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Hurra – sie sind da!

Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr vergingen im Umsehen. Vor lauter Kramen, Aus- und Einräumen fand Lilli kaum Zeit, Ilse aufzusuchen und ihr von der ihrem Hause bevorstehenden Veränderung Mitteilung zu machen. Dazu mußte ein Spaziergang mit Ludwig und Margot bis zu der Villa am Wannsee ausgedehnt werden.

Lilli hatte Glück. Ilse stand gerade am Fenster des Erkers und schaute hinaus. Jubelnd sprang sie zu der Freundin hinunter. Es half nichts, sie mußten alle drei mit hinauf und sich Ilses Weihnachtsbaum und Geschenktafel ansehen. Oberlehrers drei rissen Mund und Nase auf über die wunderbaren Gaben. Aber auch Lilli hatte für ihre Ilse etwas in der Tasche: das noch ausstehende Freundschaftszeichen, ein winziger Anhänger in Kleeblattform an grünem Bändchen. Das gleiche war Lena zugedacht.

»Wir sind jetzt ein richtiges Kleeblatt – drei Freundinnen,« sagte Ilse fröhlich und steckte Lilli als Gegengabe ein allerliebstes Ringlein mit einem Vergißmeinnicht und einem winzigen Herzchen an den Finger.

Lilli war selig. Einen Ring hatte sie sich schon lange gewünscht, und nun noch sogar ein Freundschaftsring!

»Ich habe einen feinen Gedanken, Lilli,« begann Ilse, während Margot das Puppenbaby, das eine ganze Aussteuer besaß, in den Armen wiegte, und Ludwig eines der Geschichtenbücher in aller Eile verschlang. »Wollen wir drei, Lena, du und ich, ein Kränzchen machen?«

»Fein,« schrie Lilli, setzte aber gleich kleinlaut hinzu: »Du, ob Lena sich daran beteiligen darf, ist zweifelhaft.«

»Und Sonja?« fragte Ludwig, bei dem lebhaften Ausruf seiner Zwillingsschwester von der Erzählung aufsehend.

»Sonja?« fragte Ilse ahnungslos.

Richtig – das war ja der Hauptgrund ihres Hierseins! Über all dem Neuen und Schönen, das sie hier zu sehen bekamen, hatte Lilli ihre wichtige Mitteilung völlig vergessen. Jetzt aber wirbelte sie damit hervor.

»Du, Ilse, wir bekommen übermorgen Pensionäre – richtige Russen! Das Mädel zwölf Jahre – ein greuliches Ding, sage ich dir – und der Junge ist ein Dämelsack. Sonja und Iwan heißen sie, und reden tun sie zum Quieken; aber sonst sind sie gräßlich, und ich freue mich auch kein bißchen mehr auf sie,« schloß sie.

Ilse wirbelte der Kopf von Lillis heruntergeschnurrtem Bericht.

»Zwei Kinder – wundervoll finde ich das – ach, Lilli, sie werden schon netter sein, als du denkst! Ich wollte, wir bekämen auch Pensionäre.«

Jede Sache gewinnt an Wert, wenn ein anderer ebenfalls danach trachtet. So erging es auch Lilli. Als sie von Ilse Abschied nahm, hob die Freude in ihrer jungen Seele über die Veränderung ihres Hauswesens wieder zaghaft den Kopf. Ja, als sie mit den Geschwistern durch den Winterwald stampfte, war sie sogar eifrig dabei, hübsche Empfangsvorbereitungen für die fremden Kinder auszudenken.

Allerdings kam Lillis Vorfreude noch einmal stark ins Wanken. Das war in dem Augenblick, als Mutter auf ihre Bitte, ein Kränzchen mit den Freundinnen gründen zu dürfen, die Antwort gab: »Ich habe nichts dagegen, Kind, aber selbstverständlich nur in Gemeinschaft mit Sonja.«

»Was, das fremde greuliche Mädchen – – –« Lilli machte ein langes Gesicht.

»Wenn du Sonja mit solchen Gefühlen entgegenkommst, kann sie sich hier nicht wohl fühlen. Denke mal, wir gäben dich nach Rußland; da wärst du auch dankbar für jeden Liebesbeweis, der dir in der Fremde dargebracht würde,« sagte Frau Doktor Steffen mahnend.

