Else Ury
Dornröschen
Else Ury

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Johannistag

Unter blühendem Windengerank saß man den letzten Abend auf der großen Terrasse beisammen, Leni zwischen Fräulein Doktor und Silvia. Diese wollte die Hand der Freundin heute überhaupt nicht mehr loslassen; kaum, daß sie Leni zum Essen freigab.

Weichen Blicks überschaute Dornröschen die beiden langen Tafeln, die sie zum letzten Male mit rosenroten Heckenröslein geschmückt hatte. Die jungen, übermütig lachenden Mädchenköpfe reihten sich über den blütenweißen Stickereischürzen bis zu Fräulein Doktors liebem Gesicht. In warmem Überwallen zog sie plötzlich die feingeäderte Rechte der Vorsteherin an die Lippen.

»Fräulein Doktor, Sie haben mich bewußt und unbewußt so viel Gutes gelehrt; ich weiß nicht, wie ich es Ihnen danken soll,« flüsterte sie bewegt.

Fräulein Doktor, Sie haben mich viel Gutes gelehrt.

»Tragen Sie es gegen andere ab! Ob im weitesten oder im engsten Kreis, das ist gleich,« sagte die Vorsteherin einfach. »Und vergessen Sie nicht, daß Sie auf Klugenhof jederzeit mit offenen Armen wieder empfangen werden!«

Am nächsten Tage streifte Leni für immer ihre braune Maikäferuniform ab. Ein tränenreicher Abschied von Fräulein Doktor folgte, ein zärtlicher von Baroneß Silvia; lachende »Heil«rufe der Gefährtinnen und – Dornröschens Lebensabschnitt auf der landwirtschaftlichen Frauenschule war zu Ende.

Wie im Fluge ging es noch einmal durch die sonnendurchglühten Straßen Berlins. Von Karl Heinz und Lizzie war das Lebewohl leicht. Schon in vierzehn Tagen gab es Hundstagsferien; dann kam Lizzie nach Nedderdorf und ihr Karling folgte zu Beginn der Universitätsferien.

»Wir besorgen dies Jahr die Nedderdorfer Ernte zusammen, Lening! Wollen mal sehen, welches Semester mehr davon versteht, du oder ich,« rief er lachend, als der Zug sich in Bewegung setzte.

Da kam Leni kein trübes Rückblicken mehr; nur frohe Gedanken wanderten lichte Wege in blühende Zukunft hinein.

Draußen aber in den Laubengeländen, die der Zug durchraste, vor den Toren Berlins, da blühte und grünte es gerade wie in Dornröschens Empfinden. Regenschwerer Herbst war es gewesen, als sie hier als unbefriedigtes, sich überflüssig fühlendes Menschenkind eingezogen war; gleich dem lachenden Sommertag da draußen fuhr sie jetzt der Heimat zu.

Wie sie sich freute, wieder nach Haus zu kommen! In Rostock wollten Hänschen und Fränzchen die Schwester erwarten. Sie waren am Sonnabend schulfrei und hatten Mutting mit Bitten bestürmt, Dornröschen über den Sonntag nach Nedderdorf begleiten zu dürfen.

Ratternd fuhr der Zug auf dem Rostocker Bahnhof ein. Hastig raffte Leni ihr Handgepäck zusammen; sie konnte den Augenblick nicht mehr erwarten, ihre »ollen lütten Jungs« wiederzusehen.

Aber vergeblich spähte sie nach den roten Gymnasiastenmützen aus. Kein Hänschen und kein Fränzchen ließ sich blicken.

Da aber stand ein anderer vor ihr; eine breitschultrige, kraftvolle Männergestalt war es. Unter dem weizenblonden Haar die hellen blauen Augen, die in froher Wiedersehensfreude auf sie blickten, die kannte Leni. Was war es nur, das sie, die sonst manch dreistes, ja scharfes Wort für ihn gehabt hatte, plötzlich so stumm befangen machte?

