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Eine kleine Dichterin

Das Liliputchen hatte sich mit großen Absichten getragen: es wollte den Pegasus, den Dichtergaul, besteigen! Aber die Lust dazu war ihr durch den mißglückten Aufsatz ziemlich vergangen.

Zu der Mutter Geburtstag hatte Vater, der das wunderschön verstand, seinen Kindern stets ein paar Verschen gemacht. Das letzte Mal war es sogar eine kleine Aufführung geworden; als Max und Moritz hatten sie in lustigen Versen der Mutter ihre Wünsche dargebracht. Es war ganz allerliebst, und Mutter, Großmama und sämtliche Onkel und Tanten waren begeistert gewesen.

In Lilli war der Wunsch wach geworden, ähnliches zu schaffen; sie hatte schon im Sommer dem Vater mitgeteilt: »Du brauchst uns diesmal nichts zu Mutters Geburtstag zu machen; ich dichte selbst.«

»Der Tausend, unser Liliputchen will unter die Dichter gehen,« neckte der Vater, war es aber zufrieden.

Neulich erst hatte er sie noch einmal gefragt: »Es bleibt doch bei unserer Abmachung, Lilli?«, und sie hatte eifrig bejaht.

Erst wollte sie ein Lustspiel schreiben, dann ein Trauerspiel frei nach »Maria Stuart«. Das wurde aber in Anbetracht, daß es sich um einen Geburtstag handelte, wieder verworfen.

Und nun hatte Lilli alle Lust zum Dichten durch Doktor Petersens Aufsatzdrei verloren! Wenn sie sich nur nicht dem Vater gegenüber verpflichtet hätte!

Sie saß bei verriegelter Tür am Fenster ihres Stübchens und stichelte eifrig an der Nähtischdecke für Mutti, die von Großmamas neuem Dreimarkstück gekauft war. Auf schwarzem Tuch wuchs ein Kranz wunderhübscher bunter Anemonen. Lillis zierliche Finger waren geschickt, und sie gab sich große Mühe, die Arbeit für ihre Mutti so schön wie nur irgend möglich zu machen.

Draußen fielen weich und sacht silbrige Sternchen vom bleigrauen Himmel: der erste Schnee. Er deckte die Dächer und Schornsteine mit weißer Samtdecke, hüllte die gespenstisch ragenden kahlen Baumäste in lichten Hermelin, setzte dem Brunnen unten im Hof eine weiße Haube auf und jeder Holzlatte des Gartengitters ein lustiges Mützchen.

Lilli sah mit großen Augen zu, wie der Winter mit den lustigen Schneeflocken seinen Einzug in den stillen Villenvorort hielt. Die Arbeit sank in den Schoß; sie machte wieder ihre Märchenaugen, das heißt, sie sah, was anderen Sterblichen unsichtbar bleibt.

War das denn noch die quietschende Pumpe unten im Hof? I wo! Der Winter selbst war es, ein wohlbeleibter, rundlicher Herr im dicken weißen Pelz, die Zipfelmütze tief ins Gesicht gezogen. Der Pumpenschwengel aber war sein linker Arm, mit dem er gebieterisch seinen Schneeflocken Anweisungen erteilte, wie sie ein jedes Ding da draußen in Hof und Garten schön warm und weich einzuhüllen hatten.

Halt – wie wäre es, wenn sie Ludwig zu der Mutter Geburtstag den Winter vorstellen ließ, der seinen Einzug auf Erden hielt? Das war ein feiner Gedanke! Und sie selbst! Ihr Blick glitt verloren über die bunten Anemonen auf der Mutter Nähtischdecke. Natürlich mußte sie den Sommer dazu darstellen, den der böse Winter vertreiben wollte. Aber sie ließ ihn nicht ein – in dieses Haus nicht! Nein, da war es auch zur Winterszeit warm und sonnig – halt – Lillis Märchenaugen wurden noch größer – Klein-Margot mußte als des Hauses Sonnenschein ihr helfen, den Winter hinauszutreiben!

So – Lilli atmete tief auf. Der Grundgedanke zu der Aufführung, die ihr viel Kopfzerbrechen gemacht hatte, war fertig. Das Dichten mußte ja leicht gehen.

Sie legte sogleich ihre Handarbeit zusammen, holte Papier und Bleistift herbei und schrieb mit schönen Buchstaben »Winter und Sommer. Schauspiel in einem Akt für drei Personen von Lilli Steffen« darüber.

