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Herzensfreundinnen

Mehrere Tage hatte Lilli das braunhaarige Mädchen nicht gesehen, so sehr sie sich auch auf dem Bahnhof bei der Hin- und Rückfahrt zur Schule die Augen nach ihr ausschaute. Denn, trotzdem vom Himmel seit längerer Zeit schon häßliches graues Naß niederging und nichts mehr an den lachenden Sommer erinnerte, glaubte sie noch immer fest und sicher an ihren Sommerfaden, von dem sie damals mit wachen Augen geträumt hatte.

War das fremde Mädchen krank? Lillis Gedanken beschäftigten sich in den Mußestunden unausgesetzt mit ihr. Wer mochte sie sein? Wie ihr Name? Sie sah aus, als ob sie Hilde heiße – Hilde oder Irene. Ach, Unsinn! Das war ja alles zum Lachen; ebensogut konnte sie Aurora oder Adolfine heißen.

Heute ging Lilli absichtlich langsam von der Schule zum Wannseebahnhof. Es war wieder ein Dienstag, an dem sie immer allein heimfuhr. Vielleicht war ihr das Glück diesmal günstig.

Hurra – Lilli hätte beinah einen lauten Jubelschrei ausgestoßen – unweit von ihr stand auf dem Bahnsteig gerade im ärgsten Gedränge die lang Vermißte. Statt des weißen Matrosenkleides trug sie heute einen grauen Regenmantel und einen schwarzen Lackhut. Ihre dunklen Locken lagen feucht und regenschwer auf der braunen Rückenmappe.

Sie hatte Lilli bisher in dem starken Andrang noch nicht erblickt. Geschickt pirschte diese sich näher. Ihre kleine zierliche Gestalt fand allenthalben noch einen Durchschlupf.

Jetzt stand sie neben der Fremden. Das Herz klopfte ihr so stark wie vor dem Extemporaleschreiben. Nun wandte die andere endlich den Kopf – in beider Augen leuchtete es auf, und fast unmerklich nickte der braune Mädchenkopf dem blonden zu.

Lilli war selig. Ganz bestimmt, das fremde Mädchen hatte sie gegrüßt! Zwar waren sie alle beide dabei rot geworden und hatten sich schnell voneinander abgewandt, aber es war doch schon immerhin ein Anfang.

Jetzt stand Lilli in ernster Überlegung. So eifrig dachte sie nach, daß sich eine tiefe Falte in ihre weiße Stirn grub. Es handelte sich aber auch um eine Sache von größter Wichtigkeit und Tragweite. Sollte sie ein Zuschlagbillett für die zweite Klasse nehmen, um mit der ihr vom Schicksal bestimmten Freundin zusammen zu fahren?

Lillis Barschaft war klein wie sie selbst, und überdies waren bis zu Muttchens Geburtstag nur noch zwei Monate; da hieß es, jetzt schon mit Sparen anzufangen. Aber man muß dem Glücke die Hand bieten, wenn es einem entgegentritt! Wirklich, es war nicht so leicht, zu einem Entschluß zu kommen. Doch wie, wenn das fremde Mädchen sie vielleicht für zudringlich hielt – wenn es gar annahm, sie liefe ihm nach?

»Nein,« sagte Lilli so laut, daß die Braunhaarige sich verwundert nach ihr umwandte.

Da fuhr zum Glück der Zug ein, und Lilli rettete sich unter heißem Erröten in ihr Abteil dritter Klasse. Dieses füllte sich rasch; Lilli hatte gerade noch einen Sitzplatz erwischt, während mehrere Schüler stehen mußten. Plötzlich – Lilli traute ihren Augen nicht – sprang ein Schulmädel mit braunen Locken und schwarzem Lackhut noch in die dritte Wagenklasse herein und nahm gerade vor Lillis Eckplatz Aufstellung.