»Johannes von Staberow!« Lächelnd verneigte sich Onkel Hans vor der jungen Reisenden. Dann nahm er ihr Handtasche und Schirm ab, legte alles auf die nebenstehende Bank und griff nun erst mit beiden Händen nach den ihren.

»Fräulein Dornröschen, willkommen wieder in unserem lieben Mecklenburg! Mögen Sie zu einer glücklichen Stunde heimkehren!«

Es waren warme Worte aus warmem Herzen heraus; sie rührten an eine verwandte Saite in Lenis Seele, und diese tönte jubelnd mit.

Onkel Hans wartete auf keine Entgegnung. Der hatte genug damit zu tun, die holdselige Veränderung, die mit Dornröschen vor sich gegangen war, gründlich auf sich wirken zu lassen. Das war nicht mehr das Landpomeränzchen, das im vorigen Sommer mit Stining und Mining Garben band. Von der Lackspitze des Schuhes bis zu dem breitrandigen Kirschenhut die vollendete Dame! Aber das liebliche Mädchengesicht mit den großen Kornblumenaugen darin, das war das alte geblieben – nein, doch nicht! Ein neuer weicher Zauber lag darüber.

»Wie kommen Sie denn nach Rostock?«

Leni machte sich gewaltsam von dem Bann frei, der sie gefangen nahm. Sie waren zwar weder herzlich noch geistvoll, ihre ersten Begrüßungsworte – eigentlich hätte sie sich selbst dafür schelten mögen – aber sie lösten wenigstens die beklemmende Stille, welche die beiden mitten in dem lärmenden Treiben des Bahnverkehrs umfing.

»Mit dem Bummelzug dort drüben!« Lächelnd wies Johannes von Staberow auf den anderen Bahnsteig. »Wissen Sie nicht, was für ein Datum wir heute schreiben, Dornröschen?«

Wie wäre sie im vergangenen Jahre noch losgefahren, wenn der Verwalter es gewagt hätte, sie einfach bei ihrem Vornamen zu nennen! Jetzt errötete sie bloß.

»Den vierundzwanzigsten Juni,« sagte sie schnell. »Ach, Johannistag!« Daran hatte sie noch nicht gedacht.

»Ja, Johannistag! Sie wissen doch, was oll Dörthe prophezeit, wenn man an solchem Tag wieder heimkommt?«

»Nee, das ist ja alles Snak und dummes Tüg (Zeug),« versetzte Leni ein wenig unbehaglich.

»Diesmal hoffentlich aber nicht! Wenn jemand am Johannistag in die Heimat kehrt – sagt der alte Glaube – so hält das erste – was ihm dort zum Gruß entgegentritt, ihn fest für alle Zeiten!«

Die beiden sind es, die mich festhalten.

»Meine Jungs – Hänschen – Fränzchen!« Wie erlöst stürzte sich Leni auf die beiden plötzlich auftauchenden roten Mützen. In jedem Arm hielt sie einen der Schlingel und küßte sie herzhaft.

»Das ist das, was mich festhält,« rief sie dann und schaute dabei lachenden Mundes auf den Verwalter; die frischen Knabengesichter brachten auch ihr den heiteren Übermut wieder.

»Das erste muß es sein,« verbesserte Hans von Staberow, ebenfalls übermütig.

»Dornröschen, du bist ja so – so wie 'ne ganz richtige Dame geworden,« bemerkte Fränzchen jetzt erstaunt.

»Man (bloß) äußerlich,« entschied Hänschen, der Menschenkenner.

Auch Leni faßte die Brüder nun etwas genauer ins Auge, und ihre Begeisterung über deren Anblick schwand.

»Aber wie seht ihr denn aus? Wo habt ihr euch bloß herumgetrieben? Die blauen Anzüge sind ja dick voll Staub, und die Hände – brrr! Hansing, du hast gar eine blutige Schramme im Gesicht; was habt ihr denn wieder angestellt?«

»Nix nich – man bloß mit der Quinta die Schlacht bei Thermopylä gespielt. Die dauerte so lange, daß wir deinen Zug versäumten. Aber fein war's! Ich war Leonidas und Hans Xerxes. Er ist verwundet worden,« berichtete Franz mit heißen Wangen.

