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Der deutsche Aufsatz

Es herrschte große Aufregung während der Neunuhrpause in der III&nbsp;M. In der nächsten Stunde sollten die deutschen häuslichen Aufsätze zurückgegeben werden.

»Ein schöner Herbsttag« hieß das Thema. Jede hatte versucht, ihr Bestes zu leisten, und erwartete nun mit Spannung das Ergebnis. Aber Professor Heinze war ein strenger Herr, der sich nicht so leicht zufriedenstellen ließ.

Da trat er bereits in die Klasse, unter dem Arm den großen Pack Mädchenweisheit.

Die Schülerinnen erhoben sich von ihren Plätzen. Ein Stoßgebet rang sich aus manchem Herzen, denn es war der letzte Aufsatz vor der Versetzung und daher wichtig für das Oktoberzeugnis.

Auch Lilli war aufgeregt. Zwar pflegte sie immer gute Aufsätze zu schreiben, aber ob er auch diesmal Professor Heinze gefallen würde? Freilich, mit besonderer Liebe hatte sie ihn ausgearbeitet; das Thema verlockte so zum Träumen, und das tat sie ja mehr als gern.

Zuerst kamen die schlechten, die Dreier, an die Reihe. Das war ein umfangreicher Stoß, den der Lehrer da durchzusprechen hatte. Ungeschickte grammatikalische Wendungen, trockene Sätze ohne jede Ausschmückung und Beiworte, nüchterne Aufzählung von Begebenheiten, ja sogar orthographische Fehler liefen in der III&nbsp;M noch unter.

Hier und da sah man ein Taschentuch auf der Bildfläche erscheinen; dahinter barg sich ein weinendes Mädchengesicht. Manches Schicksal des Nichtversetztwerdens hatte der Aufsatz besiegelt.

Die Zweier und Eins-bis-Zwei wickelten sich schon schneller ab. Hin und wieder ein Wort der Anerkennung, der Aufmunterung und glänzende junge Augen als Antwort.

Lilli wartete noch immer. In begreiflicher Aufregung versuchte sie, ihr Heft zu erspähen. Aber die Deckel trugen alle dieselbe blaue Uniform wie Soldaten. Lilli mußte sich gedulden.

Alle ihre Freundinnen hatten ihr Heft schon vor sich liegen, und das ihre stand noch immer aus. Jetzt war auch der Stoß der Eins-bis-Zwei zu Ende. Ein einziges Heft harrte noch der Erledigung. Das mußte das ihre sein. War dies nun ein gutes Zeichen oder ein schlimmes? Manchmal behielt Professor Heinze die beste, oft aber auch die schlechteste Arbeit bis zum Schluß zurück. Lilli wagte in ihrer Bescheidenheit nur das letztere anzunehmen.

Wie ein Sünder, der seinen Richtspruch erwartet, saß sie auf ihrem Platz. Jetzt griff die Hand des Lehrers nach dem letzten Heft. Ach, wie langsam ging das, bis er es aufgeschlagen hatte! Nun blätterte er darin, sagte aber noch immer nichts. Die arme Lilli stand Folterqualen aus.

»Lilli Steffen!«

Lilli schnellte von ihrem Sitz; sie war ganz blaß.

»Eine hübsche Arbeit – wenigstens doch eine in der ganzen Klasse, die Phantasie besitzt – ganz allerliebst geschildert – Nummer Eins!« Damit überreichte ihr der gestrenge Herr Professor, der selten ganz zufrieden war, das Heft.

Lillis Braunaugen strahlten. Sie wäre am liebsten dem Herrn Professor in ihrer Glückseligkeit um den Hals gefallen. Aber da sich das nicht geschickt hätte, so kniff sie wenigstens statt dessen ihre Freundin Lena, die neben ihr sitzende Zweite, liebevoll in den Arm. Irgendwie mußte sich der innere Jubel Luft machen. Ob Lena von dieser Freudenäußerung sehr begeistert war, wollen wir dahingestellt sein lassen. Aber sie war bei Lilli derartige Freundschaftsbezeigungen schon gewöhnt.

Stolzer ging heute keine aus der Schule als Lilli Liliput. Wenn sie nur Vater und Ludwig auf dem Bahnhof treffen würde! Sie konnte es gar nicht erwarten, das Aufsatzergebnis zu berichten; selbst das fremde braunlockige Mädchen verlor dagegen an Wichtigkeit. Lilli spähte nur nach Vaters grauem Hut und Ludwigs blauer Mütze.