Diese konnte nun nicht mehr im Zweifel sein, daß auch die Fremde eine Annäherung suchte. Warum fuhr sie denn auf einmal dritter Klasse?

Am liebsten wäre Lilli in ihrer Begeisterung aufgesprungen und hätte der anderen Platz gemacht, aber das hätte doch lächerlich ausgesehen.

Da zog die Lokomotive an, und mit einem unterdrückten Aufschrei flog die leichte Gestalt der Braunen auf die Blonde. Lilli hatte beide Arme ausgestreckt, um die Schwankende zu stützen. Jetzt hielten sich die beiden Mädel fest bei den Händen und lachten – lachten so herzlich, wie man nur lachen kann, wenn man dreizehn Jahre alt ist. Das ganze Abteil lachte mit; so herzerfrischend ansteckend wirkte dieses junge Lachen. Und als sie sich endlich beruhigt hatten, da waren sie sich kein bißchen fremd mehr; da hatten sie alle beide die Empfindung, als ob sie sich schon jahrelang kannten.

Lilli rückte beiseite und machte sich noch schmaler, als sie schon war.

»Komm, du kannst auch noch sitzen!«

Damit zog sie die vor ihr Stehende auf den winzigen Raum, und nun saßen die zwei eng aneinandergeschmiegt, vorläufig noch in stummer Glückseligkeit.

»Wie heißt du?« eröffnete Lilli nach einem Weilchen endlich das Gespräch.

Wie oft hatte sie überlegt, ob sie die Fremde, falls es jemals dazu kommen würde, mit Du oder mit Sie anreden sollte! Jetzt ging ihr das Du ganz selbstverständlich von den Lippen; »Sie« wäre ihr steif und »zieraffig« erschienen.

»Ilse – Ilse Gerhard, und du?« Die graubehandschuhte Rechte streckte sich nach Lillis kleiner roter Hand aus und drückte sie freundschaftlich.

»Warum haben wir uns denn so lange nicht getroffen? Warst du krank?«

»Lilli Steffen,« flüsterte Lilli selig zurück.

Nein, daß sie auch nicht auf den Namen Ilse gekommen war! Es schien ihr jetzt, als ob die neue Freundin gar nicht anders hätte heißen können.

»Ich bin dreizehn Jahr alt; du auch?« begann Ilse jetzt wieder.

»Ich werde bald vierzehn – in fünf Monaten; findest du, daß ich sehr klein dafür bin?« fragte Lilli angelegentlich und hätte sich, wäre sie nicht gerade gesessen, sicher auf die Fußspitzen gestellt.

»Ich finde dich so, wie du bist, gerade nett,« war Ilses wohltuende Antwort.

Lilli hatte ihr dafür gern einen Kuß gegeben, aber da man das als wohlerzogenes Mädchen nicht in einem Eisenbahnabteil tut, mußte sie sich wieder mit einem Händedruck begnügen.

»Warum haben wir uns denn so lange nicht getroffen; warst du krank?« Von morgens bis abends hätte Lilli fragen können und wäre doch nicht mit all dem fertig geworden, was ihr am Herzen lag.

»Bewahre! Aber es war doch so schlechtes Wetter.«

»Was – bei schlechtem Wetter gehst du nicht in die Schule?« verwunderte sich Lilli.

Die Braunhaarige zog ihr Taschentuch hervor und preßte es gegen den Mund. Aber es half alles nichts. Die Lachmuskeln ließen sich nicht bändigen; sie prustete nur um so lauter heraus. Die Frage war aber auch zu schnurrig! Dann jedoch äugte Ilse ein wenig ängstlich zu Lilli hin, ob die ihr das Auslachen auch nicht etwa übelnahm.

I wo! So war Lilli nicht; die lachte von Herzen mit.