»Schlingel, ich muß euch doch wohl wieder 'n bißchen unter meine Fuchtel nehmen,« schalt Dornröschen mit strahlendem Gesicht.

»Sagt' ich's nich?! Sie ist man äußerlich so fein geworden; innerlich vertobakt sie uns noch grad' so wie früher,« rief Hänschen, der Frechdachs.

»Auch äußerlich!« Dornröschen zog ihn kräftig am Ohrläppchen.

»Die nehmen keine Vernunft an; die bleiben auch mit weißem Haar noch die Rangen von Nedderdorf!« Damit packte Onkel Hans den einen links, den anderen rechts am Kragen. »Vorwärts! Unser Zug geht ab, und Mutting und Lütt Susing stehen jetzt schon sicher voll Erwartung am Gartentor.«

Mutting und Susing! Ja, da standen sie! Leni wußte nicht, wie sie heimgekommen war. Mit Lachen und Scherzen vollzog sich die Fahrt; aber auch manch ernsthaftes, verständiges Wort über den Getreidestand, an dem sie vorüberrollten, war dazwischen gefallen.

»Kein einziges Mal gekabbelt innerhalb zwei Stunden,« stellte Onkel Hans fest, als der Wagen nun endlich an Lenis Vaterhaus hielt.

Die aber dachte jetzt weder an Getreidestand noch an Kabbeleien. Die sah nur Muttings liebes weißes Haupt, in dem die Augen wieder jugendlich glänzten, und Susings inzwischen wieder gewachsene Locken.

Fest schmiegte sich der braune Kopf an Muttings gebleichtes Haar. In diesem Augenblick segnete Leni das Schicksal, das sie aus der großen Welt da draußen in ihre enge Heimat, die sie mit all ihrer Liebe doch kaum zu umfassen vermochte, zurückgeleitet hatte.

Susing – war es denn möglich? Einen ganzen Kopf war die Lütte inzwischen gewachsen! Wie ein richtiges Schulmädel sah sie aus. Aber als Leni jetzt das Schwesterchen in die Arme nahm, da schienen die Jahre zu versinken; da wurde aus dem großen siebenjährigen Mädel wieder das Lütt Susing, dem Dornröschen Vater und Mutter zugleich gewesen war. Helle, klare Tropfen fielen auf Lütt Susings Blondhaar.

»Heulst du, weil du nu nich mehr in Berlin sein darfst, Dornröschen?« Erstaunt hielt die Kleine in ihren Liebesbezeigungen inne.

»Nee, Susing, weil ich wieder heim durfte!« Leni schämte sich ihrer Tränen nicht.

Aber da gab es noch anderes zu tun, als zu »heulen«. Da waren Dörthe und Jürgens, die ihr Frölen Lening begrüßen wollten, Mining und Gusting, Jochen, Johann und Krischan; alle hatten sich eingefunden.

»Nu werden wir wieder düchtig tausammen arbeiten, wat?« Damit schüttelte sie herzhaft die harten, schwieligen Hände.

»Je, Frölen Lening, dat is nu all Tid (Zeit), dat Sei wedder kummen; mit dem da und sin nimodschen Kram bün ick allein nich farig worden!« Jürgens wies mit dem breiten Daumen anklagend nach rückwärts über die Schulter; dort stand der Verwalter mit stillvergnügtem Gesicht.

Leni stieg das Blut in die Wangen, daß sie einst mit dem alten, beschränkten Jürgens an einem Strang gezogen hatte. Dann aber gab sie sich einen Ruck.

»Ih, Jürgens, daran wirst dich woll nachgrade gewöhnen müssen; ich bin nu auch ins feindliche Lager übergegangen. Ich hab' inzwischen einsehen gelernt, wie dämlich wir zwei beide waren. Die Maschinen wirst du hier nicht wieder los!«

Brummelnd schob sich oll Jürgens davon. Onkel Hans aber trat mit freudig verklärtem Gesicht auf Leni zu.