Lilli senkte den Blondkopf.

»Du hast ja recht, Muttchen; ich habe mir das selbst schon gesagt, wenn – wenn die Sonja bloß nicht so knurrig und so lang wäre!«

Das neue Jahr hielt im klingenden Frostkleid mit rosenroten Hoffnungen seinen Einzug in die Welt und die russischen Kinder den ihren in die kleine Welt des Lehrerhäuschens mit rosenroten Näschen.

Um so wärmer und traulicher war es drin in dem verschneiten Hause. Da hatten die Zwillinge Tannengirlanden gewunden und über ihren Zimmertüren befestigt; dazwischen hatte Ludwig ein feuerrotes Transparent mit »Herzlich willkommen« angenagelt. Schnauzel und Mija aber waren von Lilli mit himmelblauen Bändern feierlich zum Empfang geschmückt.

Es war bereits dunkel, als der Wagen mit den kleinen Russen vor ihrer neuen Heimat hielt. Der weiche Schneeteppich verschlang das Rollen der Räder, aber Steffens Sprößlinge stürzten trotzdem im selben Augenblick zur Haustür: »Hurra – sie sind da!«

Dreistimmig erscholl der Willkommensruf aus den jungen Kehlen – wenn er auch mehr einem Kriegsgeschrei als einer freudigen Begrüßung glich. Die Zwillinge machten Miene, wie sie gingen und standen, in den kalten Januarabend hinauszustürzen.

»Hiergeblieben,« erscholl es von Vaters Lippen. »Wollt ihr euch eine Erkältung holen, Krabben?«

»Ludwig mag sich den Mantel anziehen und beim Hereinschaffen der Sachen behilflich sein,« fügte die Mutter zur Freude ihres Sohnes hinzu.

Während nun Anna mit dem Kutscher schnaufend Koffer und Schachteln ablud, verstaute der Tertianer vor allem das lebendige Gepäck. Links Sonja, rechts Iwan untergeärmelt, so schleppte er die beiden im Triumph ins Haus.

Dort hatten im Hausflur zwei Ehrenjungfrauen, Lilli und Margot, mit Tannenzweigen wedelnd, Aufstellung genommen. Daneben stand, gleichfalls wedelnd, aber mit dem Stumpfschwänzchen, der himmelblau bebänderte Schnauzel.

Nun ging es wieder los mit dem Hurraschreien, denn feierlich sollte der Empfang werden; so hatte Lillis phantastisches Köpfchen es sich ausgedacht. Sie hatte sich dafür den Einzug der siegreichen Truppen im Jahre 1871 als Muster genommen. Aber als Ludwig jetzt aus seiner alten Kinderflinte zwei Freudenböller abschoß, der feierlichen Einholung von 1871 getreu, da rannte das russische Mädchen mit einem entsetzten Aufschrei wieder zur Tür.

»Err will mirr tottschießen,« schrie es, an der bereits geschlossenen Haustür rüttelnd, und Iwan eilte, in unverständlichen Lauten heulend, hinterdrein.

Zum Glück erschien jetzt Doktor Steffen. Ganz verdutzt über den Erfolg ihrer Empfangsfeierlichkeiten, blickten die Zwillinge auf die schreienden jungen Ausländer, während Schnauzel das Geschrei durch seine Stimme melodisch unterstützte.

Das Lustige dieses Anblicks überwog für den Oberlehrer den Unwillen über den Lärm. Mit dem Lachen kämpfend, wandte er sich zu den verängstigten jungen Fremden, um sie zu beruhigen.

»Ihr braucht euch nicht zu fürchten, Kinder,« sagte er begütigend. »Lilli und Ludwig haben nur ihrer Freude über euren Einzug ein wenig geräuschvoll Ausdruck gegeben. Aber es war gut gemeint, und nun seid auch mir und meiner Frau in unserem Heim willkommen – zu ernster Arbeit und zu frohem Beieinander!«

Er schüttelte den neuen Pensionären vertrauenerweckend die Hand. Aber Sonjas schwarze Augen blickten immer noch mißtrauisch unter der großen Pelzmütze hervor; man sah es ihr an, daß sie lieber den Weg hinaus als hinein in das Haus gemacht hätte.