»Nein – weißt du – ich wohne in Wannsee,« erklärte Ilse, als sie sich endlich ausgelacht hatte. »Aber weil mir der Arzt viel Bewegung in freier Luft verordnet hat, muß ich morgens bei gutem Wetter immer den Weg durch den Wald zum Bahnhof Schlachtensee machen. Meine Miß bringt mich hin. Bei schlechtem Wetter fahre ich gleich von Wannsee aus.«

Also das war des Rätsels Lösung!

Bald wußte Lilli so ziemlich alles von der neuen Freundin: daß sie in einer schönen Villa am Wannsee wohnte, daß ihr Vater Bankdirektor war und jeden Vormittag mit seinem Auto nach Berlin hineinfuhr.

Die kleine Lilli verstummte nun plötzlich. So fein hatte sie es freilich nicht daheim! Ob sie der neuen Freundin am Ende nicht zu einfach war?

»Und du?« fragte Ilse gerade jetzt. »Wo wohnst du, Lilli, und warum fährt dein Vater jeden Morgen mit euch zur Schule?«

»Vater ist Oberlehrer an Ludwigs Gymnasium, und wir wohnen in der Kirschallee – das kleine weinumrankte Haus, das dritte von der Ecke. Eine Villa ist es ja nicht,« setzte sie ein wenig kleinlaut hinzu, »aber es ist schön bei uns – so schön!«

Ihre braunen Augen begannen wieder zu glänzen, als sie an ihr trauliches Zuhause dachte.

»Ja, freilich, du hast Geschwister,« entgegnete Ilse sehnsüchtig. »Deinen großen Bruder kenne ich ja schon. Wie viele Jahre ist er älter als du?«

»Ludwig?« – Lilli lachte – »er ist drei Stunden jünger als ich; wir sind Zwillinge.«

»Ach nee!« rief Ilse erstaunt.

»Ja, siehst du, jetzt findest du mich doch klein und unscheinbar, nicht?« Lillis lustiges Gesicht sah mit einem Male sehr betrübt drein.

Ilse, die der neuen Freundin großen Kummer noch nicht kannte, lachte bloß herzlich.

»Natürlich bist du klein – klein und niedlich wie ein Püppchen; gerade darum habe ich dich so lieb.«

In diesem Augenblick empfand es Lilli zum erstenmal in ihrem Leben als einen Vorzug, klein zu sein.

»Du hast noch mehr Geschwister, Lilli?« fragte Ilse weiter, und als die kleine Blonde nun von dem Schwesterchen berichtete, das täglich auf sie wartete, von ihren Spielgefährten, dem braunen Dackel Schnauzel und Mija, dem jungen Kätzchen, da seufzte das reiche Mädchen, das in einer Villa wohnte.

»Du weißt gar nicht, wie gut du es hast, Lilli! Ich habe niemand zum Spielen. Mit der Miß muß ich immerzu arbeiten, und Alwine, meine frühere alte Kinderfrau, ist schon ganz steif.«

»Aber du hast doch deinen Vater, Ilse, und ein liebes Mütterchen, nicht?« tröstete Lilli; es fiel ihr jetzt erst auf, daß Ilse noch nichts von ihrer Mutter erzählt hatte.

»Papa hat immer zu tun, und Mama ist sehr leidend; meistens ist sie gar nicht zu Hause. Im Winter lebt sie in Italien oder in Ägypten; im Sommer ist sie in den Bädern. Da darf ich manchmal zu ihr.«

Vor Lillis Blick trat die eigene Mutter mit ihrem herzerquickenden frischen Wesen, ihrem sonnigen Lachen und ihrer Arbeitsfreudigkeit. Mutti, die mit jedem ihrer Kinder fühlte und selbst dabei wieder zum Kinde wurde!

Die arme, arme Ilse! Und die hatte sie vorhin wegen ihrer Villa und ihres Autos auch nur einen Augenblick beneidet? Wie reich war sie selbst doch im Vergleich mit ihr!

»Du wirst es gewiß langweilig bei mir finden,« sagte Ilse etwas beklommen, »wenn du mich einmal besuchst. Nicht wahr, du kommst doch sehr bald?« drängte sie.