»Das war ehrlich gesprochen; nun wissen auch wir zwei, wie wir miteinander stehen. Ich glaube, wir werden uns die letzten acht Tage, die ich noch hier bin, vertragen, was?« Damit nahm er Dornröschens Hand und zog sie an die Lippen.

Leni beugte sich schnell zu dem sie schwanzwedelnd umkreisenden Bubi hinab, um einer Antwort enthoben zu sein. Nicht weit davon aber, an der Regentonne, da saß einer, der sah mit traurigen Augen auf sie.

Es war Cäsar. Ja, sein Frölen Lening war ins feindliche Lager übergegangen! Das fühlte er am allermeisten. Wie sie das glänzende Fell des fremden braunen Dackels klopfte und streichelte! Ihm selbst hatte sie nur gedankenlos die Ohren gekraut. Schwerfällig erhob sich Cäsar und trottete hinter Jürgens her. Sie beide stellten jetzt die gute alte Zeit auf Nedderdorf vor.

»Mutting, mein Mutting, wie freu' ich mich darauf, wieder mit dir zusammen zu wirtschaften!« Leni konnte es gar nicht fassen, daß sie sich einst auch neben Mutting überflüssig vorgekommen war.

»Wenn Sie mich als landwirtschaftlichen Beirat während der Ernte gebrauchen können – Gusserow ist ja nur anderthalb Stunden von Nedderdorf entfernt – ich stehe Ihnen jederzeit zu Diensten,« sagte Onkel Hans herzlich.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich noch ab und zu um uns kümmern würden,« erwiderte Leni erfreut.

Man saß beim Kaffee auf der von Goldregen umrankten Veranda. Mieting und Fritzing waren zum Empfang herübergekommen. Sie sprachen von nichts anderem als von Linnen und Möbeln; eine »langweilige Gesellschaft« nannte sie Onkel Hans.

Gegen Abend gab man den beiden ein Endchen das Geleit. Leni ging das Herz auf, als sie so durch die goldenen Kornfelder wanderte, die im Purpur der zur Rüste gehenden Sonne erstrahlten. Eine Freude war es jetzt, hier verständnisvoll weiterzuschaffen. Die Ertragsfähigkeit auf Nedderdorf hatte sich unter Hans von Staberows kundiger Hand fast verdoppelt.

Dann aber schritt Dornröschen von den Getreideäckern zu einem stillen, abseits gelegenen Acker, wo sie dem Boden das Liebste hatte hingeben müssen, das sie besaß. Lange stand sie an Vatings Blumenhügel. Die Heimchen zirpten, der Abendwind säuselte; unsagbarer Gottesfriede breitete seine Hände über dieses blühende Fleckchen Erde. Da schwieg auch das rätselhafte ungestüme Pochen in Lenis junger Brust, das sie heute wiederholt empfunden hatte, und von dem sie sich keine Rechenschaft zu geben wußte.

Auf dem Hausbänklein unter nickenden Sonnenblumen saß der alte Herr Kantor und rauchte sein Abendpfeifchen. Sein faltiges Gesicht leuchtete von innerer Freude, als sein Liebling Leni wieder vor ihm stand. Für ihn war die Zeit, die draußen im Leben von Sekunde zu Sekunde raste, stehen geblieben. Hier gab es kein Wünschen, kein Vorwärts mehr, nur still dankbares Zurückschauen . . .

Über dem Nedderdorfer Gutstor hing der Johanniskranz. Seine Blüten rieselten herab, in das Braunhaar der heimkehrenden Tochter des Hauses.

»Johannisblüten gibt Myrtenblüten; nu halt man dein Herz fest, Frölen Lening!« Dörthes runzlige Hand strich liebkosend über die weiche Mädchenwange.

»Und was prophezeien Sie mir, Dörthe?« Im Fensterrahmen des Jagdzimmers tauchte ein blonder Männerkopf auf.

»Nehm' sich der junge Herr man vor dem Johannisfeuer in acht; nicht umsonst trägt er den gleichen Namen!«

Ernsthaft nickte die Alte mit dem Kopf. Die beiden jungen Menschen aber lachten hellauf.