Da schlang Lilli warmherzig den Arm um den Hals der kleinen Fremden, reckte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihr einen Kuß auf die Lippen. Sonja stand gefühllos wie ein Stock, ohne sich zu rühren. Als aber Lilli gar den russischen Jungen jetzt ebenso liebevoll bewillkommnen wollte, da streckte dieser ihr, hinter dem Rücken von Doktor Steffen, die Zunge heraus, so weit er nur konnte. Das war ja ein vielverheißender Anfang!

Auch die herzliche Begrüßung von Frau Doktor erwiderte Sonja nur mit scheuem »Gutten Tag«, während Iwan sein russisches »Sdraszwuitje« murmelte. Ludwig aber verstand »Was willste?« und schüttelte den Kopf über den unehrerbietigen Jungen.

»Seid ihr allein gekommen, Kinder? Ist eure Mutter schon abgereist?« erkundigte sich Frau Doktor Steffen freundlich, während sie und ihr Töchterchen bemüht waren, die kleinen Petersburger aus ihren Pelzsachen zu schälen.

»Mamma wirrd fahrren nach Rrußland diesen Abend – wirrd lassen hierr mirr und Iwan!« Die harte Aussprache Sonjas klang noch schärfer durch den Unwillen, der bei diesen Worten in ihr aufstieg.

»Zeigt Sonja und Iwan euer Reich, Kinder, und helft ihnen beim Auspacken und Einräumen ihrer Sachen,« sagte die Mutter, ohne weiter auf den Schmerz der kleinen Fremden einzugehen; die kluge Frau wußte, daß Jugend unter sich am schnellsten vertraut und guter Stimmung wird.

Nun stiegen die Geschwister mit den neuen Gefährten die schmale, blank gebohnerte Holztreppe empor. Lilli blieb, ehe sie öffnete, einen Augenblick vor ihrer umkränzten Zimmertür stehen, für deren poetischen Tannenschmuck Sonja keinen Blick zu haben schien. Daher blickte sie erwartungsvoll zu der Größeren auf. Doch das bewundernde »Ah!«, auf das sie vorbereitet war, blieb aus. Und dabei hatte sie alles so wunderschön gemacht!

Die Lampe, die auf der neuen Tischdecke brannte, warf ihren warmen Schein durch einen roten Krepppapierschirm, den Lilli selbst verfertigt hatte. Ein großer Strauß Tannengrün mit roten Beeren prangte daneben in der Vase. Den Nähtisch am Fenster, den der fürsorgliche Ludwig seiner lieben Lilli zum letzten Geburtstag aus Birkenstämmen zimmerte, hatte sie großmütig Sonja überlassen und ihr Schränkchen ebenfalls für sie ausgeräumt. Mutter hatte außerdem ein altes Tischchen mit graublauem Tuch überzogen und mittels eines darübergenagelten Bücherbrettes in einen wunderhübschen Schreibtisch verwandelt. Lilli war ungeheuer stolz auf diese neue Errungenschaft ihres Zimmers. Was würde Sonja bloß dazu sagen?

Aber Sonja sagte gar nichts. Stumm blickte sie sich in dem Mansardenstübchen um; nicht einmal Goldschopfs jubelnder Willkommen entlockte ihr ein freundliches Lächeln.

Sicher fühlte die kleine Russin sich verlassen hier im fremden Land. Lilli umfing in plötzlicher Aufwallung das steif dastehende Mädel.

»Wir wollen Freundschaft halten und uns liebhaben, Sonja,« sagte sie leise.

Aber das gute Wort fand keinen Widerhall im Herzen der jungen Ausländerin. Sonja machte sich unbehaglich los und wandte den Kopf mit den kurzen Haaren nach allen Seiten.

»Soll ich wohnen hierr in das Dachstub?« fragte sie geringschätzig.

Lilli wurde vor Ärger krebsrot.

»Wenn es dir in meinem hübschen Zimmer nicht gefällt, dann kannst du ja wieder nach Petersburg reisen,« sagte sie äußerst empört.

