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Im Schauspielhaus

Mit weihevollen Gefühlen betrat Lilli zum erstenmal in ihrem Leben den gewaltigen Bau des Schauspielhauses. Die Vorfreude legte sich ihr förmlich beklemmend auf das in Erwartung rascher schlagende junge Herz.

Ludwigs Gefühle waren weniger weihevoll. Mit unverhohlener Neugier ließ er seine Augen in der fremden Umgebung herumspazieren. Er warf einen begehrlichen Blick auf die leckeren Dinge, die am Büfett ausgestellt waren, und lotste dann als gewandter Kavalier seine Dame geschickt durch die Menschenmenge zur Kleiderablage.

Die Geschwister Ritter saßen schon auf ihren Plätzen. Lena begrüßte Lilli nur mit selig leuchtenden Augen; zu sprechen wagte sie vorläufig nicht. Sie war noch nie in einem Theater gewesen, und von dem Lichterglanz, von der Fülle schöngeputzter Frauen und feierlicher Herren ganz benommen.

Lilli bereute es nicht, Lena die Karte gegeben zu haben. Sie hatte so viel Glück dadurch hervorgerufen, daß der Widerschein davon in ihr eigenes Herz zurückstrahlte. Es war bei Lena Ritter nicht nur die Freude über die geschenkte Theaterkarte. Die Freude, daß Lilli sich ihr wieder zuwandte, war bei weitem größer. Das stille, bescheidene Mädchen hatte wortlos unter Lillis Zurücksetzung gelitten.

Lilli hatte nur Sinn und Auge für die Vorstellung auf der Bühne.

Das erste Klingelzeichen ließ die Herzen unserer vier schneller schlagen. Beim zweiten begannen sie zu hämmern, und beim dritten setzten sie vor Aufregung ganz aus.

Es wurde dunkel; der Vorhang rollte empor.

Für Lilli war das gefüllte Theater mit den vielen Menschen auf einen Schlag in nichts zerflossen. Mit der Wunderkraft der Phantasie war sie plötzlich in England im Schloß zu Fortheringhay. Die unglückselige Königin, die ihre Teilnahme schon beim Lesen des Stückes stark erregt hatte, ergriff sie durch ihren rührenden Anblick so sehr, daß sie in Tränen zerfloß.

Einige Nachzügler kamen und suchten behutsam ihre Plätze im Dunkeln auf. Auch vor Lillis Augen, die ganz der Wirklichkeit enthoben war, schob sich ein Etwas und nahm auf dem noch leeren Sitz an ihrer Linken Platz. Lilli beachtete es nicht; für sie lebte jetzt nur Maria Stuart.

Der jungen schönen Königin wurde ihr Todesurteil überbracht. Sie nahm es mit würdiger Fassung entgegen, das Liliputchen aber verlor seine Fassung ganz und gar. Die Schreckensbotschaft brach ihm das weiche Herz; es begann laut aufzuschluchzen, daß von allen Seiten »St – St« ertönte.

Ludwig flüsterte beruhigend: »Es ist ja alles gar nicht wahr, Liliputchen! Es ist ja nur Theater!« Aber für diese Äußerung hätte Lilli ihren Bruder fast verprügeln können; sie fühlte sich dadurch völlig aus der Illusion gerissen.

Doch nur auf Sekunden! Dann war sie wieder schwer atmend mitten drin in dem Spiel, das für sie kein Spiel war.

Wenn es doch niemals hell werden wollte! Wenn es doch ohne Pause weiterginge! Grausamer als Ludwigs Worte riß sie das aufflammende Lichtmeer in die Wirklichkeit zurück. Mitleidig lächelnde Blicke wandten sich zu dem reizenden kleinen Blondkopf hin, der tränenüberströmt dasaß.

Ein feines Batisttüchlein strich zärtlich über Lillis gesenktes, nasses Gesicht. War das die gute Lena?

Nein, die saß rechts von ihr. Also eine Fremde? Die Schmach war groß, daß eine Unbekannte ihr wie einem Kinde die Tränen von der Wange wischte!

Lilli hob in beleidigter Abwehr den Kopf, und – »Ilse!« klang es jauchzend durch das Parkett, von demselben Mädchenmund, der noch vor Minuten bitterlich geschluchzt hatte.

