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Frühling überall

Über Nacht war es Frühling geworden.

Niemand hatte ihn durch den Garten huschen sehen, den kleinen sonnenhaarigen Lenzgott, nicht einmal Lilli mit ihren Märchenaugen. Nur der steinerne Gnom im Borkenhäuschen, der sich endlich den Winterschlaf aus den Augen gerieben, hatte den frohen Gesellen bei seiner nächtlichen Arbeit belauscht.

Hier zauberte er aus schwarzer Erde Krokus und Himmelschlüsselchen hervor; dort unter den Hecken streute er Blauveilchen und Schneeglöckchen mit vollen Händen. Die Sträucher liebkoste er, daß die dicken Knospen aufsprangen und zartjunges Blattwerk fürwitzig das grüne Näschen in die unbekannte Welt hineinsteckte. Über die Obstbäume wob er lichtrosa Blütenschleier, so fein und zart, als seien sie junge Prinzessinnen, die zum ersten Ball gingen. Flink noch den grünen Samtteppich über das Rasenrondell gebreitet, die winzigen Kinderhändchen der Kastanienbäume, die so zaghaft in das Leben hineintasteten, zärtlich gestreichelt, und die alte Linde, die noch griesgrämig und verschlafen zwischen all dem Lenzwunder stand, übermütig an dem Ohr gezupft! So – nun war die Arbeit hier getan!

Halt – noch eins! Beinahe hätte das emsige Frühlingskind das vergessen. Eine kleine goldene Hirtenflöte zog es aus dem Gewand und begann zart und lieblich darauf zu blasen. Da hoben die Vöglein rings die Köpfe aus dem neugebauten Nest, und ganz leise zuerst, dann lauter und immer lauter stimmten sie in den Frühlingssang mit ein. Das war ein Jauchzen und Jubilieren in Baum und Buschwerk, daß Lilli erstaunt den Blondkopf aus den Kissen hob und ans Fenster eilte.

Längst war er auf und davon, der kleine Frühlingsgott, aber sein Werk verriet ihn. Das blühte, lockte und flötete da draußen, daß es auch das Backfischchen nicht länger im engen Zimmer hielt. Mit fliegender Hand kleidete Lilli sich an und rief Sonja, der Langschläferin, übermütig zu: »Wach auf, der Frühling ist da!«

Doch die Schlafende hatte nur unverständliches Gegrunze auf die frohe Botschaft. Goldschopf aber im engen Bauer hatte sie verstanden; der schmetterte sein Lied mit den Vöglein draußen um die Wette.

Der Winter war endgültig vorbei. Zum erstenmal nahm man heute in der Veranda den Morgenkaffee ein, für alle Hausbewohner das untrüglichste Zeichen, daß der Frühling eingekehrt war. Vater suchte seinen Strohhut heraus, und Ludwig, der frischgebackene Sekundaner, seine Rudermütze. Lilli hing das Bauer mit ihrem Goldschopf an das offene Mansardenfenster, und die russischen Kinder trennten sich endlich von ihren großen abscheulichen Pelzmützen, die Lilli nicht ausstehen konnte. Klein-Margot peitschte wieder den Kreisel auf den Gartenwegen. Das Kätzchen Mija gab seinen Stammplatz am molligen Herd auf und schnurrte behaglich in der warmen Frühlingsonne; Schnauzel schnappte wieder ärgerlich nach den dreisten Fliegen, die ihm neckend um die schwarze Teckelnase surrten. Frau Mieze aber und Anna, ihre Gehilfin, entfesselten Klopfer und Besen, Eimer, Bürsten und Wasserströme. Das große Frühlingsscheuerfest hielt seinen Einzug in das weiße Lehrerhäuschen.

Frau Doktor Steffen hatte jetzt mehr Muße als früher zu allem, denn das Haus war vormittags leer geworden. Seit Ostern hatte sich die Karawane, die morgens zum Bahnhof eilte, um drei Köpfe vermehrt. Nicht nur Sonja und Iwan fuhren jetzt täglich mit hinein zur Schule; auch Margot, das Nesthäkchen, war ein kleines Schulmädchen geworden.