»Mechte iich – mechte iich am liebsten soforrt! Aberr muß iich bleiben hierr bei frremde Leite!«

Tränen der Entrüstung traten Sonja in die dunklen Augen; sie ballte die Hände. Da begann der gutherzigen Lilli das Mädel trotz der angetanen Kränkung wieder leid zu tun.

»Versuche es doch erst mal mit uns fremden Leuten; vielleicht sind wir gar nicht so schlimm, wie du denkst,« tröstete sie.

»Iist serr schliem fürr Brruder Iwan und mirr! Aberr Sie sollen sein nicht gutt zu mirr; ich will sein auch nicht gutt zu Sie,« erwiderte Sonja schroff.

Lilli, die sonst darauf brannte, »Sie« genannt zu werden, ärgerte sich mehr, als sie sagen konnte, über die steife Anrede.

»Wir sagen hier Du zueinander, und nun komm! Wir wollen deinen Koffer auspacken.«

»Kann ich machen allein – brrauche iich keine Menschen – können Sie gehen ganz rruhik herraus!«

Was – aus ihrer eigenen Stube gewiesen? Na, das ging doch über die Hutschnur! Da gehörten zwei dazu – so schnell wich Lilli Liliput dem fremden Eindringling nicht!

Stillschweigend setzte sie sich auf Großmamas Ledersofa und nahm ein Buch zur Hand. Der rote Lampenschirm ließ das zornrote Gesicht der kleinen Lilli noch röter erscheinen.

Unsicher schielte Sonja zu ihr herüber. Schließlich trat sie ein paar Schritte auf den Tisch zu.

»Sie – du brrauchen nicht zu sein wütend auf mirr; ich sein emmer so uunausstehlik,« sagte sie ehrlich.

Lilli konnte sich nicht helfen; sie mußte trotz ihres Ärgers über Sonjas edle Selbsterkenntnis hell auflachen. Und wenn man erst über eine Sache lacht, ist auch der Ärger verflogen.

Da begann auch die kleine Petersburgerin zu lachen. Lilli Liliputs Lachen wirkte selbst auf sie ansteckend. Sonjas Gesicht sah dabei zwar aus, als ob sie Zahnschmerzen habe. Aber nichts überbrückt das Fremdsein zweier junger Mädel so sehr wie gemeinsames Lachen.

Lilli legte ihr Buch fort und ging der jungen Russin, ohne der unfreundlichen Abweisung zu gedenken, beim Auspacken der Sachen zur Hand. Und das war gut so! Denn Sonja warf jedes Ding, wie es ihr gerade in die Hände kam, in toller Unordnung in die Fächer. Die Stiefel auf die Wäsche, Kamm und Bürste auf das weiße Stickereikleid, die Bücher mit Schuhcreme, Zahnbürste und russischen Drops in traulicher Gemeinschaft.

Die ordentliche Lilli schlug die Hände über dem Kopf zusammen über dieses wüste Durcheinander. Dann begann sie, mit flinker Hand aufzuräumen. Bald lag die Wäsche wohlverwahrt in dem einen Fach, in dem anderen Sonjas Kleinigkeiten und in dem dritten ihre Bücher. Kleider und Stiefel wanderten in die dafür bestimmten Schränke.

Mit eingeschlagenen Armen schaute Sonja Lillis emsigem Treiben zu; dann sagte sie ganz gemütlich: »Ich danke Sie fürr derr Mühe, aberr von mirr wegen hätte es bleiben können, wie es warr.«

»Aber von mir aus nicht; in meinem Zimmer halte ich Ordnung,« antwortete Lilli, recht wenig erbaut von diesem Dank.

Im Nebenzimmer, wo die Jungen hausten, war die Unterhaltung und das Anfreunden noch merkwürdiger von statten gegangen.

Ludwig sprach deutsch, Iwan russisch. Daß dabei eine Verständigung nicht gut zu erzielen war, lag auf der Hand.

