Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Die Rettungsmedaille

Die Zeit eilte mit Siebenmeilenstiefeln. Nur noch acht Tage bis Weihnachten! Des Abends bewegten sich in dem gemütlichen Musikzimmer die Mädchenfinger in geschäftiger Eile, um die letzten Weihnachtsarbeiten zu vollenden. Frohen Auges überschauten Mieting und ihr Dornröschen täglich ihre wachsenden Schätze. Da gab es ein allerliebstes grünschottisches Kleid für das lütte Schwesterchen, von Leni selbst geschneidert, eine schwarzseidene Schürze mit Stickerei für ihr Mutting, weißwollene, selbstgestrickte Sportmützen für die Zwillinge, eine buntgestickte Weste für Karl Heinz und eine Leinenbluse in Madeiraarbeit für Lizzie.

»Was schenkst du denn dem Hans?« fragte Mieting harmlos, denn Dornröschen hatte von ihren Reibereien mit ihm wohlweislich geschwiegen.

»Deinem Schwager? Gar nix! Wie käm' ich denn wohl dazu!« Leni wurde ganz grundlos gereizt.

»Na, erlaube mal! Du hast doch sogar Dörthe und Jürgens bedacht; da wär' das doch wohl nicht mehr als billig, wenn er auf eurem Hof tätig ist,« verteidigte sich Mieting. –

Das Wetter schien umzuschlagen. Die dicken Eiszapfen an den Stalldächern begannen einförmig zu tropfen. Die schlohweiße Schneedecke erhielt einen leichtgrauen Schimmer.

»Kinder, mit dem Eislauf ist es nun aus,« sagte Fräulein Doktor beim Mittagstisch. »Hoffentlich bekommen wir keine nassen Weihnachten.«

Die Mädchen waren nicht allzu unglücklich über den Schluß des Eisvergnügens; das kam den Weihnachtsarbeiten zugute. Nur Baroneß Silvia, die ihre Gaben alle gekauft hatte, weil sie derartige selbstverfertigte Geschenke »spießbürgerlich« fand, verzog das Gesicht. Sie hatte sich so darauf gefreut, den norwegischen Eistanz rückwärts zu üben, denn sie wollte sich daheim während der Weihnachtsferien darin bewundern lassen. Überhaupt – Fräulein Doktor war viel zu ängstlich! Der Karpfenteich trug noch lange – er lag ja gut versteckt hinter den alten Bäumen – und die Freistunde nach Tisch durften sie doch nach eigenem Gutdünken verwenden!

»Wo ist denn Silvia?« fragte etwas später Dornröschen die zur Abwechslung einmal wieder briefschreibende Freundin.

Mieting zuckte die Achsel. Sie hatte jetzt Wichtigeres zu denken.

Auch Leni war froh, daß man die Nachmittagstunde gemütlich zu zweien zubringen konnte. Sie benutzte die Zeit, um ihre Sachen für die Reise zusammenzupacken. Übermorgen! Ob sie die Schlittschuhe mitnahm? Das Wetter sah nicht sehr verheißungsvoll aus.

Leni trat ans Fenster. Der seit Tagen klare Winterhimmel hatte sich grau verhängt; der Wind bog ächzend die Bäume und Büsche.

Da zuckte sie plötzlich zusammen. Durch das im Sturm sich duckende weiße Gesträuch schimmerte es rot. Dort hinten lag der Karpfenteich!

Leni warf einen Blick zu Silvias Kleiderhalter. Die rote Sportjacke und die gleichfarbige Mütze fehlten, die Silvia beim Schlittschuhlauf zu tragen pflegte!

Blitzschnell riß Dornröschen ihre Jacke und den Wollschal vom Haken und jagte davon. Sie nahm sich nicht einmal so viel Zeit, die gänzlich vertiefte Mieting zu verständigen. Wie eine Erleuchtung war es über sie gekommen: Silvia ist Fräulein Doktor ungehorsam – sie läuft Schlittschuh!

Wenn es wirklich so war – lieber Gott, wie die Eiszapfen tropften! Wie die Schneelasten allenthalben zur Erde rutschten! Man sank auf den Parkwegen ordentlich ein. So stark war die Eisdecke des Karpfenteiches doch auch nicht!

Lenis Haar flatterte im Winde; ihr Atem ging keuchend. Wenn sie zu spät kam . . .!

Schon stand sie zwischen den Schneebüschen am Ufer. Unweit von ihr übte nichtsahnend die Baroneß ihren norwegischen Tanz. Das krachende schwärzliche Eis machte eine unheimliche Musik dazu.