»Jungs, heut werdet ihr an euren Betten festgebunden, daß ihr nicht wieder geistern geht wie im vorigen Jahr,« drohte die große Schwester beim Abendessen.

»Nee, Dornröschen, da kannst du ruhig sein; heut machen wir keinen Unfug,« versprach Hänschen.

»Die Wichse war zu dölling,« gab Fränzchen ehrlich zu.

Nein, geistern gingen sie dies Jahr nicht, die beiden Rangen von Nedderdorf, und Unfug konnte man das doch auch nicht nennen, wenn sie noch schnell vor dem Schlafengehen ihre Johannisfeuer entzünden wollten. Allenthalben lohten ja heute die Johannisbrände auf. Nur daß die beiden Schlingel sie nicht auf einem freien Platz, wo sie schadlos ausbrennen konnten, sondern möglichst versteckt hinter dem großen, viereckigen Rosenturm aufflammen ließen, um allen mütterlichen und schwesterlichen Erörterungen zu entgehen. Als die Johannisruten noch nicht ganz niedergebrannt waren, schlichen sich die Rangen müde in ihre Betten, denn »das bißchen Glimmen«, das war ja langweilig.

Auch Dornröschen hatte ihren in blühendem Rosenkleid sie grüßenden Turm aufgesucht. Sie ahnte nichts von dem noch immer leise schwelenden Johannisfeuer. Die runden Turmfenster standen weit offen, daß die Heimatluft, der Wind von der Waterkant, sie leis umfächeln konnte. Etwas Harzig-Brenzliges zog mit dem blütenschweren Abendduft ins Turmstübchen, aber Dornröschen hatte dessen nicht acht. Die lehnte auf ihrem Rosenknospensofa und träumte mit offenen Augen. Sie mochte noch nicht schlafen gehen; das Herz war ihr so voll.

Wieder daheim! Ach, was war das doch für ein gutes, wohliges Wort! Wie mit Mutterarmen umfing es einen.

War es der warme Johannisabend, der ihre langbewimperten Lider sich senken ließ? Durch die Fenster, durch die Ritzen schlich es sich, eine drückende, bleierne Schwere, dicker, blauer Dunst. Leni wollte sich dagegen wehren, aber sie vermochte es nicht. Dichter und dichter umfing es sie; ihre Gedanken verwirrten sich.

Draußen aber fraßen sich gierige Feuerschlangen durch das trockene Gras am Fuße des Dornröschenturms, kletterten an dem purpurnen Rosengerank empor, züngelten die schmale Wendeltreppe hinauf.

Ahnte denn niemand die Gefahr, in der das schlafende Dornröschen schwebte?

Alles auf Nedderdorf lag in tiefem Schlummer, nur einer nicht. Der wanderte ruhelos die Gartenpfade auf und nieder. Das Johannisfeuer, vor dem Dörthe gewarnt hatte, brannte, aber anders, als die Alte es gemeint hatte. Unwillkürlich richtete Johannes von Staberow seine Schritte dem Gemüsegarten zu. Nur einen Blick noch wollte er zu dem Rosenturm werfen, der das Dornröschen endlich wieder in seinen Mauern barg.

Barmherziger Himmel! Die Augen quollen dem jungen Staberow vor Entsetzen fast aus dem Kopf. Der ganze Dornröschenturm war ein einziges zum Himmel flammendes Johannisfeuer. Hei, wie das knisterte und lohte! Wie die Funken prasselnd stoben!

Der Gebrauch seiner Glieder wollte dem starken Mann für den Bruchteil einer Sekunde versagen. Aber der Gedanke an das in Todesgefahr schwebende Dornröschen ließ ihn handeln.

Er zerrte eine Leiter, die an der Gartenmauer lag, hinter sich her, lehnte sie gegen die Nordseite des Turmes, die noch am wenigsten in Brand stand, und schwang sich rasch zwischen den purpurnen Feuerrosen empor. Durch das runde Fenster hinein schlüpfte er in den undurchdringlichen Qualm; aber wie sollte er das Dornröschen hier finden?!