Für Lilli hatte die Schule dadurch einen besonderen Reiz bekommen. In den Pausen mußte sie sich sowohl um Sonja, die man der dritten Klasse eingefügt hatte, als auch um das kleine Schwesterchen kümmern. Sie fühlte sich jetzt in der Schule durchaus als »Große«. Trotzdem stand sie drunten im Garten mitten im warmen Mairegen. Sie reckte und streckte sich unter der linden Dusche, die Petrus aus seiner großen Wolkengießkanne über Baum und Busch rieseln ließ. Unentwegt, ob das Naß ihr auch durch die dünne Batistbluse drang, stand Lilli Liliput da, denn – im Mairegen wächst nach einem alten Sprichwort alles!

Ludwig, dem die Verantwortung für Iwan oblag, da der Vater meist fünf Stunden täglich am Gymnasium beschäftigt war, hatte ein bei weitem schwierigeres Amt als seine Zwillingsschwester. Der ungebärdige Iwan, dem die fünf Schulstunden ein entsetzlicher Zwang waren, ging auf und davon, sobald die Glocke den Schulschluß verkündete. Freilich nur, wenn er wußte, daß Herr Doktor Steffen nicht mehr in der Nähe war! Nach Ludwigs Aufregung und Angst fragte er nichts; im Gegenteil, es machte dem Strick ein besonderes Vergnügen, seinem jungen Wächter durchzubrennen. Meist fand er sich dann auf dem Bahnhof gerade zum Abgang des Zuges wieder ein und lachte sich ins Fäustchen, wenn er das ängstlich nach ihm ausschauende Gesicht des Sekundaners gewahrte. Denn da er wußte, daß Ludwig es mit seiner Jungenehre nicht in Einklang brachte, ihn beim Vater zu »verpetzen«, fühlte er sich ganz sicher.

Aber an einem besonders schönen Maitage erschien der kleine Russe nicht auf dem Bahnhof. Der Zug, mit dem die Steffenschen Kinder heimzufahren pflegten, ging ab, und Iwan ließ sich nicht blicken.

Lilli und Ludwig sahen sich besorgt an. Was mochte dem Jungen widerfahren sein? Den Zug zu versäumen, hatte er bisher noch nie gewagt. Auch Ilse, die getreulich mit den anderen harrte, wurde von der Aufregung der Zwillinge angesteckt. Nur Sonja, die Nächstbeteiligte, behielt ihre gewöhnliche Ruhe.

»Wirrd sein gegangen spazierren bei schönes Frühlingswetterr,« sagte sie.

»Na, das wäre aber ein starkes Stück! Diese Frühlingsgefühle werde ich ihm austreiben,« ließ sich der erzürnte Ludwig vernehmen.

»Am Ende ist er unter ein Auto gekommen!«

Klein-Margot goß mit dieser Äußerung Öl ins Feuer. Lilli, die phantastische, die sich schon vorher allerlei Schreckensbilder ausgemalt hatte, sah Iwan bereits unter dem Fahrzeug liegen.

»Ich laufe zur nächsten Unfallstation,« rief sie und setzte sich gleich in Trab.

Der nächste und übernächste Zug ging ab: kein Iwan ließ sich blicken. Ilse hatte sich zum Alleinfahren entschließen müssen; sie durfte nicht auch noch daheim Sorge verursachen. Lilli, die unverrichteter Sache von der Unfallstation zurückgekehrt war, dachte ebenfalls schweren Herzens an die Aufregung, die ihr Zuspätkommen bei Mutti nach sich ziehen würde.

Ludwig war noch einmal zum Gymnasium zurückgekehrt, um dort nach dem Verlorengegangenen Nachforschungen anzustellen. Als er blaß und verstört, ohne jeden Erfolg, wieder erschien, erwachte plötzlich in Sonja die Entschlossenheit, die den russischen Mädchen eigen ist.

»Wenn wirr stehen hierr, err wirrd kommen nicht frrüherr,« sagte sie, nun doch aus ihrem Gleichmut gerissen. »Lilli und Margot können fahrren nach Schlachtensee, zu saggen Bescheid. Ich und Ludwig, wirr werrden gehen zu suchen ihn durch Polizei.«

Das war ein vernünftiger Vorschlag. Sie hätten sich schon längst trennen sollen, um die Eltern zu benachrichtigen. Aber die Zwillinge hatten in ihrer Bedrängnis einander nicht verlassen mögen. Nun wurde Sonjas Rat befolgt.

»Gott gebe, daß ihr ihn heil wiederfindet!« Die schwärzesten Bilder, die so gar nicht zu dem Frühlingssonnengeflimmer draußen passen wollten, umschwebten Lilli auf ihrer Heimfahrt.