»Wenn Vater und Mutter es erlauben – je eher, je lieber,« entgegnete Lilli mit der ihr eigenen, von Herzen kommenden Liebenswürdigkeit.

Da schlang Ilse den Arm um das ihr noch vor einer halben Stunde gänzlich fremde Mädchen und tat das, was Lilli gern schon längst getan hätte: sie drückte einen innigen Kuß auf die rosige Grübchenwange der anderen. Freilich, das Abteil hatte sich inzwischen geleert. Nur in der Ecke saß noch ein alter Herr, aber der war in seine Zeitung vertieft.

»Ich habe mir schon längst eine Freundin gewünscht, eine richtige, beste! Sag, Lilli, besitzest du schon eine beste Freundin?« forschte Ilse aufgeregt.

»Nein, nur eine zweitbeste,« lautete Lillis glückliche Antwort.

Mit Lena Ritter war sie wirklich nicht mehr so innig befreundet, und als beste Freundin hätte diese auch keine Anstrengungen machen dürfen, sie von ihrem ersten Platz herunterzubringen.

»Also dann sind wir von heute an Herzensfreundinnen und teilen Freud' und Leid miteinander! Und Bösesein gibt's nicht,« sagte Ilse feierlich. »Morgen bringe ich dir ein Freundschaftszeichen mit, und du gibst mir auch eins – ja? – zum Andenken, wenn wir gestorben sind!«

Diesen Gedanken fand Lilli wunderschön und poetisch, und wieder küßten sie sich.

Da gellte der schrille Pfiff der Lokomotive in die innige Freundschaftsbezeugung. Der Zug hielt. Ilse warf einen raschen Blick durch die wasserbeperlte Fensterscheibe in das rieselnde Grau hinaus.

»Schon Wannsee! Ich muß 'raus – Lilli, du bist ja zu weit gefahren!« Damit sprang Ilse wie ein Gummiball aus dem Zuge.

»Ich komme mit,« rief Lilli in jähem Erschrecken hinter ihr her, und da stand auch sie draußen in dem Regenwetter.

»Himmel, was mache ich denn jetzt bloß?« sagte die kleine Lilli ganz bestürzt; wirklich, Vater hatte recht – die Prosa des Lebens entweiht die höchsten Augenblicke.

»Du kommst mit zu mir – ach ja!« jubelte Ilse.

»Nein, das geht nicht. Mutter ängstigt sich; sie wird jetzt schon in Sorge sein, wenn ich später komme, daß es irgend ein Eisenbahnunglück gegeben hat. Ach, bitte, wann geht der nächste Zug nach Schlachtensee zurück?« wandte sie sich an einen Beamten.

»Der ist eben durch; da mußt du noch eine halbe Stunde warten, Kleine,« lautete die Antwort.

Lilli wurde blaß. Aber es war nicht nur das Entsetzen über die Zeitversäumnis und über Mutters Sorge schuld an ihrer Gemütsbewegung. Nein, vor der neuen Freundin hatte sie der fremde Mann »Du« und »Kleine« genannt! Das schmerzte tief. Ach, wie sie sich schämte! Sicher widerfuhr solch eine Schmach Ilse, die über einen halben Kopf größer war als sie, nicht mehr.

Aber Ilse schien die Anrede gar nicht gehört zu haben, denn sie sagte schwankend: »Lilli, ich würde so gern bei dir bleiben, bis der Zug kommt; wir haben uns doch eben das Wort gegeben, Freud' und Leid gemeinsam zu tragen. Aber unten steht die Miß mit einem Bombenschnupfen und wartet auf mich in dem schlechten Wetter.« Sie schien nicht recht zu wissen, wo ihre Hauptpflicht lag.

»Natürlich mußt du gehen,« entschied Lilli selbstlos.