»Silvia – um Himmels willen, schnallen Sie ab,« rief Leni, die Hände an den Mund legend, um den schnaubenden Tauwind zu übertönen.

Sie mußte dreimal rufen, ehe die Baroneß aufmerksam wurde. Ärgerlich wandte diese sich jetzt der unwillkommenen Warnerin zu.

»Müssen Sie einem denn überall nachspionieren?« rief sie aufgebracht, ertappt zu sein.

»Silvia, das Eis trägt nicht! Sehen Sie, dort drüben hat es schon große Löcher! Seien Sie verständig und kommen Sie ans Ufer,« flehte Dornröschen angstvoll.

»Pah,« entgegnete die Baroneß leichtsinnig, und nur aus Widerspruchsgeist flog sie jetzt geschmeidig in großem Bogen gerade auf die gefährliche Stelle zu.

Es kluckerte und gurgelte unter der dünnen Eisschicht; Silvia hatte dessen nicht acht. Ein Knacken, Krachen und Bersten – ein gellender Schrei hüben und drüben – laut heulte der Wind auf.

Silvia war mit dem Fuß in ein Eisloch geraten. Vergeblich versuchte sie, sich wieder herauszurappeln; es zog sie hinunter in die Tiefe.

»Hilfe – Hilfe!« Gellend mischte sich die Mädchenstimme mit dem Ächzen des Sturmes.

Eine Sekunde nur war Leni vor Entsetzen starr, dann eilte sie, ohne an das eigene Leben zu denken, Silvia zur Rettung. Sie riß ihren langen Wollschal vom Hals und schleuderte ihn der in Todesangst Jammernden zu. Das eine Ende behielt sie in der Hand; dann warf sie sich platt auf das Eis, um ihr Gewicht auf der schwanken Fläche zu verteilen, und zog mit aller Kraft ihrer jungen Arme.

Leni riß ihren langen Wollschal vom Halse und warf ihn der in Todesangst Jammernden zu.

Würde der Wollschal aushalten? Dieser Gedanke krampfte sich förmlich in Lenis Gehirn ein.

Die Baroneß war ja leicht und schlank, aber so sehr Leni auch jede Muskel anspannte, nur langsam, Zoll um Zoll, ging das Rettungswerk vor sich.

»Ich kann nicht mehr halten,« wimmerte die Baroneß.

Kein Mensch hier in dem abgelegenen Parkteil, der ihnen zu Hilfe kam! Sie, Leni, mußte – mußte es fertigbringen! Die Adern schwollen ihr an; mit einer Kraft, wie nur die Todesangst sie erzeugt, riß sie die Sinkende endlich zurück aufs Eis.

Die Sinne wollten Leni schwinden, nachdem die furchtbarste Spannung sich gelöst hatte. Aber mit all ihrer Entschlossenheit kämpfte sie gegen diese Schwäche an. Nein – nicht ohnmächtig werden wie ein schwachnerviges Stadtmädel! Noch war die Rettung nur halb gelungen; jeder Augenblick konnte sie wieder dem Verderben entgegenführen.

Sie sah sich nach Silvia um. Die lag noch an der Stelle, wohin sie gefallen war, und rührte sich nicht. Vorsichtig, jeden Schritt prüfend, näherte sich Leni ihr, die gefährlichen Eislöcher in großem Bogen umgehend.

»Silvia, kommen Sie, daß wir erst wieder festen Boden unter die Füße bekommen!« Sie rüttelte die Durchnäßte.

Die Baroneß stöhnte mit geschlossenen Augen.

»Ich kann nicht – ich kann den linken Fuß nicht bewegen; überlassen Sie mich doch meinem Schicksal,« schluchzte das vor kurzem noch so selbstbewußte, stolze Mädchen.

»Nee, mein Dirn!« Damit packte Dornröschen Silvia unter den Armen und zog die Liegende über die knackende Eisdecke dem Ufer zu.

Gott sei Dank, jetzt hatten sie die Uferböschung erreicht! Die Gefahr lag hinter ihnen.

Ein tiefer Atemzug hob Dornröschens Brust. Dann faltete sie unwillkürlich die Hände. Nie war wohl ein inbrünstigeres Dankgebet aufgestiegen, als hier unter dem Schneedom der alten Baumkronen.

»Stehen Sie auf, Silvia, sonst erkälten Sie sich,« ermunterte Leni von neuem die Baroneß.

Die versuchte es, aber mit einem Schmerzenslaut sank sie zurück.

»Ich kann nicht – ich muß mir den Fuß verletzt haben,« jammerte sie.