Hopp – nun hinauf auf das geflügelte Musenroß, daß es mit ihr ins Land der Dichter fliege! Aber es war nicht so einfach, den Pegasus zu besteigen, wie Lilli Liliput es sich gedacht hatte.

Als sie glücklich im Sattel saß, das heißt den ersten Reim niedergeschrieben hatte, wurde das Reittier störrisch und wollte nicht weiter. Soviel Lilli auch auf die ersten beiden Zeilen ihrer Dichtkunst starrte:

»Der Winter hält seinen Einzug – juchhe!
Ich sause durch Lüfte; ich wirble den Schnee,«

es wurde und wurde nicht mehr. Entmutigt ließ sie den Stift sinken. Nein, so schwer hatte sie sich das Dichten doch nicht gedacht!

Wieder blickte sie in die Winterlandschaft hinaus. Da hatte es jetzt aufgehört, leis und sacht zu schneien; lustiges, tolles Schneetreiben hatte eingesetzt. Hu, wie der Wind in den Bäumen pfiff, wie er die Sträucher zauste und im Ofen heulte!

Fast ohne daß sie es wußte, begann Lilli wieder zu schreiben. Sie schrieb nieder, was sie da draußen sah. Die Worte formten sich ihr ohne Schwierigkeit zu Reimen; der Pegasus war im Trab.

Lillis Bleistift flog so lange über das Papier, bis die Dämmerung tiefer und tiefer in die Winkel und Ecken des Mansardenstübchens hineinkroch und sie schließlich nicht mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Da hielt sie mit einem tiefen Atemzug inne und schloß ihr Manuskript ein.

Erst beim Zubettgehen holte sie es wieder vor und rief ihren Bruder mittels der drei bewußten Faustschläge gegen die Wand auf das alte Ledersofa.

Dort begann sie, zuerst ein wenig zagend, aber dann sich an ihren Worten berauschend, dem Bruder ihr Werk vorzulesen.

»Fein, Liliputchen« – Ludwig zerquetschte das zierliche Ding in seiner Begeisterung fast – »am feinsten ist das letzte, der Zank zwischen Winter und Sommer. Der wird ulkig! Im Anfang ist es mir ein bißchen zu hochtrabend.«

»Keine Spur, es ist nur poetisch,« verteidigte Lilli ihr Geisteskind mit begreiflichem Stolz. »Ich muß doch den Winter ausmalen. Findest du es hübsch, daß ich als Sommer mit der Melodie ›Maiglöckchen läutet in dem Tal‹ auftrete?«

»Ja, das ist großartig; wir müssen uns aber noch viel toller zanken. Ich muß all das Schöne aufzählen, was ich den Menschen bringe: Rodeln, Schlittschuhlaufen, Schneeballen, Schlittenfahren – – –«

»Au ja, fein – und dann übertrumpfe ich dich mit meinen Sommerfreuden! Aber vor allem muß es darauf ankommen, wer von uns beiden Mutter mehr gibt.«

»Durch mich hat sie die langen Abende bei der Lampe, wo sie so fleißig flicken und Strümpfe stopfen kann. Und Hitze kann sie überhaupt nicht vertragen, und neulich hat sie erst noch gesagt, sie findet den Winterwald viel schöner als den Wald im Sommer. Und dann vor allem Weihnachten,« ereiferte sich Ludwig.

»Unsinn – ich geb' ihr doch zehnmal mehr, den Garten mit allen Blumen, Gemüsen und Früchten, ›Gartenarbeit erhält gesund,‹ hat sie gesagt, und dann das Einkochen von Obst, das Baden im Schlachtensee, und – und –« Lilli wußte nicht weiter.

»Na, deshalb wollen wir uns nicht zanken, Liliputchen.« Ludwig lachte, da es ihm plötzlich zum Bewußtsein kam, wie böse sie beide in ihrem Eifer, aufeinander losfuhren. Da mußte auch Lilli lachen. Die Zwillinge waren wieder trotz Winter und Sommer ein Herz und eine Seele.

»Weißt du, du mußt einen Reisigbesen haben,« überlegte Lilli weiter. »Damit willst du mich aus dem Hause kehren; aber das lasse ich mir nicht gefallen. Ich rufe mir Margot, des Hauses Sonnenschein, zu Hilfe, und vor uns beiden mußt du dann Reißaus nehmen.«

»Das wird wundervoll« – der ruhige Ludwig war ganz aufgeregt – »bloß die Kostüme! Wo bekommen wir die her?« gab er, als der Praktischere von beiden, zu bedenken.