Was nützen alle heiligen Freundschaftsschwüre, wenn eine verschnupfte Miß unten wartet!

»Also auf morgen! Hoffentlich regnet es sich heute aus, daß wir uns morgen früh treffen können.«

Noch ein zärtlicher Blick, nicht endenwollendes Handschütteln, dann verschwand Ilses schlanke Gestalt hinter den Regenschleiern. Lilli war allein auf dem menschenleeren Bahnsteig in der grau verhängten Landschaft.

Hu – wie ungemütlich! Sie fröstelte. Ob sie den Weg durch den Wald zu Fuß nach Hause ging? Vielleicht kam sie dann um ein paar Minuten früher heim. Aber ein Blick auf die windgepeitschten Bäume am Waldrand, die sich spukhaft aus dem Nebel hoben, ließ sie davon abstehen. Denn Lilli war – zu ihrer Schande sei es verraten – ein kleiner Hasenfuß. Ihre lebhafte Phantasie mochte wohl schuld daran tragen. Hinter jedem Busch witterte sie Waldkobolde; in jedem Maulwurfshügel erblickte sie die Höhle von Erdmännlein.

Nein, allein ging sie bei dem häßlichen Wetter nicht durch den Wald! Lieber setzte sie sich in den Warteraum; da war man wenigstens vor dem Winde geschützt.

Lilli zog ihr französisches Buch hervor und begann zu präparieren. Die Vokabeln schrieb sie dann zu Hause auf; so vergeudete sie die Zeit doch nicht ganz. Dabei beobachtete sie, wie der Zeiger der Bahnhofsuhr von Minute zu Minute rückte. Du lieber Himmel, es ging schon auf drei! Wie würde Mutti sich sorgen, die sie niemals gern allein in der Eisenbahn fahren ließ! Nur der Gedanke, daß sie jetzt eine beste Freundin hatte, vermochte Lilli zu trösten.

Nun saß sie endlich in dem zurückfahrenden Zuge. O je, er fuhr doch sonst so rasch, und heute schien er förmlich durch die trübe Landschaft zu kriechen!

Im Laufschritt ging es dann das Endchen vom Bahnhof heim. An der Gartentür stand diesmal nicht Klein-Margot, wohl aber Mutti, eingehüllt in den großen Regenumhang. Mit angstvollen Augen schaute sie nach ihrer Ältesten aus.

Da hing Lilli auch schon an der Mutter Hals.

»Mutti, ach Mutterchen, sei nicht böse ...!«

»Kind, was ist denn bloß geschehen?« Ganz fest hielten sie die Mutterarme, als könne Frau Doktor Steffen es gar nicht fassen, daß sie ihr Mädel wieder heil und unversehrt am Herzen hielt.

Drinnen in dem gemütlichen Eßzimmer erzählte Lilli, während sie sich die dampfende Kartoffelsuppe munden ließ, von ihren Erlebnissen.

Mit großen Augen lauschte das Schwesterchen. Das klang ja fast wie ein Märchen vom verirrten Kinde! Mutter aber schüttelte den Kopf und machte ein ernstes Gesicht.

»Siehst du, Lilli, das ist es, was mich an deinem Wesen betrübt. Du lebst nicht genug in der Wirklichkeit; du bist nicht zuverlässig. Durch die neue Freundin vergißt du alles andere, fährst mit offenen Augen über das Ziel hinaus. Wie soll das mal später im Leben werden? Vater ist kein reicher Mann; du wirst also nach der Schule daran denken müssen, auf eigenen Füßen zu stehen. Welchen Beruf aber kannst du erfüllen, wenn du nicht mal imstande bist, deine Gedanken zu sammeln? Wirklich, Kind, ich mache mir ernstlich Sorge um dich.«

Mutti traurig – ihre immer lachende Mutti? Nein, das durfte nicht sein.

Lilli bot ihre ganze Zärtlichkeit, ihre allerbesten Vorsätze auf, um Muttchen wieder froh zu stimmen.

