten, drehte der Schlingel ihm gemütlich eine lange Nase.

»Na, dich werd' ich!«

Mit einer unvorhergesehenen Wendung wollte Ludwig den Frechdachs packen. Aber – ein einziger Bogen hatte ihn bereits aus greifbarer Nähe gebracht.

Eine wilde Jagd begann jetzt. Iwan quiekte und johlte vor Vergnügen, während der atemlose Ludwig vergeblich hinter ihm her jagte. Dabei hatte der kleine Strick noch die Unverfrorenheit, seinen Vorsprung immer wieder zu Eiskünsten zu benutzen. Kam Ludwig endlich herangeschnauft, war er auf und davon.

Das hätte so in aller Gemütsruhe wohl noch stundenlang fortgehen können. Aber es gab eine ausgleichende Gerechtigkeit.

Die Eisbahn hatte sich geleert. Schwarz kroch der Winterabend über die mit dem Horizont verschwimmende Fläche.

Gerade als Iwan lachend aus angemessener Entfernung beteuerte: »Iist sich wuunderrvoll heit; ich mich haben amisiert niemals so gutt,« geriet er mit dem rechten Fuß in ein Eisloch. Vergebens versuchte er, sich schnell wieder aufzurichten. Sein Verfolger hatte die günstige Gelegenheit und ihn selbst bereits am Schopf.

Zwei kunstgerechte Maulschellen brannten auf den ohnedies schon glühenden Wangen des kleinen Sünders. »Dich werde ich Mores lehren! Willst du wohl jetzt sofort aufstehen?«

»Niicht kennen iich – haben gebrrecht Bein!« heulte Iwan wie toll und sielte sich dazu ungebärdig im Schnee.

»Auf deine Flunkereien fall' ich nicht 'rein! Auf – oder es setzt nochmal Kloppe!« Der sonst so gemütliche Ludwig war geladen.

»Iich doch nicht kennen – gebrrecht Bein – wahrr- und wahrrhaftick,« beteuerte immer wieder der heulende kleine Russe.

»Dich durchschaue ich! Du lügst mir den Buckel voll und lachst dir hinterdrein ins Fäustchen.«

Trotzdem Ludwig davon überzeugt war, daß Iwan sich nur verstellte, mußte er sich aber doch, um endlich heimzukommen, dazu herbeilassen, ihm eigenhändig aufzuhelfen. Bei der geringsten Berührung des rechten Knöchels winselte jedoch Iwan wie ein junger Teckel.

Hatte er am Ende sich wirklich etwas getan? Log er ausnahmsweise mal nicht?

Ludwig setzte den Kleinen auf seinen Sportschlitten und zog ihn so zum Ufer, alle paar Sekunden mißtrauisch rückwärts äugend, ob sein Gefangener nicht plötzlich Fersengeld gab und auskniff.

Ach, dem kleinen Russen waren seine Fluchtgelüste gründlich vergangen! Er hatte tatsächlich heftige Schmerzen. Als das Ufer erreicht und die Schlittschuhe abgeschnallt waren, vermochte er den Fuß nicht aufzusetzen. Ludwig mußte sich zu all dem Ärger und der Anstrengung auch noch dazu bequemen, sich als Zugtier vor den Schlitten zu spannen und Iwan nach Haus zu ziehen. Was mochte man dort über ihr langes Ausbleiben denken?

Längst hatte Sonjas Unterrichtstunde begonnen. Unzufrieden blickte Doktor Steffen immer wieder nach der Uhr über dem Schreibtisch und verglich sie mit seiner Taschenuhr. Sechs Schläge hatte sie soeben vernehmen lassen. Unerhört, daß die Jungen noch immer nicht zu Hause waren! Iwan versuchte ja öfters mal die Schulstunde zu schwänzen; aber daß sein gewissenhafter Großer das zuließ, verstand er einfach nicht. Ludwig selbst hatte auch sicher noch Aufgaben zu erledigen.