Vater kam ihnen bereits auf halbem Wege entgegen; ihm ahnte nichts Gutes.

»Iwan ist ausgekniffen, aber die Polizei wird ihn sicher finden,« schrie ihm Klein-Margot die große Neuigkeit schon von weitem entgegen.

Lilli mußte Bericht erstatten. Er kam in der Aufregung ziemlich verworren heraus; die Unfallstation, die eigentlich gar nichts mit der Sache zu tun hatte, spielte darin die Hauptrolle.

Vater gab Lilli Anweisung, ihm sofort, falls Iwan sich zu Hause einfinden sollte, telephonischen Bescheid nach dem bahnpolizeilichen Büro in Berlin zukommen zu lassen. Dann fuhr er schweren Herzens wieder in die Stadt, um die Nachforschungen nach dem ihm anvertrauten Jungen selbst in die Hand zu nehmen.

Eine beklommene Stimmung herrschte inzwischen in dem weißen, fliederumbuschten Lehrerhäuschen. Lilli würgte an ihrem Essen, trotzdem es den ersten Spargel aus dem Garten gab. Weiß wie Glas war er; vor Tau und Tag stand Frau Mieze schon auf, um ihn zu stechen, und voll Stolz hatte sie ihn zubereitet. Nun wurde ihnen allen das Essen durch Iwans Verschwinden verdorben!

Die Kinder, die sich sonst während der Mahlzeit nicht von ihrem Platze rühren durften, liefen alle paar Minuten auf den Balkon, sobald ein Wagen rollte oder Schritte durch die der Maienluft weit geöffneten Fenster hereinschallten. Die unmöglichsten Dinge hatten sie bereits in ihrer Erregung für den kleinen Russen gehalten. Besonders Lillis Phantasie überbot sich heute.

»Muttchen, ich glaube, er kommt – sieh mal, ganz hinten biegt er um die Ecke – das Weiße ist sicher seine Matrosenbluse,« behauptete sie.

Frau Doktor Steffen eilte selbst auf den Balkon. Sie war nicht weniger aufgeregt als ihre Kinder, obgleich sie es zu verbergen wußte. Lieber Himmel, wenn dem ihrer Obhut anvertrauten Kleinen in dem großen Berlin etwas zugestoßen war!

»Wo denn, Lilli – wo?«

»Siehst du denn nicht Muttchen, das Weiße zwischen den Bäumen?«

»Aber, Mädel – wo hast du denn deine Augen! Das ist doch ein weißer Kinderwagen!«

Ja wirklich, Lilli wußte selbst nicht, wie sie zu diesem Irrtum gekommen war. Nicht einmal darüber zu lachen vermochte sie heute; die Brust war ihr wie zugeschnürt.

Aber jetzt – was da um die Ecke bog – in langen Sprüngen kam es näher – ach ne, das war ja bloß der weiße Terrier drüben aus dem Sanatorium.

»Sicher ist der Iwan in den Kanal gefallen; er geht immer so dicht am Gitter lang,« ließ sich Margots Stimmchen recht beruhigend vernehmen.

»Da können ihn wenigstens die Schiffer wieder rausfischen; es liegen dort allenthalben Kähne mit Mauersteinen und Kohlen.« Lilli sah bereits den triefenden Iwan leblos an einer langen Stange baumeln.

»Wenn er an der Potsdamer Brücke ins Wasser gefallen ist, brauchte man ihm bloß den Rettungsball zuzuwerfen,« fiel Klein-Margot ein und schaute fast neidisch drein, denn der große Ball dort war von jeher der Gipfelpunkt ihrer Wünsche.

»Kinder, redet nicht so viel Unsinn! Der Iwan ist viel zu wasserscheu, um in den Kanal zu fallen.« Aber trotz des Scherzes war der Mutter durchaus nicht danach zumute.