Ratlos blickte Dornröschen auf sie hinab. Sie hätte das Abenteuer gern verschwiegen, um der Baroneß Unannehmlichkeiten zu ersparen und nicht erst viel Aufhebens von ihrer eigenen Hilfeleistung zu machen. Aber das war jetzt ausgeschlossen. Sie mußte Leute herbeiholen, daß die Baroneß aus dem Schnee heraus und in trockene Kleider kam.

Zum Glück lief die Müllern, das gute alte Faktotum, Leni gerade in den Weg, als sie atemlos dem Hause zujagte. So brauchte man nicht erst Fräulein Doktor zu beunruhigen. Eine Tragbahre stand für alle Fälle immer bereit. Bald ging der traurige Zug zu dem hübschen Balkonzimmer empor, das man gemeinsam bewohnte. Allenthalben lugten erschreckte Mädchengesichter aus Türen und Fenstern.

Mieting fuhr entsetzt auf. Sie war mit ihren Gedanken vollständig in Mecklenburg gewesen; kaum hatte sie gemerkt, daß Dornröschen das Zimmer verließ. Jetzt griff sie gleich umsichtig mit zu. In kurzer Zeit lag Baroneß Silvia wohlverpackt in ihren Kissen. Aber sie wimmerte noch immer, sobald sie eine Bewegung machte.

»Es hilft nichts; wir werden Fräulein Doktor doch bitten müssen, den Arzt zu rufen,« sagte Leni kleinlaut; es war ihr höchst unangenehm, den Ungehorsam Silvias mitteilen zu müssen.

»Nein – nein – Fräulein Doktor schickt mich von der Anstalt,« bettelte Silvia.

Ratlos sahen sich die Freundinnen an. Da ging die Tür auf, und Fräulein Doktor trat, den Verbandkasten unter dem Arm, ernsten Blicks herein. Die Müllern hatte es für ihre Pflicht gehalten, der Vorsteherin das Geschehnis zu melden.

»Fräulein Sürsen, von Ihnen habe ich das nicht vermutet, daß Sie meinen Worten Ungehorsam entgegensetzen würden,« sagte sie, vorwurfsvoll auf Leni blickend.

Die verfärbte sich. Sie sah auf Silvia, die ihr so oft das Leben hier schwer gemacht hatte, und trotzdem – es war Dornröschen nicht möglich, die Sache aufzuklären. Sie konnte das arme Wurm nicht allein in der Patsche stecken lassen.

Da aber zeigte die junge Baroneß, daß sie nicht nur einen adligen Namen, sondern im Grunde ihres Herzens auch eine adlige Gesinnung trug.

»Nein, Fräulein Doktor,« rief sie erregt, »Fräulein Sürsen ist nicht Schlittschuh gelaufen; im Gegenteil, sie hat mich gewarnt und himmelhoch gebeten, abzuschnallen. Nur um sie zu ärgern, lief ich auf die Eislöcher zu, und zum Lohn dafür hat sie mich mit Gefahr ihres eigenen Lebens gerettet!«

Baroneß Silvia schwieg beschämt; sie hatte Tränen in den Augen. Fräulein Doktor aber zog wortlos die erglühende Leni in die Arme und küßte sie auf die Stirn. Das war die schönste Anerkennung für Dornröschen.

Dann machte sich die in solchen Dingen erfahrene Vorsteherin daran, das verletzte Bein zu untersuchen. Aber bei der kleinsten Berührung schrie Silvia auf. Der Arzt mußte geholt werden.

Der sagte: »Doppelter Bruch! Sie hätten sich auch eine andere Zeit als gerade Weihnachten dazu aussuchen können.«

»Darf ich nicht reisen?« fragte Silvia erschrocken.

»Ih, kein Gedanke! Stilliegen heißt es jetzt – ein paar Wochen stilliegen, verstanden?«

Der Arzt ging, und Silvia wandte den Kopf zur Wand. Sie mochte ihre Tränen nicht zeigen.

»Ihre Eltern werden zu Ihnen kommen, Silvia,« tröstete Leni.

Sie hatte jetzt selbst beim Einpacken ihrer Reisesachen keine reine Freude mehr. Es kam ihr unzart vor, daß sie das alles in Gegenwart Silvias vorbereiten mußte.

»Mein Vater hat Weihnachten das Haus voll Gäste; der kann nicht fort,« versetzte Silvia niedergeschlagen.

»So wird Ihre Mutter vielleicht auf einen Tag abkommen können,« sprach ihr Leni weiter zu.