Blindlings tastete er sich vorwärts in dem kleinen Gemach. Endlich hatte er sie erreicht. Er riß das bewußtlose Mädchen an sich, und im nächsten Augenblicke schon stand er mit seiner Last auf der obersten Sprosse, über der sengenden Glut.

Glücklich unten angelangt, bettete er sie behutsam an gefahrloser Stelle auf den weichen Rasen. Leni war unverletzt, nur besinnungslos von dem Feuerqualm. Aber in der reinen Nachtluft schlug sie die Augen wieder auf. Verwirrt wollte sie sich aus den sie noch immer stützenden Armen lösen.

Aber die gaben sie noch nicht frei.

»Johannistag!«

Mehr sagte Johannes nicht, denn die Pflicht rief ihn fort.

Glühroter Funkenregen fuhr noch immer in weitem Bogen durch die schwarze Nacht; ängstlich flatternde Schwälbchen umkreisten das brennende Turmnest. Auch der Nedderdorfer Gutshof war nun endlich aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. In den Ställen scharrten die Gäule unruhig den Boden. Das Vieh brummte, grunzte und schrie aufgeregt; es witterte die Gefahr. Die Hunde schlugen an, und nun rannte man aus dem Gesindehaus zur Wasserspritze. Allen voran lief Johannes von Staberow. Langgezogenes Tuten aus dem Dorf wurde hörbar: das Feuerhorn! Man kam vom Dorf zur Hilfe.

Aber man vermochte nur den Brand auf seinen Herd zu beschränken, daß er nicht weiter um sich griff. Den alten Dornröschenturm konnte nichts mehr retten; prasselnd und krachend stürzte der wetterfeste, graue Geselle zusammen. Mit schwimmenden Augen sah Dornröschen ihren Rosenturm, das Heim ihrer Mädchenjahre, in Rauch aufgehen. Aber eine andere, neue Heimat, auch rosenumkränzt, stieg vor ihr wie ein Phönix aus der grauen Asche empor.

Durfte sie dem Ruf folgen, der ihr soeben bis ins innerste Herz gedrungen war?

Sie blickte auf das weinende Suschen in ihren Armen, auf Mutting, die mit der einen Hand erregt ihre wiedergeschenkte Älteste liebkoste, mit der anderen, weniger liebkosend, den höchst mangelhaft bekleideten heulenden Rangen ihr Schuldbekenntnis zu entreißen versuchte.

»Rohrt man nich, Kinnings! Johannisfeuer, das bringt Glück,« tröstete die alte Dörthe mit fliegenden grauen Zöpfen.

»Es hat schon Glück gebracht – hier die Johannisbraut!« Ein rauchgeschwärzter blonder Mann schlang den Arm um Dornröschen und Lütt Susing zugleich.

»Min Dirn, min oll leiw Dirn!«

Leni flüchtete sich an das Mutterherz. Dann aber hob sie in alter Schelmerei den braunen Kopf.

»Ich bin nicht frei! Ich stehe in Brot und Lohn, habe Inspektorpflichten und kann nicht einfach auf und davon gehen wie gewisse andere Leute,« neckte sie auf die eindringliche Frage der hellen blauen Augen; aber es klang ein ernsterer Unterton aus ihren Worten.

»So kündigen wir hiermit zu Michaeli; dann ist der dritte Staberow so weit, um hier als Verwalter zu wirtschaften. Bis dahin bauen wir dem Dornröschen ein neues Schloß – – –«

* * *

Wenige Stunden später lag der Nedderdorfer Gutshof wieder verschlafen da. Nur in den verkohlten Trümmern des alten Märchenturms knisterte und flüsterte es noch. Leichtgeschürzte blaue Dampfwölkchen tanzten darüber hin. Das waren die Johannisgeister, die den Menschen in der Johannisnacht necken und narren, aber ihm auch unermeßliches Glück in Haus und Herz tragen. Man frage nur oll Dörthe!


 << zurück