»Lilli, stelle das Essen für Ludwig und Sonja warm; Iwan geht heute leer aus. Dann setzt euch an eure Schularbeiten! Er kommt dadurch nicht früher, wenn ihr euch auch die Hälse nach ihm ausreckt.«

Aber es ist nicht so einfach, seine Gedanken auf Friedrich den Großen, mathematische Aufgaben und französische Vokabeln zu vereinigen, wählend sich sämtliche Unglücksfälle, die man jemals in der Zeitung gelesen hat, vor dem inneren Auge abrollen. Lilli ließ Iwan durch Feuer, Wasser, Gas, Elektrizität, ja sogar durch den Sturz eines Fliegers ums Leben kommen. Denn daß dem kleinen Russen etwas ganz Schreckliches geschehen sein müsse, davon war sie felsenfest durchdrungen. Ihr weiches Herz ließ sie schon im voraus Tränen über das frühzeitige Ende des armen Iwan vergießen. Wenn er auch ein kleiner Rüpel war, sie hatte ihn trotz aller seiner Fehler liebgewonnen.

Ein Wagen – in der stillen Straße draußen im Vorort hörte man nur selten Rädergeroll. Sicher, das hatte was zu bedeuten! Friedrich der Große flog zur Seite und Lilli auf den Balkon.

»Ist ja bloß ein Karren,« ließ sich Margots Stimme enttäuscht vernehmen, die draußen schon spähte.

»Das ist ja gerade das Aufregende! Verunglückte werden meist auf Karren heimgeschafft!« Woher Lillis Weisheit stammte, wußte sie selber nicht.

Der Karren kam näher, ohne daß man klüger wurde.

»Es quiekt genau, wie Iwan es manchmal macht,« sagte Margot lauschend.

»Dann lebt er – Gott sei Dank!« Lilli trocknete ihre Tränen.

Aber als sich der Wagen schließlich als ein Schweinekarren entpuppte, auf dem Ferkelchen lustig durcheinanderquiekten, wußte Lilli nicht, ob sie lachen oder den kleinen Russen weiter beweinen sollte.

Doch während man die Berliner Polizei wegen des verlorengegangenen Iwan Pietrowicz aufstörte, während soundsoviel Herzen angstvoll um das Schicksal des kleinen Russen bangten und Lilli sich in ihrer Trauer bereits eine schwarze Schleife vorgesteckt hatte, tauchte dieser mit seelenvergnügtem Gesicht plötzlich gegen fünf Uhr nachmittags in Schlachtensee auf.

Schnauzel tat seine Anwesenheit als erster kund. Langgezogenes Gewinsel erscholl aus dem Garten.

Lilli stürzte zur Treppe, Margot hinterdrein.

»Das ist Iwan – er muß da sein! So jault Schnauzel nur, wenn der Junge ihm auf den Schwanz tritt!«

Ja, da stand er, der Schlingel, durchaus lebendig. Unter dem blühenden Schneeballbusch stand er mit einem Gesicht, so unschuldig wie die weißen Blüten zu seinem Haupte.

»Iwan!«

Jubelnd flog Lilli auf ihn zu und streichelte ihn unter Tränen. Ihre große Gemütsbewegung löste sich jetzt.

Ganz verdutzt stand der kleine Russe da. Wenn er sich auch durchaus keine Gedanken wegen seines Ausbleibens gemacht hatte, so war er doch immerhin auf eine Strafpredigt gefaßt gewesen und nicht auf Liebkosungen.

»Er ist da – er ist wieder da!«

Jauchzend klang es von Lillis und Margots Lippen durch das Haus bis zur Mutter.

In fliegender Eile erschien Frau Doktor Steffen. Sie hatte sich ebenfalls die quälendsten Sorgen gemacht, und auch bei ihr löste sich die Erregung jetzt durch den Anblick des so harmlos tuenden kleinen Missetäters. Aber nicht wie bei ihrem Töchterchen in Liebkosungen! Ihr Empfang fiel etwas weniger zärtlich aus als der von Lilli Liliput.

Als erstes packte sie den Schlingel beim Kragen, für den Fall, daß es ihn wieder nach Auskneifen gelüsten sollte.

»Wo hast du gesteckt?« fragte sie streng.

»Oh, iist serr schönes Frrühlingswetterr heite!«

Der kleine Russe schien augenscheinlich die Absicht zu haben, ein harmloses Gespräch über das Wetter zu beginnen. Aber damit kam er bei Frau Doktor nicht an.

»Wo du gewesen bist, will ich wissen!«

»Ieberrall!« lautete die rätselhafte Antwort.