Aber wozu hatte Lilli denn ihre Phantasie, wenn die ihr über solche geringfügigen Schwierigkeiten nicht hinweghelfen sollte? Sie überlegte einen Augenblick, das heißt, sie machte die Augen zu. Dann riß sie dieselben wieder weit auf.

»Ich habe dich eben ganz deutlich als Winter gesehen, wie du ausschauen mußt. Wir machen einen Anzug aus weißer Watte und malen darauf mit Tinte die Knöpfe. Auf den Kopf nimmst du eine Watteperücke und einen langen, weißen Wattebart. Dazu setzest du Vaters Zylinderhut auf, und fertig bist du.«

»Ich sag's ja immer, Liliputchen: klein, aber oho!«

Der lange Ludwig sah die ihm knapp bis zur Schulter reichende Zwillingsschwester mit ungeheurer Bewunderung an. Lilli aber fuhr fort zu reden; die war jetzt im Zuge.

»Ich bitte Ilse und Lena einen Nachmittag zu mir; dann machen wir alle drei aus dem großen Blumenkasten, den ich voriges Jahr von Tante Grete bekommen habe, hübsche Papierblumen! Die nähe ich mir auf mein weißes Mullkleid; das wird ein feines Kostüm als Sommer.«

»Großartig« – der Kritiker war zufrieden – »nun kommt noch Margot – – –«

Aber des Hauses Sonnenschein sollte heute nicht mehr ausstaffiert werden, denn aus dem Erdgeschoß schallte der Mutter Stimme herauf: »Nanu, du hast ja noch Licht, Lilli! Willst du wohl machen, daß du ins Bett kommst? Es ist höchste Zeit.«

Der Mutter Klopfen beendigte die Sitzung im Mansardenstübchen sofort. Zehn Minuten später war das Licht im Obergeschoß erloschen. Nur aus des Vaters Studierstube tanzten noch lange gelbe Lampenstrahlen hinaus in den weißen Garten. Bis weit nach Mitternacht saß Doktor Steffen bei seinem Buch über griechische Dichter, das sich seinem Abschluß näherte. Dann wurde es auch dort dunkel; das weiße Lehrerhäuschen schlief in den frischen weichen Schneebetten.

Nach drei Tagen hatte Lilli ihre »Dichtung« beendigt. Sie war selbst ganz begeistert davon. Es wurde ihr unsagbar schwer, sie vor Vater zu verheimlichen, aber der wollte gleichfalls überrascht werden. Gar zu gern hätte sie es ihm vorgelesen, besonders die Stelle, wo der Sonnenschein der Mutter Lachen mit seinem Licht vergleicht, nur daß ihr Lachen das Haus noch heller und wärmer mache als er selbst. Auf diese Zeilen war die kleine Dichterin ungeheuer stolz.

Nun lernten sie alle drei mit großem Eifer ihre Rollen auswendig. Eine große Schwierigkeit ergab sich noch, nämlich daß Klein-Margot die Überraschung nicht ausplauderte.

»Ich weiß was Feines, aber ich darf's nicht verraten,« erzählte sie der Mutter jeden Tag.

»Mutti, ich muß dir mal was Wunderschönes ins Ohr sagen; ich kriege ein Kleid mit lauter Gold,« flüsterte die Kleine einmal ganz aufgeregt.

Mutter legte lächelnd die Hand auf das Plappermäulchen. Aber als Frau Mieze ihr Kleines eines Tages auf den Schoß nahm und zärtlich »mein Sonnenschein« nannte, fragte Klein-Margot ganz verblüfft: »Woher weißt du das denn?«

Mutti merkte natürlich noch immer nichts; Mütter merken ja überhaupt nie etwas vor Weihnachten oder Geburtstagen. Auch nicht Lillis Raubzug auf den Boden, der dem alten wattierten Radmantel galt, der noch von Urgroßmutter herstammte. Dort bezog Lilli sämtliche Watte her, die sie für ihren Winter brauchte.

Das winterliche Kostüm war doch nicht so einfach herzustellen. Wenn Lilli hier nähte, ging die weiche Watte dort wieder auseinander, bis das Liliputchen schließlich ungeduldig wurde und den ganzen Kram in die Ecke »pfefferte«.

Nun aber zeigte Ludwig sein Talent. Er war ausdauernder als seine Zwillingsschwester und in allen Handfertigkeiten geschickt. Er begann die Watte mit Gummi auf weißes Papier zu kleben, und siehe: sie flog nicht mehr davon, sondern saß bombenfest. Die Wattebogen nähte Lilli dann zu einem weiten Gewand zusammen.