Wieder drehten sich die Köpfe zu dem blonden Mädelchen. Das aber hatte keine Ahnung von dem Aufsehen, das es erregte. Es hatte den Arm um die neben ihr sitzende Braunlockige geschlungen und küßte sie in solch stürmischer Freude, als sei die zum Tode verurteilte Maria plötzlich begnadigt worden. Aber was ist die bemitleidenswürdigste Königin, was ist ein ganzes Parkett voll neugieriger Menschen für ein junges Ding, wenn plötzlich unvermutet die beste Freundin neben ihm sitzt!

Lilli sah nur Ilse, die über die gelungene Überraschung strahlte. Auch Lena und die beiden Jungen begrüßten Ilse Gerhard erfreut. Allerdings, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ludwigs Freude galt zum Teil auch der umfangreichen Schokoladentüte, die Ilse in Händen hielt.

Lilli zeigte heute, daß sie trotz aller Anstrengungen, möglichst groß zu erscheinen, doch noch ein richtiges Kind war. Nur in diesem glücklichen Alter ist ein so jäher Übergang vom tiefsten Schmerz zur jauchzenden Freude möglich.

Sie ertrug vorläufig, da sie mit der Linken Ilses und mit der Rechten Lenas Hand umklammert hielt, das Schicksal Maria Stuarts in stiller Ergebenheit, so sehr es sie auch packte. Nur einmal, da das furchtbare Urteil in Kraft trat, stieß sie einen entsetzten Schrei aus, trotzdem Ilses Hand sich ihr beschwichtigend auf die Lippen legte.

Auch Ludwig hatte in höchster Empörung: »So 'ne Gemeinheit!« gerufen.

Als der Vorhang sich endgültig senkte, war Lilli nicht zu beruhigen. Sie hatte den Kopf an Lenas Schulter gelegt und schluchzte herzbrechend. Auch die anderen waren tief ergriffen, aber sie zeigten es nicht so. Alles Streicheln der Freundinnen, alle Trostworte der Jungen verhallten ungehört in Lillis Jammer.

»Es ist ein rechter Unsinn, solch kleines Jör, das sich derartig aufregt, mit in ›Maria Stuart‹ zu nehmen,« sagte ein vorübergehender Herr, der die kleine Lilli für jünger hielt, als sie war. »Solch Wurm gehört ins Bett und nicht ins Schauspielhaus!«

Was alle Trostworte und Liebkosungen der Freundinnen nicht vermocht hatten, erreichte dieser Ausspruch eines Fremden. Das Schluchzen hörte auf; Lilli trocknete sich entschlossen die Tränen und reckte ihre zierliche Gestalt.

Empörend, daß man sie »kleines Jör« und »Wurm« zu betiteln wagte! Daß man sie statt ins Schauspielhaus ins Bett schicken wollte, während sie doch bereits einen Aufsatz über »Maria Stuart« geschrieben hatte! Sie war im Augenblick zweifelhaft, welche Schmach die größere sei: die, welche man der Königin von Schottland angetan hatte, oder die ihr soeben zugefügte.

Draußen am Ausgang stand Onkel Martin. Er machte ein belustigtes Gesicht, als er die fünf so betrübt ankommen sah.

»Na, tüchtig gelacht, Kinder?« empfing er sie, um ihre Stimmung ein bißchen aufzuheitern.

Da lachten sie wirklich und dankten dem guten Onkel von Herzen für die gespendeten Eintrittskarten.

Onkel Martin ließ sich von Lilli ihren Freundinnen vorstellen. Er nahm den Hut vor ihnen ab, als seien sie richtige Damen; ja, er nannte sie »Sie« und »gnädiges Fräulein«. Lilli merkte freilich, daß er nur Ulk machte, aber als Lena und Ilse baten, doch »Du« zu sagen, war ihr das auch nicht recht. Gerade Onkel Martin gegenüber mußte man auf seine fast vierzehnjährige Würde halten!

Vor dem Tor wartete das Auto des Bankdirektors. Papa holte seine Ilse selbst ab. Lilli und Ludwig mußten mit einsteigen, da sie den gleichen Weg hatten. Onkel Martin aber, der nur hatte sehen wollen, ob seine »Küken« wohlbehalten nach Hause kämen, machte das Maß seiner Güte voll. Er brachte Lena und Walter Ritter heim, die im Schöneberger Stadtviertel wohnten.

Was war herrlicher, »Maria Stuart« oder die rasende Autofahrt durch den nächtlichen Grunewald? Lilli kam zu keinem Ergebnis dieser Überlegung, während Ludwig sicherlich letzterer den Vorzug gegeben hätte.