»Also wo?«

»Errst biin ich gegangen spazierren, dann in Kinomatograph – oh, warr serr schön, serr! Viele Kriegsschiff und serr eine traurrige Geschichte iich dort haben gesehen. Iist gekommt Dieb bei Nacht, hat genehmt Geld, hat genehmt Schmuck, hat genehmt Kind aus Bett und forrt. Hat sich Mutterr zerraufen Haarr, hinterr Dieb herr, immerr hinterrherr, wuußt niicht, wo gebleiben Kind – – –«

»Wo du geblieben bist, will ich wissen!«

Unheilverkündend klang der Frau Doktor Stimme in Iwans gemütlichen Bericht hinein.

»Biin iich gewesen hungrik, biin iich gegangen zu essen in Automatenrrestaurant. Habe iich geesst Würrstchen und nochmal Würrstchen und drreimal Würrstchen, und habe iich getrrunken gegen Durrst Schokolad mit Schlagsahne.«

Als ob das letzte Wort Frau Miezes mühsam zurückgehaltenen Ärger entfesselte, ließ sie dem Schlingel jetzt einen zweiten Teil davon zuteil werden. Allerdings vergaß Frau Doktor die Sahne; aber ein kräftiger Schlag brannte auf der Wange des kleinen Tunichtguts.

»Oh, hat sie gesagt, will sie nicht prrügeln frremde Kinder, nurr sperren in Stall,« heulte Iwan.

»Das soll ohnehin noch geschehen! Heimlich davonlaufen und das Geld vernaschen! Warte, mein Junge, das wollen wir dir austreiben!«

Der quiekende Iwan wanderte in den noch unbevölkerten Kaninchenstall, um dort Herrn Doktors weiteres Strafgericht zu erwarten. Lilli aber jagte zum Kaufmann, und telephonierte nach Berlin. Bald wußte Vater es, daß der schmerzlich Gesuchte »nicht mal unter einem Auto oder im Kanal, sondern bloß im Kientopp« gesteckt hatte.

Die frühlingsmäßigen Freiheitsgelüste vergingen dem kleinen Gefangenen allmählich in seiner Gefangenschaft. Als der Oberlehrer mit seinen beiden Begleitern endlich erschöpft heimkam, erschien ein recht zerknirschtes Bürschchen vor seinem Richterstuhl.

Was Oberlehrer Steffen in seiner Studierstube mit Iwan verhandelte, erfuhr niemand. Ohne Prügel mußte es wohl abgegangen sein, sonst hätten die ängstlich im Mansardenzimmer lauschenden anderen vier sicher des Jungen Gewinsel gehört.

Auf die teilnehmende Frage Sonjas gab der Bruder später nur verschlossen zurück: »Iich hab' machen missen Strrafarbeit.« Daß aber die Strafarbeit in einem deutschen Brief an die Mutter in Petersburg bestand, in dem Iwan ihr selbst von seinem Streich berichten mußte, und daß Herr Doktor eigenhändig noch einige Zeilen anfügte, das erzählte er nicht.

Dem kleinen Ausreißer wurde ein fester Riegel vorgeschoben, daß er nicht wieder auskneifen konnte. Doktor Steffen sprach mit den Kollegen am Gymnasium, welche die letzte Stunde in Iwans Klasse gaben, und diese erboten sich, den Freiheitslustigen mittags so lange in Gewahrsam zu halten, bis Doktor Steffen oder sein Sohn ihn in Empfang nahmen. Auch das reichliche Taschengeld, das die Mutter den Kindern ausgesetzt hatte, wurde ihm entzogen.

Iwan rächte sich dafür, indem er andere Geschöpfe ebenfalls ihrer Freiheit beraubte. Er war der eifrigste Maikäferjäger in ganz Schlachtensee. Der arme Schnauzel wurde in diesem Frühling seines Lebens nicht froh. Jeden Augenblick mußte er darauf gefaßt sein, von Iwan, dem Feind, aus seiner beschaulichen Ruhe gerissen zu werden und plötzlich ein abscheulich krabbelndes braunes Ding auf der Nase zu fühlen.

»Maikäferr – Käferr – Mai –
Firr einen Sechserr gibt es drei!«

Niemand sang das Berliner Kindermailied lauter als der kleine Russe. Nur kam es vor, daß Iwan, zum Jubel der anderen, eine Kiefer fast aus den Wurzeln schüttelte und sich baß verwunderte, daß kein einziger Maikäfer herabfiel. Der Schlaukopf wußte nicht, daß Maikäfer nur auf Laubbäumen leben.