»Ich habe keine Mutter mehr.«

Es war das erstemal, daß Silvia von ihren Familienverhältnissen redete, und jetzt wurde Leni vieles im Wesen der Baroneß begreiflich. Keine Mutter? Das arme Ding! Ja, dann war es freilich kein Wunder, wenn es so unzugänglich und abstoßend war.

Am nächsten Tage gab es auf Klugenhof Weihnachtsferien. Die meisten reisten noch am selben Tage in die Heimat. Leni und Mieting wollten am folgenden Morgen fort. Die Koffer standen gepackt, und Mieting war schon so aufgeregt, daß sie kaum einen Bissen hinunterbringen konnte.

»Ich fahre recht unruhig fort,« sagte beim Abendbrot Fräulein Doktor seufzend. »Wenn es nicht die Silberhochzeit meiner besten Freundin wäre, bliebe ich hier. Die Müllern ist ja eine herzensgute, zuverlässige Person, aber sie hat in der Wirtschaft zu tun und kann sich nicht viel um Baroneß Silvia kümmern. Das Mädel hat es zwar nicht verdient, daß man sich seinetwegen Sorgen macht . . .«

Nein, Silvia hatte es wirklich nicht verdient! Das sagte sich auch Dornröschen immer wieder in der Nacht.

Warum fand sie bloß keinen Schlaf? Sonst war sie doch sofort im Land der Träume, sobald sie sich niederlegte. Baroneß Silvia, der ihre Gedanken galten, atmete friedlich in sanftem Schlummer.

Dornröschen kämpfte einen schweren Kampf zwischen ihrem Wünschen und ihrer Pflicht. Sie war es Fräulein Doktor schuldig, hier zu bleiben und sie zu vertreten; das empfand sie deutlich. Das Gute, das sie auf Klugenhof für ihr ganzes Leben empfing, trug sie noch lange nicht durch die paar Stunden ab, die sie wöchentlich gab. Sie hätte auch gern der verehrten Vorsteherin einmal ihre Dankbarkeit bewiesen. Wenn – ja, wenn es nur nicht gerade Weihnachten gewesen wäre! Da sie gemeinsam mit Mieting, mit Lizzie und Karl Heinz heimreisen wollte, da Mutting kaum noch die Zeit erwarten konnte, daß sie ihre Gören alle wieder im Nest hatte! Und wie hatte Lütt-Susing ihr doch tags zuvor noch unter reichlichen Klecksen geschrieben?

»ich und onkel hantz wir zelen schon die tage bis du wider da bist.« Die Welt der großen Buchstaben war dem Schwesterchen noch nicht erschlossen.

Ja, es war ein schwerer Kampf! Aber als der bleiche, fröstelnde Wintermorgen durch die Scheiben blickte, war er entschieden.

»Mach fixing, Dornröschen, wir versäumen sonst den Zug,« mahnte aufgeregt Mieting, die in ihrer Erwartungsfreude lange vor der Weckglocke aus dem Bette war.

»Ich fahre nicht mit, mein Mieting. Es muß jemand hier in Klugenhof bleiben! Fräulein Doktor war bloß zu rücksichtsvoll, um ihre Wünsche deutlicher zu äußern.« Lenis Stimme schwankte nur wenig bei dieser Eröffnung.

Mieting stand starr, den roten Mund vor Schreck halb offen. Aber Silvia, die sonst wie ein Murmeltier schlief, wurde durch Lenis Worte jäh ermuntert.

»Nein, Leni, das nehme ich nicht an! Meinethalben dürfen Sie nicht von Ihrer Weihnachtsreise zurückbleiben, auf die Sie sich wochenlang freuten! Sie haben gerade schon genug feurige Kohlen auf mein Haupt gesammelt,« rief die Baroneß in dringendem Ton.

»Ich bleibe ja nicht Ihretwegen, sondern Fräulein Doktor zuliebe hier,« versuchte Leni zu scherzen, trotzdem ihr nicht danach zumute war; dann begab sie sich zur Vorsteherin, um sie von ihrem Entschluß in Kenntnis zu setzen.

Fräulein Doktor fiel ein Stein vom Herzen.

»Ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht,« sagte sie nur, aber in den paar Worten lag eine ganze Lobrede.

Mieting jammerte: »Was werden bloß Karl Heinz und Lizzie sagen! Ach, und dein Mutting!«

Ja, Karl Heinz zankte wie ein Rohrspatz. Gut, daß die Baroneß nicht alle die Ehrentitel, womit er sie belegte, zu hören bekam! Auch Lizzie war recht betrübt. Suschen weinte; Mutting aber, die sich eigentlich am allermeisten auf ihre Älteste gefreut hatte, sagte: »Jung, hör auf zu poltern! Recht hat unser Lening gehandelt; daran erkenn' ich meine olle Dirn!« Onkel Hans pflichtete ihr bei, trotzdem auch er eine Enttäuschung niederzukämpfen hatte . . .