Vergeblich! Bald mußte der Zug abgehen; wo steckten sie denn so lange?

Richtig – es war ja heute Dienstag, an dem Nachmittagsunterricht stattfand; da blieben sie zu Tisch stets in Berlin bei Großmama. Das hatte sie in ihrer Freude ganz vergessen. Was hätte Mutter bloß dazu gesagt, daß ihr Töchterchen die Gedanken so wenig sammeln konnte!

Ach, Mutti – wie würde die sich über ihren Aufsatz freuen! Lillis Denken flog jetzt der ratternden Eisenschlange voraus zu dem weißen weinumrankten Häuschen. Da wartete seit morgens um neun Uhr sicherlich schon Klein-Margot neben Schnauzel an der Gartentür sehnsüchtig auf die Heimkehr der großen Schwester. Stundenlang stand die Kleine getreulich wie eine Schildwache dort, bis endlich Lillis Blondkopf an der Straßenecke auftauchte.

Auch heute flog Margot ihrer Lilli mit hellem Jauchzer entgegen, daß ihre krausen blonden Löckchen lustig im Winde wehten; Schnauzel galoppierte kläffend hinterdrein. Aber Lilli hatte heute keine Zeit, wie sonst auf die Erzählungen der Kleinen einzugehen. Es drängte sie, zur Mutter zu kommen. Auf Klein-Margots eifrigen Bericht über Puppe Kornelias Eigensinn hatte sie nur ein »Denk mal, ich habe 'ne Eins im Aufsatz!« zur Antwort. Aber diese Mitteilung hatte für die Kleine noch weniger Interesse als Kornelias Eigensinn für Lilli. So verstanden sich die Schwestern diesmal nicht so gut wie sonst.

Mutter stand im Schrankzimmer und plättete. Ihr Gesicht glühte vor Arbeitseifer mit dem Bolzen in ihrem Eisen um die Wette, denn ihre drei Sprößlinge konnten schon einen beträchtlichen Stoß Wäsche gebrauchen.

»Muttchen,« begann Lilli und machte eine kleine Pause, um die Wirkung ihrer Worte zu erhöhen, »ich habe – – –«

»Ach, Lilli, gut, daß du da bist! Du kannst gleich mal den Tisch decken; Minna ist noch mit dem letzten Korb Wäsche beim Rollen. Mach schnell, Kind!«

»Muttchen, ich habe – – –« versuchte Lilli ihre große Überraschung trotzdem noch einmal anzubringen.

»Das erzählst du mir alles nachher bei Tisch, mein Mädel; jetzt haben wir alle beide Wichtigeres zu tun.« Damit bearbeitete Mutter kräftig ein Paar Kinderhöschen.

Lilli ging langsam in die Küche. Das noch eben so freudig schlagende Herz war ihr plötzlich schwer. Schwer und traurig! Daß Mutter auch ein Paar Kinderhosen für wichtiger erachten konnte als ihren Aufsatz! Ein Ausspruch Vaters fiel ihr ein, den sie eigentlich damals nur halb verstanden hatte: »Die Prosa des Lebens entweiht oft die höchsten Augenblicke.« Jetzt glaubte sie, dieses Wort zu verstehen.

In solchem Sinnen ging Lilli von der Küche zur Veranda ab und zu, deckte den Tisch und achtete kaum auf Klein-Margot, die ihr Löffel und Gläseruntersätze diensteifrig abnahm und so gern helfen wollte.

»Wir haben heute kalte Vanillesuppe, Lilli; du kannst die Suppenterrine gleich auf den Tisch stellen,« rief die Mutter aus der Plättstube. »Gib auch Schnauzel Milch und Semmel; um den armen Schlingel hat sich heute noch niemand gekümmert.«

Da stand Schnauzel vor der leeren Suppenterrine.

Lilli tat, wie geheißen, aber ihre Gedanken waren nicht bei der Arbeit. Selbst Schnauzels freudiges Bellen entriß sie nicht ihrer trüben Überlegung über die Unvollkommenheit der Welt.

»Na, mein Mädel, hast du auch nichts vergessen?« Damit trat Mutter prüfend an den gedeckten Tisch.