Auf Doktor Steffens erneutes Forschen hatte Sonja die Auskunft gegeben: »Warr sich pletzlich verrschwunden, Brrudder Iwan. Sein Ludwig gegangen zurick, ihm zu hollen.«

So, nun wurde dem Oberlehrer die Sache klar. Wer weiß, wo der kleine Tunichtgut sich versteckt hatte! Aber die versäumte Schulstunde hatte er nachzuarbeiten, und wenn es zehn Uhr werden sollte. Darin verstand Doktor Steffen keinen Spaß.

Sonja gab sich indessen redlich Mühe, durch doppelte Aufmerksamkeit die Ungezogenheit ihres kleinen Bruders gutzumachen. Zudem: wenn das Auge hell ist und der Kopf klar von der reinen Winterluft, arbeitet es sich noch einmal so gut.

Auch im Mansardenstübchen wurde mit lebhaftem Eifer gelernt und geschrieben. Lilli schwitzte über einer besonders schweren französischen Übung. Die eine Stelle wollte und wollte sich nicht übersetzen lassen.

Da trat Sonja, die bereits mit der Unterrichtstunde fertig war, ins Zimmer, um ihre Violine zum Üben zu holen. Sie war eine gute Geigerin. Während Lilli immer nur seufzend ans Klavier heranging, war das Üben für die kleine Russin eine Freude. Und das merkwürdigste dabei war das eckige, unschöne Gesicht bekam einen innigen Ausdruck, ja, sah geradezu hübsch aus, wenn Sonja den Bogen führte. Hätte Lilli nicht schon gewußt, daß auch weiche Gefühle in der sich so schroff zeigenden jungen Petersburgerin lebten, dies Geigenspiel hätte es ihr verraten.

»Sonja« – niemals hatte Lilli den Eintritt der Gefährtin freudiger begrüßt als augenblicklich – »du bist meine Retterin in der Not. Komm, bitte, her und übersetze mir die Stelle!«

Die russischen Kinder sprachen ein vorzügliches Französisch, wie es bei Russen oft der Fall ist. Mit Leichtigkeit half Sonja der schiffbrüchigen Lilli über die Klippe hinweg.

»Sehen du,« sagte sie, als die Blondzöpfige ihr dankbar über den dunklen Schopf fuhr, »sein rruussischer Sarrdine doch gutt zu was!«

»Pfui, Sonja, du hast mir versprochen, nicht mehr daran zu denken! Ilse tut der häßliche Name auch sehr leid. Wenn du es nicht vergessen kannst ...«

»Ilse Gerrharrdt mir haben gebetet pardon; darrum iich werrden gehen zu sie zu Krränzchen!«

Im Grunde war die kleine Russin freilich sehr froh, daß sie nicht mehr auf Ilse böse zu sein brauchte und zum Kränzchen zugezogen wurde.

Vergeblich hatte Lilli bisher nach dem Nebenzimmer auf die Tritte ihres Zwillingsbruders gelauscht.

»Sag, Sonja, sind Ludwig und Iwan denn noch immer nicht da?«

»Sein gekommt eben. Ludwig haben gebrringt Brruder Iwan auf Schlitten. Iist sich gelauft Eis – hat sich vergestaucht Fuß.«

»O weh, den Fuß hat sich Iwan verstaucht? Armes Kerlchen! Aber das ist die Strafe, weil er ungehorsam gewesen ist,« erklärte Lilli halb mitleidig, halb empört; dabei ahnte sie noch nicht mal, wie man ihrem geliebten Zwillingsbruder mitgespielt hatte.

»Hat gesaggt auch Herr Doktorr, will niicht strrafen Brruder Iwan, weil haben gestrrafen lieber Gott ihm selberr,« berichtete Sonja.

Ja, Iwan sollte noch lange an seinen Ungehorsam denken. Wochenlang mußte er mit schmerzendem Fuß still liegen. Das war ein schweres Stück für den wilden Jungen, besonders bei dem herrlichen Frostwetter, während die anderen Kinder sich beim Wintersport vergnügten. Wie schön mußte es jetzt auf dem Wannsee sein!