»Ich werde schon was Tüchtiges im Leben leisten – verlaß dich drauf, Mutti! In der Schule tue ich ja auch meine Pflicht!«

So unternehmungslustig, entschlossen und tatkräftig stand die kleine Gestalt Liliputchens vor der Mutter, als gelte es sofort, die ganze Welt zu erobern. Unwillkürlich mußte Mutti wieder lächeln, und da hatte das Töchterchen gewonnenes Spiel.

»Nicht wahr, ich darf doch Ilse besuchen?« fragte nun Lilli ganz aufgeregt. »Ilse Gerhard heißt sie – ist das nicht ein schöner Name? Und in einer Villa wohnt sie am Wannsee, und ein Auto haben sie auch, Muttchen. Vielleicht darf ich damit mal nach Hause fahren.«

»Ich fahre mit, Lilli – ja, ich will auch Auto fahren,« jubelte das Schwesterchen.

»Wir holen dich vielleicht mal mit dem Auto ab,« versprach Lilli großmütig.

»Ihr werdet wohl alle beide nicht fahren,« entschied Mutter belustigt. »Mir paßt eine derartige Freundschaft nicht für dich, Kind! Du bist einfach und bescheiden, und so sollst du bleiben – wie es uns zukommt. In solch einer herrschaftlichen Villa wird einem halbwüchsigen Mädel nur zu leicht ein Sparren in den Kopf gesetzt. Trage deine Teller in die Küche! Minna kann nicht noch einmal mit Abräumen beginnen.«

»Ach, Mutti, so ist die Ilse doch nicht! Die ist selbst ganz bescheiden; du kannst sie ja kennen lernen. Vielleicht darf sie mich zuerst besuchen,« ereiferte sich das Töchterchen.

»Das müssen wir ihren Eltern überlassen, und nun wollen wir die Angelegenheit mal für heute als erledigt betrachten. Mach deine Schularbeiten, mein Mädel, daß du dich nachher um Margot kümmern kannst! Ich muß in die Stadt.«

Ja, das war leichter gesagt als getan, eine Angelegenheit von solcher Wichtigkeit als erledigt anzusehen. Wie konnte man Französisch präparieren und englische unregelmäßige Verben lernen, wenn einem die kaum gewonnene Herzensfreundin wieder entrissen wurde! Wie sollte man mit dem Schwesterchen Bilderbogen ausschneiden und Schnauzel mit Hut und Muff von der Puppe bekleiden, wenn es einem gar nicht so fröhlich zumute war!

Lilli, sonst die lustigste Spielgefährtin für Klein-Margot, war heute nicht recht bei der Sache. Das Freundschaftszeichen, das sie morgen ihrer Ilse mitzubringen versprochen hatte, machte ihr auch Kopfzerbrechen. Etwas Schönes mußte es sein, denn es sollte doch über das Grab hinaus dauern. Aber was hatte sie zu verschenken? Sachen, die ihr selbst gehörten, durfte sie natürlich nicht ohne Wissen der Eltern fortgeben. Und etwas kaufen?

Lilli holte ihren kleinen irdenen Mohrenkopf herbei, in dem es lustig von ersparten Geldstücken klimperte. Mit großen Augen sah Margot zu, wie die Schwester mit der Schere geschickt ein Nickelstück nach dem anderen aus den dicken roten Negerlippen hervorzog, die den Spalt bildeten. Nein, was hatte der Mohr alles verschluckt!

Zwei Mark und siebenunddreißig Pfennig – da lag der ganze Reichtum vor Lilli ausgebreitet. Davon durfte sie nichts nehmen; es wäre ihr wie ein Raub an Muttchens Geburtstag vorgekommen. War doch ihr eifrigstes Ziel, es bis dahin noch auf drei Mark zu bringen.

Also was tun? Der Mohr schluckte wieder seine Nickelstücke, und Lilli war so klug wie zuvor.