»Aber, Lilli, ums Himmels willen, sollen wir heute aus der Hundeschüssel essen?« Mutter lachte hellauf und wies auf Schnauzels braunen Napf, der mitten auf dem gedeckten Esstisch prangte.

Lilli wandte sich erschreckt zur Verandaecke. Da stand Schnauzel vor der leeren Suppenterrine und leckte sich das Maul nach der guten Vanillesuppe. Bis zum letzten Tropfen hatte er sich das leckere Mahl schmecken lassen.

»Muttchen, der Schnauzel – sieh nur,« stieß Lilli hervor und wußte nicht, sollte sie lachen oder weinen.

Mutters Gesicht war aber recht ernst geworden.

»Schnauzel kann nichts dafür; der ist ein unvernünftiges Tier. Du aber bist ein denkender Mensch, Lilli, und mußt wissen, was du tust. Wie oft habe ich dir gesagt, man soll zu jeder Arbeit, auch zu der geringfügigsten, seine Gedanken beisammen haben! Ich bin recht unzufrieden mit dir!«

Lillis braune Augen begannen zu tropfen. Das kam bei ihrem sonnigen Wesen nur selten vor. Aber der Sturz von der stolzen Höhe einer Aufsatzeins zum gescholtenen Haustöchterchen war auch zu jäh.

»Gibt's nun keine Vanillesuppe?« Margot, die solche süße Suppe besonders liebte, verzog weinerlich den Mund und begann ebenfalls zu heulen.

Als Frau Mieze den aus verschiedenen Gefühlen herstammenden Jammer ihrer beiden Töchter sah und nur Schnauzel, fröhlich mit dem Schwanz wedelnd, zwischen den beiden, bekam das Drollige der Lage wieder bei ihr die Oberhand.

Den Hundenapf vom Tische nehmend, sagte sie lächelnd: »Lilli müßte jetzt eigentlich zur Strafe Schnauzels Futter auslöffeln.«

Da zog es auch über Lillis Gesicht wie der erste Sonnenstrahl nach kurzem Regenschauer. Sie lachte, während noch glänzende Tropfen an ihren Wimpern hingen.

Nur Klein-Margot schlang zärtlich die Arme um die große Schwester und wehrte: »Nein, meine Lilli soll nicht aus dem ollen Hundenapf futtern!«

Darauf lachten Mutter und Lilli noch viel mehr, und der schwarze Gedanke, der sich noch vor ganz kurzer Zeit in das Herz der Zurechtgewiesenen eingeschlichen hatte: »Nun sage ich Mutter überhaupt nichts von meiner Eins im Aufsatz!« huschte vor so viel heller Fröhlichkeit schleunig davon.

Lilli schmiegte den Blondkopf an Mutters dunkles Haar und flüsterte: »Nicht mehr böse sein, Mutterchen, bitte!«

»Nun sage mir nur, Kind, woran hast du eigentlich gedacht, als du den Tisch decktest?«

Lilli biß verlegen auf einen ihrer langen Blondzöpfe.

»Ich – ich habe eine Eins im Aufsatz – den allerbesten Aufsatz habe ich geschrieben! Professor Heinze hat mich gelobt, und das wollte ich dir so gern gleich erzählen, und da – – –«

Sie stockte. Unmöglich konnte sie doch sagen, wie Muttchen sie enttäuscht hatte.

Aber Mutter verstand auch ohne Worte. Eine Mutter weiß ja meistens besser, was im Herzen ihres Kindes vorgeht, als dieses selbst. Sie hob Lillis erglühendes Gesicht zu sich empor und sah ihr in die Augen.

»Und da warst du traurig oder vielleicht auch gar ärgerlich, daß ich dich auf nachher vertröstete? Siehst du, Kind, hättest du gern und fröhlich die dir aufgetragene Arbeit vollführt in dem Gedanken, was du noch für eine gute Botschaft für mich in Bereitschaft hast, dann hätte auch ich mich jetzt uneingeschränkt über deine gute Aufsatznummer freuen können. So kann ich es nicht, denn ich halte es für genau so wichtig, daß du in den Arbeiten des täglichen Lebens geordnet und zuverlässig bist wie in deinen Schulaufgaben.«

So sprach die Mutter lieb und eindringlich, und Lilli fühlte, wie recht sie mit ihren Worten hatte. Nein, ganz bestimmt, sie wollte nichts mehr gedankenlos tun! Ein inniger Kuß besiegelte diese Vornahme.