Aber der Tertianer griff erfinderisch zu einem Mittel, das sich glänzend bewährte, zur Fingersprache. Als ob er einen Taubstummen vor sich habe, fuchtelte er vor dem kleinen Russen mit seinen Händen in der Luft umher und machte ihn auf diese Weise mit jedem Gegenstand im Zimmer bekannt. Er packte ihm väterlich seine Kleider und Wäsche aus, räumte alles säuberlich ein und nahm dann Iwan am Schlafittchen. Geradeso, als gälte es, einen jungen Hund abzurichten, stieß er ihn sanft mit der Nase in die mit verschiedenen Gegenständen gefüllten Schrankfächer. Nun wußte der Kleine Bescheid, wo alles lag. Freilich, als Ludwig noch erzieherisch hinzusetzte: »Und nun wird Ordnung gehalten – verstanden?«, sah er an Iwans verständnislosem Gesicht, daß dies ganz und gar nicht der Fall war.

Ludwig mußte seine Zuflucht wieder zur Fingersprache nehmen. Doch es war nicht so einfach, den soeben geäußerten Satz in die Gebärdensprache zu übersetzen. Er begann Iwans Anzüge und Wäsche zuerst zu streicheln und noch glatter zu legen, als sie schon lagen. Doch das machte gar keinen Eindruck auf den russischen Jungen. Ludwigs Aquarium, das am Fenster stand, interessierte ihn ungleich mehr.

So schnell warf der Große die Flinte nicht ins Korn. Ein Gedanke durchzuckte ihn, und plötzlich begann er mit wilder Hand die Sachen, die er noch soeben ordentlich eingeräumt hatte, wieder durcheinanderzureißen.

Wirklich – Iwan wurde aufmerksam und trat neugierig näher, wenn er auch Ludwigs Beginnen zuschaute wie dem eines harmlos Verrückten. Aber als sein ihn bei weitem überragender Zimmergefährte jetzt mit der einen Hand auf die durchwühlten Fächer und mit der anderen Hand auf Iwan selbst wies, und dann mit allen beiden die in jedem Lande verständliche Gebärde des Durchprügelns machte, war der Erfolg überraschend. Der russische Knabe flüchtete quiekend ans Fenster – bumderattatta – da lag Ludwigs Aquariumglas mit dem allerliebsten kleinen Molch in Scherben auf der Erde.

So führte sich Iwan gleich vielversprechend in seiner neuen Heimat ein. Ludwig aber machte sich schweigend ans Aufräumen. Er hielt es doch für geratener, das Amt eines Sprachlehrers dem Vater zu überlassen.

Anna rief zum Abendbrot. Die peinlich saubere Lilli wusch sich, wie sie es vor jeder Mahlzeit gewöhnt war, die Hände und bürstete ihre rosigen Nägel.

»Willst du dich nicht auch waschen, Sonja?« fragte sie, einen beredten Blick auf die einen düsteren Trauerrand aufweisenden Nägel der Russin werfend.

»Iich niicht habe not, iich errst habe gewascht mirr heite mittag,« sagte diese, den Kopf schüttelnd.

Lilli hätte den Eltern, die stets auf tadellos reine Hände sahen, gern Sonjas unappetitlichen Anblick erspart und der Gefährtin ebenfalls eine mögliche Zurechtweisung gleich am ersten Abend. Darum versuchte sie es noch einmal, diesmal mit einem Scherz: »Hast du Kohlen getragen, Sonja, daß deine Nägel so schwarz aussehen?«

»Sind meine Hände, gehen niichts an anderre Leite,« sagte die abweisend.

Da gab es Lilli seufzend auf. Aber als sie dann um den gemütlichen Abendtisch saßen, mußte Sonja doch die Erfahrung machen, daß ihre Hände andere Leute etwas angingen.

»Schämt euch, Kinder,« sagte die Mutter halblaut zu ihren Zwillingen, »daß ihr Sonja und Iwan mit solchen Händen habt zu Tisch kommen lassen!«

Ludwigs offenes Jungengesicht wurde feuerrot. Nicht nur, weil er es vergessen hatte, den Kleinen einer Säuberung zu unterziehen; nein, es geschah dem Herrn Tertianer selbst noch manchmal, daß seine Hände nicht ganz einwandfrei waren.

Lilli biß sich auf die Lippen, schwieg aber zu der Mutter Tadel. Nicht um alles in der Welt hätte sie jemand verklatscht.