Viel größere Freude aber machte die Verfertigung des Sommerkostüms. Ilse und Lena, die beiden treuen Gehilfinnen, traten pünktlich um vier Uhr an. Dann saßen sie alle drei auf dem Ledersofa in Lillis Stübchen und verfertigten mit heißen Wangen die holden Kinder des Sommers.

Ludwig war natürlich zugelassen worden; er hatte sämtliche Drahtstengel mit grünem Seidenpapier zu umwickeln. Auch Klein-Margot hatte so lange gequält und geschmeichelt, dabei sein zu dürfen, bis die gute Schwester einwilligte. Aber nur, wenn sie Vater und Mutter kein Sterbenswörtchen von der Überraschung erzählen würde! Das versprach die Kleine aufs eifrigste; sie hatte doch bisher auch kein bißchen verraten.

Nun lief das kleine blondlockige Ding von einem zum anderen und wartete, daß ein Blättchen buntes Papier, ein Stückchen Draht oder gar ein paar Staubgefäße herunterfallen sollten, denn das war die ihr zuerteilte Tätigkeit, alles wieder aufzuheben. Da aber die Arbeit nicht gerade drängte, so sah sie voll Bewunderung zu, wie unter den emsigen Händen der großen Mädchen die herrlichsten Blumen erstanden. Lena fertigte Kornblumen an, die auf jedem Felde hätten wachsen können, Ilse blutroten Mohn, der so echt war, daß er sogar entblätterte, und Lillis Maßliebchen waren noch größer und schöner als die, welche Margot im Frühling auf der Wiese pflückte.

Die Mündchen der drei Freundinnen gingen gerade so eifrig wie die Finger, und Goldschopf versuchte mit jubelndem Geschmetter die lustigen jungen Stimmen zu übertönen.

Bald war der ganze Tisch mit duftigen Blüten bedeckt. Lena, die ihre Geschicklichkeit im Blumenwinden von der Mutter geerbt hatte, band einen allerliebsten Feldblumenkranz für Lillis Blondhaar. Das Mullkleid wurde herbeigeholt und probeweise mit den Blumen geschmückt. Es fand allgemeine Bewunderung.

Dann aber führten Steffens drei, zum Dank für die treue Hilfe, Ilse und Lena ihre dramatische Kunst vor. Die Zuschauer klatschten begeistert; Lilli konnte mit ihrem ersten Erfolge zufrieden sein.

»Bis jetzt habt ihr nur Sinn für den Sommer gehabt; wie wäre es denn, wenn ihr mir, dem Winter, auch mal die Ehre antätet?« fragte Ludwig.

»Dein Wattekostüm ist ja fertig,« warf Lilli verwundert ein.

»So meine ich es nicht; ich wollte eine kleine Schneeballschlacht draußen im Garten vorschlagen. Es ist Mondschein und bis zum Abendbrot noch eine Stunde Zeit.«

Dieser Vorschlag wurde jubelnd angenommen. Flugs schlüpften die Mädchen in ihre Mäntel, und nun ging es in den beschneiten Garten hinaus, der still im Mondlicht träumte.

Hallo, war das bald ein Leben zwischen den weißen Büschen! Da sausten die Schneebälle gegen Ohren und Nase; da lachte und kreischte es in hellem Jubel, rutschte und purzelte es in den weichen Schnee. Der kleine steinerne Gnom mit der roten Zipfelmütze, der im Sommer auf dem Rasen vor dem Hause Wache hielt, jetzt aber das Borkenhäuschen als Winterquartier bezogen hatte, rieb sich erstaunt die Augen.

»Potztausend – ist es denn schon wieder Sommer, daß die Krabben solchen Radau da draußen machen?« brummte er mißvergnügt, legte sich auf die andere Seite und schnarchte weiter.

Draußen verstummte endlich das Jauchzen. Die jungen Ruhestörer wurden zum Abendbrot gerufen. Nur das Mondlicht sickerte wieder durch die weißen Zweige des stillen Gartens.

Noch nie hatte der vierte Dezember, der Mutter Geburtstag, so lange auf sich warten lassen wie diesmal. Nie zuvor hatten aber auch die drei Kinder den wichtigen Tag so sehnsüchtig herbeigewünscht. Sie konnten es gar nicht erwarten, ihre Überraschung endlich vom Herzen zu haben.

Die wunderhübsch gewordene Nähtischdecke, der von Ludwig geschnitzte Kalender und Margots Wollkörbchen hatten schon am Morgen die Mutter erfreut. Die Aufführung sollte erst gegen Abend stattfinden, denn da waren alle Verwandten und Freunde des Hauses zum Geburtstagskaffee versammelt.