»Halt – ich hab's,« rief sie plötzlich und jagte die Treppe zu ihrem Mansardenstübchen hinauf.

»Was hast du denn? Ach, bitte, zeige es mir!«

Neugierig lief Margot hinterdrein.

»Och, bloß so 'n olles Blatt,« sagte die Kleine oben enttäuscht, als Lilli aus ihrem Herbarium ein wunderschönes vierblätteriges Kleeblatt zog.

Ihren Glücksklee wollte sie der neuen Freundin schenken! Den hatte sie selbst gepflückt und gepreßt. Sicher würde sich Ilse über die sinnige Gabe freuen.

Sie klebte das Blättchen auf einen winzigen rosa Briefbogen, schrieb mit ihrer schönsten Schrift darunter »Zur ewigen Erinnerung« und legte es in ein Heft. Nun war sie wieder fröhlich wie immer.

Der Vater und Ludwig kehrten nach Hause. Lilli kam dienstbereit hinzu, nahm ihnen die nassen Sachen ab, hängte sie zum Trocknen auf und goß dann den warmgesetzten Kaffee ein. So schnell ging ihr alles von der Hand, und so froh sah ihr Gesicht dabei aus, daß es beiden, Vater und Bruder, auch ums Herz warm wurde.

»Schade, daß Mieze unser Liliputchen nicht so sieht,« dachte der Vater. »Wie sie bemüht ist, die Mutter hier zu ersetzen! Sie würde sich über sie freuen.« Damit klopfte er dem eifrig Buttersemmeln streichenden Töchterchen die rosige Wange.

»Na, was hat es in der Schule gegeben, Wildfang?«

»In der Schule? Ach, da war's heute ziemlich mopsig. Aber nachher, Väterchen – denke mal, ich habe eine beste Freundin!«

»I der Tausend,« rief der Vater belustigt, während Ludwig flink einen Riesenhappen hinunterschluckte, daß er fast daran erstickte, nur um auszurufen: »Doch nicht etwa ...«

»Jawoll ja, sagt Olja« – Lilli lachte ausgelassen – »Ilse heißt sie – Ilse Gerhard – Und das braunlockige Mädchen ist es von der Bahnstation, das immer ein weißes Matrosenkleid trug. Du weißt doch, Vaterchen?«

Der Vater hatte zwar keine Ahnung mehr, aber er tat seiner Lilli den Gefallen, mit dem Kopf zu nicken.

»Na, was sagst du nun, Ludwig?« wandte sie sich triumphierend an den Bruder.

»Du bist ein Tausendsasa, Lilli! Wie hast du denn das so schnell zuwege gebracht? Oder hat dir deine Fee etwa geholfen?« Er zwinkerte dabei mit einem Auge.

»Im Gegenteil! Irgend ein Kobold hat mich geneckt, denn beinahe wäre ich durch unsere neue Freundschaft bis nach Potsdam gegondelt.«

»Man kann doch die Kleine nicht allein lassen,« erklärte der große Bruder neckend.

»Oho!« Lilli kletterte bereits wieder auf die Zehenspitzen, um größer zu erscheinen. »Und nicht wahr, Vatchen, du siehst dir meine Ilse an, ob ich mit ihr verkehren darf? Sie ist gar nicht so, wie Mutti denkt, wenn sie auch in einer Villa wohnt.«

An diesem Tage wurden in Lillis Mansardenstübchen auf Großmamas altem Ledersofa keine Märchen erzählt. Lilli wurde nicht müde, dem Bruder von den Vorzügen der neuen Freundin zu berichten, bis dieser schließlich mit der Erklärung: »Mädchenfreundschaften sind schrecklich öde,« ihre Schwärmereien gähnend unterbrach.

Nein, solch ein Gymnasiast hat doch recht wenig Gemüt, und wenn es selbst der allerbeste Bruder ist!


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