Aber als Vater mit Ludwig gegen Abend heimkam und ersterer sich ihr Aufsatzheft mit in seine Studierstube nahm, als er es ihr etwas später mit einem liebevollen: »Brav, mein Mädchen!« zurückgab, da wuchs ihr arg zusammengeschmolzener Stolz wieder wohltuend.

Von der Hundenapfgeschichte verlautete nichts. Mutter war so gut, Stillschweigen darüber zu bewahren, um ihre Lilli nicht den Neckereien der männlichen Familienmitglieder preiszugeben.

Aber abends vor dem Schlafengehen zog Lilli den Bruder mit in ihr Stübchen. Sie brachte es nicht fertig, mit einem Geheimnis vor ihm schlafen zu gehen. Auf Großmamas altem Ledersofa kauerte jedes in seiner Ecke. Durch das unverhangene Fenster fielen matte Mondstrahlen.

Da erzählte Lilli ein wenig kleinlaut von ihren Heldentaten, und Ludwigs frisches Jungenlachen über Schnauzels feines Mittagsmahl klang so ansteckend, daß Lilli mit ihm um die Wette lachte. Sie quiekten förmlich beide vor Ausgelassenheit. Drunten im Wohnzimmer hoben die Eltern den Kopf.

»Nein, was die Krabben noch angeben,« schmunzelte der Vater.

Auch Frau Mieze schmunzelte. Sie konnte sich den Grund der Heiterkeit ihrer Zwillinge erklären.

»Und du bist mir nicht mehr böse, Liliputchen« – Ludwig gebrauchte trotz der Schwester Widerspruch doch manchmal dir Koseform – »daß ich mich heute früh mit deinem Märchenerzählen verplappert habe?« Das lag ihm noch schwer auf der Seele.

»I wo! Es ist ja auch nichts Unrechtes dabei; Vater und Mutter können es ruhig wissen. Nur finde ich: es ist nicht mehr so märchenhaft, so geheimnisvoll, wenn man davon spricht.«

Sie sah mit großen Augen in die blasse Mondlichtwelle, die zum Fenster hereinflutete. Märchenaugenmachen nannte das der Bruder.

»Dann erzählst du nur auch, was du heute morgen in der Bahn für ein Märchen geträumt hast, ja?« bat Ludwig.

Lilli nickte. Mit leiser Stimme begann sie von der schönen Fee zu erzählen, die zur Erde herniederschwebt, von ihrer Spule die Glücksfäden in die Welt der Menschen entflattern läßt, und daß die dummen Menschen diese Fäden Sommerfäden nennen, ohne zu ahnen, welche Feenkraft ihnen innewohnt. Noch leiser wurde Lillis Stimme, als sie jetzt von den Freundschaftsbündnissen berichtete, die solch ein Zauberfädchen zwischen den Menschen knüpft.

»Siehst du, mich hat es bestimmt mit dem braunhaarigen Mädchen im weißen Matrosenkleid verbunden! Paß auf, wir werden Freundinnen,« schloß sie.

»Quatsch,« erwiderte der Bruder und machte ganz prosaisch der Märchenstimmung ein Ende, »du kennst sie doch überhaupt nicht. Daß dir der Sommerfaden Glück gebracht hat, ist immerhin möglich. Du hast ja heute eine Eins im Aufsatz bekommen. Aber das andere ist Mumpitz! Gute Nacht, Liliputchen!«

Mit herzlichem Händedruck suchte Ludwig das nebenliegende Zimmer auf. Lilli aber schüttelte den Kopf. Nein, so was konnte man nicht einfach mit Tertianerweisheit abtun; das mußte man fühlen. Und sie fühlte es! Tief im Innern sagte ihr eine Stimme, daß der Sommerfaden ihr mehr bringen würde als die Eins im Aufsatz.

Nachdenklich trat sie zum Fenster und blickte über die schlafenden Gärten zu dem fast vollen Silberkreis des Mondes empor. Was meinte der wohl dazu?

Der Mond grinste. Tatsächlich, er grinste über das ganze breite Gesicht! Aber nicht freundlich-wohlwollend, sondern spöttisch, als wolle er sie auslachen, daß solch dummes Menschenkind sich ins Märchenland hineinwagte.

Da zog Lilli schnell den Vorhang zu und sagte laut mit trotzigem Auftreten: »Nun grade!«


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