Lilli war heute ein allerliebstes aufmerksames Haustöchterchen. Sie half Anna so geschickt beim Herumreichen der Kuchenschüssel und versorgte die Gäste so umsichtig mit Sahne und Zucker, daß die Tanten ihres Lobes voll waren. Der einzige Schatten an dem so lichtvollen Tage war nur, daß sie fast von allen »Liliputchen« genannt wurde.

Wie eine Blumenelfe sah Liliputchen aus mit dem Kranz in ihrem Blondhaar.

Aber nun war es endlich so weit! Die Stühle standen in Reihen – anders tat Lilli es nicht – und Anna klingelte aus Leibeskräften mit der Tischglocke. Da fegte wie der Sturmwind Ludwig herein und begann seine wilden Verse. Der Junge sah prächtig aus; er glich mit seinem wüsten Wattebart dem Zeuskopf auf Vaters Bücherschrank.

Als Lilli aber singend hereintanzte, erklang ein allgemeines »Ah« der Bewunderung. Wie eine Blumenelfe sah sie aus mit dem Kranz in ihrem Blondhaar, das ihr weit den Rücken hinunterflutete. Und zierlich wie eine Elfe spielte und tanzte sie auch!

Der Gegensatz zwischen den Zwillingen kam glänzend heraus; sie zankten sich so echt, wie sie es niemals im Leben taten. Zum Schluß hüpfte Klein-Margot herein, das Kleid mit glitzernder Goldlametta benäht, wie ein verkörperter Sonnenstrahl. Da war des Jubels kein Ende. Als der letzte Ton des Schlußliedes »Winter ade« verklungen war, erhob sich ein so lebhaftes Klatschen, daß sie es gleich noch mal singen mußten.

Die kleine Dichterin wurde von allen Seiten mit Lob überschüttet. Am begeistertsten aber war Großmama, denn das ist ja das Vorrecht der Großmütter.

Onkel Martin nannte sie nur noch »Fräulein Schiller«. Vater aber hatte sie stillschweigend aus der Stube gezogen. Draußen im Flur drückte er ihr einen zärtlichen Kuß auf die Stirn und sagte: »Du hast mir heute eine große Freude bereitet, mein Liliputchen.« Nie hätte Lilli gedacht, daß sie der Liliputname so glücklich machen könnte.

Nur eine stimmte nicht in die allgemeine Lobpreisung ein. Das war die, für welche Lilli doch vor allem sich gemüht hatte, ihre Mutti. Sie hatte sich zwar mit einem Kuß und den Worten: »Das hast du ja nett gemacht, mein Mädel,« bei ihr und den Geschwistern bedankt. Aber der Verfasserin war das nicht genug. Die hatte heute kennen gelernt, wie süß überschwengliches Lob schmeckt.

Sie schlich sich an der Mutter Seite.

»Sag, Mutti, hat es dir nicht gefallen? Du bist gar nicht so begeistert wie die anderen,« fragte sie leise.

»Ei, ei« – Mutter drohte lächelnd – »haben sie meinem Mädel wirklich schon das eitle Köpfchen verdreht? Siehst du, Kind, das gerade will ich vermeiden. Du sollst dir nichts auf deine Reimerei einbilden. Sie ist recht niedlich, aber mir wird viel zu viel Wesens davon gemacht.«

So sprach die verständige Frau. Lilli aber dachte heimlich, daß der Vater ihr Werk doch viel besser zu würdigen wisse als Mutter.

Als Liliputchen längst schon auf ihren Lorbeeren ruhte und Vater und Mutter mit einer ruhigen Plauderstunde den Tag beschlossen, sagte Doktor Steffen: »Weißt du, Mieze, ich hätte große Lust, die niedliche Aufführung unseres Liliputchens einer Zeitschrift einzureichen. Ich bin überzeugt, sie wird angenommen. Der Gedanke ist allerliebst durchgeführt, und die Verse sind bis auf kleine Entgleisungen ganz fließend.«

Frau Mieze schüttelte abwehrend den Kopf.

»Wenn du mir folgst, Ernst, läßt du das bleiben. Je schneller Lilli die Aufführung vergißt, desto besser ist es für sie. Solch junges Ding bildet sich schließlich viel mehr ein, als wirklich daran ist.«

»Du hast wie immer recht, Mieze!«

Der Oberlehrer nickte seiner Frau liebevoll zu. Dann aber nahm er die erste Dichtung seines Liliputchens und schloß sie in den Kasten, in dem er ihre ersten Schuhchen aufbewahrte.


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