Ilses Papa, vor dem Lilli eine gewisse Scheu gehabt hatte, war so nett zu den Kindern und bat sie so herzlich, seiner Ilse die Einsamkeit recht oft zu zerstreuen, daß Lilli, die eigentlich seit heute abend für Mortimer hatte schwärmen wollen, ihr Herz zwischen beiden teilte.

Wie in einem Zaubermantel fühlte sie sich sausend durch die Lüfte getragen. Als das Auto in der Kirschallee hielt, wollte sie es nicht glauben, daß sie schon daheim war. Bei dem zärtlichen Abschied flüsterte Ilse noch ihrer Lilli zu: »Lena ist jetzt auch meine Freundin; sie hat es mir nach dem vierten Akt versprochen.«

Drinnen erwarteten die Eltern ihre Kinder und nahmen lächelnd den begeisterten Bericht über »Maria Stuart« und des Bankdirektors Auto entgegen. Aber als Ludwig etwas erhaben berichtete: »Lilli hat wie Schnauzel geheult, wenn er eingesperrt ist,« fragte der Vater: »Na und du, mein Sohn?«

»Tertianer weinen nicht, die würgen es 'runter,« war die männliche Antwort.

Dann lag Lilli im Bett, und kleine Traumgötter entführten sie aus dem Mansardenstübchen blitzschnell in das englische Königschloß. Sie selbst war die stolze Elisabeth, die Leben und Tod in ihrer Hand hielt. Aber natürlich begnadigte sie die Maria, die im Traum genau wie Lena Ritter aussah. Dann wieder hörte sie deutlich die Stimme des fremden Herrn im Theater: »Solch kleines Jör, das ins Bett gehört, will Königin von England sein!« Aber als sie sich den Schlaf aus den Augen rieb, war es die Stimme von Anna, die zum Aufstehen rief. Aus der stolzen Elisabeth wurde im Umsehen wieder die kleine Lilli Liliput, die ihren Schulranzen auf den Rücken schnallte.

Ja, das war auch einer von Lillis Schmerzen, daß sie noch wie ein Kind eine Rückenmappe tragen mußte! Alles Bitten, alle Weihnachts- und Geburtstagswünsche waren unberücksichtigt geblieben. Die Eltern hielten es dem Körper für zuträglicher; Lilli mußte ihre entwürdigende Last weiter auf den Schultern tragen.

In der letzten Stunde wurden heute die Aufsätze zurückgegeben. Lilli hatte diesmal gar keine Besorgnis. Sie war davon überzeugt, daß der Aufsatz, den sie weniger mit dem Verstande als mit dem Herzen geschrieben hatte, dem Lehrer gefallen mußte.

»Ich bekomme bestimmt eine schlechte Nummer,« flüsterte Lena Ritter aufgeregt. »Ich habe das Thema viel zu trocken behandelt.«

Lilli sah Lena mitleidig an. Nein, sie selbst brauchte davor keine Angst zu haben!

Doktor Petersen gab die Hefte, nicht nach der Nummer geordnet, sondern wie sie gerade lagen, zurück.

»Ritter: eins bis zwei – verständige Arbeit!«

Lena nahm glücklich ihr Heft in Empfang. Auch Lilli lächelte ihr erfreut zu. Sie gönnte der fleißigen Lena von Herzen das gute Urteil. Außerdem: wenn Lena eins bis zwei hatte, bekam sie sicherlich eine Eins.

»Steffen: drei – dummes Zeug – Gefühlsduselei!«

Lilli glaubte nicht recht gehört zu haben. Es schwirrte ihr vor Augen und Ohren. Da aber reichten dienstbereite Hände ihr schon das Heft herüber.

Mit blutroten Lettern stand unter der mit besonderer Sorgfalt geschriebenen Arbeit die dicke III. Auch am Rande fanden sich häufige Anmerkungen mit roter Tinte: »Ganz unlogisch – unklar – zu überschwenglich.«

Geknickter konnte Maria Stuart selbst das vernichtende Urteil nicht empfangen haben, als Lilli das ihres für so schön gehaltenen Aufsatzes. Sie, die bisher gerade im deutschen Aufsatz geglänzt, deren Phantasie Doktor Schuster erst neulich belobt hatte, bekam eine Drei!

Zu Lena, die ganz entsetzt darüber war, daß man ihre Arbeit besser als die Lillis beurteilt hatte, war sie heute doppelt nett. Die konnte doch nichts dafür! Aber in der Bahn entlud sich ihre Empörung.