Die russischen Kinder, die den Einzug des Sommers bisher stets zwischen steinernen Häusern geschaut hatten, lernten jetzt hier draußen die Schönheit des deutschen Frühlings kennen. Auch in Sonjas verschlossenem Herzen lockte die goldene Frühlingsonne manchen guten Keim ans Licht. Ihre Unzugänglichkeit war einer freundlicheren Art gewichen. Der liebevolle Ton, der im Hause herrschte, und besonders der ständige Umgang mit der sonnigen Lilli färbte auf sie ab. Ihr Gesicht sah jetzt, da es nicht mehr brummig in die Welt hineinschaute, zehnmal hübscher aus. Längst hatte sie es gelernt, sich der Ordnung des Hauswesens einzufügen. Lilli brauchte sich nicht mehr über die junge Russin zu ärgern, sondern hatte allen Grund, auf ihre Erziehungserfolge stolz zu sein. Freilich lagen dieselben hauptsächlich in dem guten Beispiel begründet.

Noch einen anderen Erfolg aber hatte der Aufenthalt des russischen Mädchens im fremden Lande – einen Erfolg, von dem nicht einmal die Zimmergenossin Lilli etwas ahnte. Trotz der großen räumlichen Entfernung war Sonja ihrer Mutter nähergekommen. Das innige deutsche Familienleben, von dessen Fäden auch sie sich hier umschlungen fühlte, hatte unwillkürlich Sonjas Briefe nach Haus beeinflußt. Sie wurden wärmer und zärtlicher.

Sonja zählte nicht mehr gleichgültig wie früher ihr Tagewerk und ihre Unterrichtstunden in ihrem Schreiben auf, sondern sie erschloß der Mutter ihr Denken und Fühlen. Sie berichtete von der herzlichen Liebe, mit der die Familie des Oberlehrers sie und Iwan, ungeachtet aller Strenge, umgab – ferner, was für eine gute Freundin ihr Lilli geworden war, und wie sie sich gemeinsam von einem Kränzchen auf das andere freuten. In Petersburg hatte die Mutter oft über Sonjas brummiges Wesen geklagt. Jetzt schrieb ihr das Töchterchen aus eigenem Antrieb: »Du wirst mich gar nicht wiedererkennen. Ich bin lange nicht mehr solch ein Brummeisen, wie ich es war. Frau Doktor sagt sogar, ich sei auf dem besten Wege, ein liebenswürdiges Mädchen zu werden. Na, bis dahin fehlt noch viel! Aber ich nehme mir Lilli als Beispiel; die lacht und singt von morgens bis abends. Auch im Haushalt habe ich mich betätigen gelernt. Ich bin lange nicht mehr so liederlich wie ehedem. Es ist auch viel netter, wenn ein Zimmer ordentlich ist, und wenn ich erst wieder bei Dir in Petersburg sein darf, dann will ich es Dir so hübsch und gemütlich herrichten, wie ich es hier bei Steffens kennen gelernt habe. Wenn Du dann abends müde aus der Praxis heimkommst, sollst Du Dich auf Dein Haus und auf Deine Kinder freuen. Halb sehne ich diese Zeit herbei und halb fürchte ich mich davor, die Menschen hier, die ich sehr liebgewonnen habe, zu verlassen. Aber mein Wunsch, Dich wiederzusehen und bei Dir zu sein, ist doch der stärkere von beiden.«

Solche Worte, die Sonja aus innerstem Herzen kamen, verfehlten auch nicht den Weg zum Herzen der Mutter. Hätte Lilli heute mitangesehen, wie es in Sonjas dunklen Augen aufleuchtete, während sie ein Schreiben ihrer Mama durchflog, wie sie zwischen den Zeilen, ungeachtet der knappen Worte, die Liebe und Sehnsucht einer Mutter nach ihren Kindern herauslas, sie würde ihr nicht mehr Gleichgültigkeit zum Vorwurf gemacht haben. Heimlich drückte die trotzige Sonja den Heimatbrief an die Lippen. Gleich darauf aber blickte sie sich scheu im Zimmer um, ob auch niemand diese zärtliche Regung bemerkt habe.

Einer freilich hatte die junge Petersburgerin doch bei ihrem weichen Gefühl belauscht. Das war Goldschopf, und der kleine Geselle schmetterte es hinaus in die Mailuft, daß auch im Herzen der jungen Ausländerin der Frühling eingezogen sei. – Frühling allüberall!


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