Leer und still war es auf Klugenhof. Das sonst von munteren Mädchenstimmen durchschwirrte Haus lag vereinsamt da. Man vermeinte in den verlassenen Zimmern das Ticken der großen Turmuhr zu hören.

In solcher Stille und Weltabgeschiedenheit finden sich auch Herzen, die sich sonst schroff und verstockt voreinander verschlossen halten. Baroneß Silvia öffnete ihr Inneres jetzt in Dankbarkeit der älteren Gefährtin, die ihr ein so großes Opfer gebracht hatte. Leni dagegen erkannte trotz ihrer eigenen Jugend, wieviel die Unvernunft und Gleichgültigkeit von Fremden an der jungen Baroneß gesündigt hatten. Mit warmem Verstehen nahm sie das mutterlose Mädchen an ihr Herz; sie bedauerte es jetzt nicht mehr, in Klugenhof geblieben zu sein.

Es wurde trotz alledem ein gemütlicher Weihnachtsabend. Das Tannenbäumchen, von Leni geschmückt, warf seinen hellen Schein in jeden Winkel des Balkonzimmers, in jeden Winkel der Mädchenherzen. Die Heimatgaben wurden jubelnd ausgepackt, und Leni hielt das von Susings Fingern geflochtene Lesezeichen mit der gleichen Freude in der Hand, wie Silvia das kostbare Armband von ihrem Vater.

Dann aber stand Dornröschen mit brennendrotem Gesicht vor einem kleinen Paket, das in kernigen Schriftzügen ihren Namen trug. Es war ein schlichter Holzkasten mit Rosenknospen. Aber als Dornröschen ihn öffnete, kamen ihr Tränen in die Augen.

Ihr Lüttes, ihr Susing! In allen möglichen Stellungen hatte der Onkel Hans sie photographiert. Die ersten breitbeinigen Versuche auf den Schlittschuhen, als kleine Puppenmutter und jetzt – Leni lachte laut auf – huckepack auf dem Rücken von Onkel Hans. Da hatte wohl ein anderer geknipst. Aber der Kasten war noch lange nicht leer.

»Mutting,« rief Leni, »mein Mutting!«

Da stand Frau Lisabeth, mit großer Schürze angetan, das Schlüsselbund am Gurt, im Milchkeller an der Zentrifugalmaschine; selbst die mußte mit auf das Bild. Leni lachte schelmisch: sie hatte die Absicht durchschaut.

Dann kamen noch Jürgens und Dörthe, untergeärmelt, Cäsar und Bubi, die beiden feindlichen Genossen, Vaters Fuchs, das alte Gutshaus und zuguterletzt ihr Dornröschenturm!

Die Heimat war am Weihnachtsabend zu Leni gekommen. Lange stand sie vor ihren Bildern; das zartsinnige Geschenk bewegte sie tief. Und sie – sie hatte alle bedacht, nur ihn nicht!

Da setzte sich das Dornröschen, ohne lange zu überlegen, sofort an ihren Tisch und schrieb beim Schein der Weihnachtskerzen einen warm empfundenen Dankbrief an den Onkel Hans. Der freute ihn mehr als das schönste Geschenk.

Aber die Weihnachtsüberraschungen waren noch nicht zu Ende. Die alte Müllern brachte plötzlich ein umfangreiches Schreiben, das sie ehrfurchtsvoll mit der weißen Schürze anfaßte, und legte es mit wichtig-geheimnisvoller Miene vor Leni nieder. Es trug den Stempel der Königlichen Polizeibehörde.

Sie bekam einen gewaltigen Schreck. Was hatte sie denn Böses angestellt? Sie war sich doch keines Unrechts bewußt.

Mit bebenden Fingern öffnete Dornröschen das Schriftstück. Da las sie erglühend, daß sie dem König von Preußen zur Verleihung der Rettungsmedaille für die Errettung einer Person unter eigener Lebensgefahr vorgeschlagen sei, und daß man sie behördlich wegen Mut und Geistesgegenwart belobe.

»Das ist der schönste Weihnachtsabend, den ich je erlebt habe, trotzdem ich nicht daheim war,« flüsterte Dornröschen, als sie unter ihrem Tannenbäumchen zur Ruhe ging. Sie wußte selbst nicht, dachte sie dabei an die Bilder von Onkel Hans oder an die Rettungsmedaille.


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