»So 'ne Ungerechtigkeit! Bloß weil mich der langweilige Peter nicht leiden kann, hat er mir die schlechteste Nummer gegeben.«

Mit diesen Worten machte sie auf der Heimfahrt ihrem gekränkten Stolze Luft, und Ludwig pflichtete ihr brüderlich bei. Der Vater aber legte mit ernstem Blick den Finger auf den Mund, und als das Abteil sich geleert hatte, sagte er verweisend: »Ich will es deiner Enttäuschung zugute halten, Lilli, daß du eine Ungerechtigkeit da suchst, wo sicherlich nur eine strenge Beurteilung vorliegt. Aber daß du solche unehrerbietige Bezeichnung auf deinen Lehrer gebrauchst wie vorhin, muß ich dir unter allen Umständen verbieten. Du kannst mir deinen Aufsatz nachmittags geben; ich werde ihn durchlesen.«

Selbst Vater tadelte sie heute?! Lilli hüllte sich in weltverachtendes Schweigen.

Auch Mutter hatte keinen Trost für ihr Töchterchen, oder vielmehr einen, der nicht nach Lillis Sinn war.

»Das schadet dir gar nichts, Kind, daß du mal eine weniger gute Nummer bekommen hast! Du siehst wenigstens dadurch, daß du durchaus nicht vollkommen bist. Von all den Einsen wirst du leicht eingebildet; Doktor Petersen mit seiner Drei ist eine ganz heilsame Medizin.«

Das sah Lilli nun natürlich nicht ein. Als Vater sie gegen Abend in sein Studierzimmer rufen ließ, war sie noch ebenso von der Ungerechtigkeit des Lehrers überzeugt wie am Vormittag.

Vater saß an seinem Schreibtisch und blätterte in dem nicht anerkannten Aufsatz. Zu seinen Füßen lag Schnauzel; dort war sein Stammplatz.

»Also, Kind, mir hat die Arbeit nicht schlecht gefallen –«

Lilli hob jäh den Kopf.

»Vater, du bist der einzige Lehrer, der gerecht ist – – –«

»Ich danke dir für deine gute Meinung, Lilli, muß sie aber im Interesse meiner Kollegen zurückweisen.«

Der Vater schien guter Laune zu sein. Das merkte auch der Dackel, denn mit einem kühnen Satz sprang er auf seines Herrn Knie und machte es sich in dessen warmen Hausrock bequem.

»Vielleicht hätte dir Direktor Schuster, der phantastische Aufsätze liebt, sogar eine Eins dafür gegeben.«

Lillis Ehre war damit unzweifelhaft gerettet.

»Da siehst du doch selbst, daß es eine Ungerechtigkeit von Doktor Petersen gewesen ist,« rief sie, eilte auf den Vater zu und küßte ihn zum größten Mißfallen von Dackel, der sein schwarzes Schnauzel eifersüchtig dazwischen steckte.

»Langsam – langsam, Fräulein Ungestüm« – Vater strich seinen blonden Bart – »ich kann aber auch sehr gut verstehen, daß ein anderer Lehrer von einem entgegengesetzten Standpunkt aus urteilt. Doktor Petersen war früher Lehrer an einer Jungenschule. Von dort ist er kurze Art, knappen Ausdruck und zielbewußtes Aneinanderreihen von klaren, gründlich überlegten Gedanken gewöhnt; ihm erscheint als Gefühlsduselei, was Doktor Schuster vielleicht als den Ausdruck einer jungen, schwärmerisch veranlagten Mädchenseele hätte gelten lassen. Manchem Kinde, das nicht viel Einbildungskraft besitzt, muß die Schule und besonders der Aufsatz die Flügel der Phantasie erst entfalten. Wer aber wie eine gewisse junge Dame nur zu Besuch in der Wirklichkeit weilt und im Reiche der Feen mehr zu Hause ist als auf der Erde, der ist solch nüchterne Sachlichkeit – wie sie dein jetziger Lehrer wünscht – ebenso bekömmlich, wie dem Magen, der sich tagelang von Schlagsahnentorte genährt hat, ein tüchtiger Teller Erbsen und Sauerkraut.«

So sprach Lillis Vater, und Schnauzel nickte dazu mit ernsthaftem Hundegesicht, als ob das auch durchaus seine Meinung sei. Lilli mußte lachen. Sie war wieder mal in Vaters Stube zur Vernunft gekommen.


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