Da rief Sonja: »Hat sie gesaggt; hab' iich niicht gewascht die Händ', weil iich fand sie gutt.«

»Da gehen unsere Begriffe über Sauberkeit auseinander, Sonja. Lauft beide noch mal nach oben und wascht euch! Und künftig seift ihr euch vor jeder Mahlzeit die Hände – vorläufig mir zuliebe, bis ihr es euch selbst zuliebe tut.«

So sprach Frau Doktor freundlich, aber mit einem ernsten Unterton. Es war ihr nicht angenehm, das Zusammenleben mit den kleinen Russen gleich mit Ausstellungen zu beginnen. Aber die kluge Frau wußte, daß man für immer verlorenes Spiel hat, wenn man erst einmal etwas durchgehen läßt.

Ob Sonja Frau Steffens Worte vollständig verstand, war zweifelhaft. Aber sie erhob sich jedenfalls, obwohl mißmutigen Gesichts, und nahm auch den unbekümmert weiteressenden Bruder mit einigen russischen Worten ins Schlepptau.

»Nun schmeckt es noch mal so gut,« sagte Frau Doktor lächelnd, als sie wieder mit sauberen Händen um den Tisch saßen.

»Degenschlucker – Degenschlucker,« rief da plötzlich Klein-Margot, die heute ausnahmsweise mit den Großen Abendbrot essen durfte, und lachend wies sie auf die ihr Messer zum Munde führende Sonja.

Die verstand das Wort nicht und aß ruhig mit dem Messer weiter. Lilli wurde rot, weil sie sich für die Russin schämte. Mutter aber seufzte heimlich. Sollte sie schon wieder zurechtweisen? Sicherlich waren die Kinder in Rußland gewöhnt gewesen, die Mahlzeiten allein einzunehmen, während ihre Mutter auf Praxis war; da hatte niemand sie zu gutem Betragen erzogen. Man durfte auch am ersten Tage nicht zu viel verlangen, sonst verlor das Mädel die Lust und wurde aufsässig.

Aber als Iwan jetzt mit allen fünf Fingern ins Salzfaß griff, trotzdem das Salzlöffelchen dabei lag, konnte sich Frau Mieze doch nicht enthalten, zu sagen: »Siehst du, mein Junge, wie gut, daß du dir vorhin die Hände gewaschen hast! Aber man faßt überhaupt nicht mit den Fingern ins Salz, sondern benutzt dazu das Löffelchen.«

Iwan verstand bedeutend weniger Deutsch als Sonja. Frau Doktor hätte ihre Worte ebensogut an seinen Stuhl richten können. Da nahm Ludwig seine Zuflucht wieder zur Fingersprache und zeigte ihm, wie man bei Tisch salzt. Nun merkte Iwan doch, daß er etwas nicht richtig gemacht hatte.

Auch das Mundtuch nach Beendigung der Mahlzeit zusammenzulegen schien für die fremden Kinder etwas Unbekanntes. Sie schleuderten die Tücher auf Stuhl oder Fußboden und wollten davon. Jetzt war es Lilli, die mit Lachen und endloser Geduld ihnen immer wieder zeigte, wie man es macht, bis Sonja ihren Bemühungen durch die Worte: »Iist serr langweilik, soll tun das Dienstbot,« ein Ende setzte.

»Nun?« fragte Doktor Steffen, als die Kinder Gutenacht gesagt hatten, und sah seine Frau erwartungsvoll an.

»Man merkt ihnen an, daß die Mutter nicht viel im Hause war und sie ungebildeten Leuten überlassen wurden. Aber Sonja ist wenigstens ein ehrliches Kind. Der Kern ist nicht schlecht und alles andere durch verständige Erziehung gutzumachen,« sagte Frau Mieze, die ein Mißerfolg nicht so leicht entmutigen konnte.

»Na?« fragte auch Lilli, als sie ihren Ludwig für einen Augenblick im Winkel unter der Treppe erwischte; ihre Augen setzten beredt die Frage fort.

»Der Iwan ist ein Schlingel trotz seiner Duckmäuserei! Er hat mir bereits ein Aquariumglas zertöppert; aber ich werde ihn schon kirre kriegen!«

»Meine Krabbe ist ein unausstehlicher Balg – ach, wie soll das bloß werden!«

Lillis sonst so lustiges Gesicht schaute recht wenig hoffnungsfroh in das neue Jahr hinein.


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