*

Tiefblauer Frosthimmel stülpte sich wie eine Kristallglocke über den See. Der bot ein buntes, farbenfreudiges Bild. Fröhliche Gestalten wiegten sich in anmutigen Bewegungen auf seinem harten Spiegel, glitten pfeilschnell auf blitzblankem Eisen dahin und drehten sich in kunstvollen Tänzen. Dazwischen sah man Stuhlschlitten mit frierenden Kleinen, die von den großen Geschwistern geschoben wurden und trotz der schneidenden Kälte nicht heim wollten. Das Schönste aber waren die Segelschlitten. Hei, wie der Wind die weißen Segel blähte und die schmalen Nußschalen in rasender Fahrt über den See trieb! Ein schneeglitzernder Uferrahmen schloß das lachende Bild ein. Aus reifbehangenem Buschwerk lugten ringsum die Villen; ihre Fenster flammten und brannten im Strahl der scheidenden Sonne. Geisterhaft tauchte jenseits des Waldes schon die bleiche Mondsichel auf.

Rosige Mädelchen, denen die Freude am Dasein aus den Augen blitzte, glitten, die Hände zur festen Kette geschlungen, in zierlichen Bogen über den See. Es waren die drei Freundinnen. Bald lief man Omnibus oder vielmehr Omnibum, wie es in der Mädelsprache hieß, bald Achten, Dreien, Schlange, Windmühle, ja sogar Praline!

Die große Schwarze mit der Pelzmütze auf dem kurzen Haar zog durch ihr vorzügliches Laufen manchen Blick auf sich. Sonja Pietrowicz war gleich ihrem Bruder auf dem Eis daheim wie der Fisch im Wasser; sie lief so sicher und geschmeidig, daß die anderen ihr neidlos den ersten Preis zuerkannten.

»Iist keine Wunder, wenn ich laufen gutt; iich bin gekommt schon auf das Welt mit Schlittschuhe,« erklärte Sonja erfreut über das begeisterte Lob der drei.

Plötzlich rief Ilse Gerhard jubelnd: »Papa – da ist Papa,« und lief mit einem möglichst tadellosen Bogen auf das Ufer zu, an dem ein Herr im kostbaren Pelz lächelnd zu den dreien herüberwinkte.

Bums – tadellos lag das junge Fräulein im Schnee an der Uferböschung; es war so erfreut über das Erscheinen des Vaters gewesen, daß nicht nur die Hände, sondern auch die Füße grüßend in die Luft flogen.

Die Freundinnen, die ebenfalls auf das Ufer zu liefen, knicksten höflich vor dem Bankdirektor. Bums – da versank auch Lilli wie auf Befehl in die Unterwelt. Nur eine hohe Säule, Sonja Pietrowicz, ragte noch empor.

Ilses Vater lachte herzlich über die fußfällige Begrüßung der Mädel.

»Hättet ihr wohl Lust, noch vor Dunkelheit eine kleine Segelschlittenfahrt zu unternehmen, Kinder?«

Heller dreistimmiger Jubel war die einzige Antwort.

Der Bankdirektor verhandelte mit einem Mann, und ehe die drei wußten, wie ihnen geschah, saßen sie selbst in einer solchen schmalen Nußschale, die sie bisher nur mit unerreichbarer Sehnsucht betrachtet hatten.

Hallo, da flogen sie schon wie ein Riesenvogel durch die Luft. Ilse verging Hören und Sehen; Sonja kreischte und hielt ihre Hand fest in die Lillis gekrallt. Diese aber hatte nur den einen Gedanken: »Schade, daß mein Ludwig gerade heute nicht dabei ist!«

Das war ein herrlicher Nachmittag! Und die bewundernden, teilweise sogar etwas neidischen Blicke der übrigen Mädel und Jungen, die erstaunt im Laufen innehielten und den drei Glücklichen andachtvoll nachschauten, waren eine durchaus nicht zu verachtende Zugabe.

Aber alles hat einmal ein Ende – leider auch das schönste Vergnügen! Aus dem Walde kam die Dämmerung mit grauen Flügeln geflattert und breitete ihre farblosen Netze über das bunte Treiben auf dem Eis. Das frohe Lachen, die jubelnden Stimmen ließ sie verstummen. Nur die hellen Fensteraugen der Villen blitzten noch über den vereinsamten See.


 << zurück weiter >>