Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Der Lenz ist da!

Der Frühlingsturm brauste und sang im Ofen. Wer gut zuzuhören wußte, der verstand auch seinen wilden Sang.

»Heisa, der Winter ist vorbei! Nun können wir uns bald wieder in Feld und Garten tummeln.« So vernahmen die meisten der braun- und blondzöpfigen Mädchen auf Klugenhof seine Melodei.

»Hallo – an die Bestellung der Frühbeete gegangen!« Ein wenig prosaisch klang das Lied, das der Frühlingsturm dem Fräulein Doktor sang.

»Frühling – Frühling!« Wie ein Jubellied tönte es der jungen Braut ans Ohr. Mieting lauschte mit heißen Wangen, was der Frühlingsbote alles vom Lenz zu singen wußte.

Hui, wie der Wind durch den Schornstein fuhr! Dornröschen setzte die ersten Schneeglöckchen in eine Vase. Hui – so mochte er wohl jetzt auch um ihren alten Nedderdorfer Turm sausen, die schlafenden Rosen wecken und die zu Nest kehrenden Vögel grüßen.

»Es ist Zeit, daß auch du heimfliegst ins Nest; die Fliederbüsche setzen schon Augen an, und über den Weidenzweigen liegt es bereits wie ein weicher gelber Flaum.« Deutlich hörte Leni es aus dem Singen und Klingen des Frühlingswindes.

»In vierzehn Tagen sind wir nicht mehr hier,« sagte Mieting, als ob sie das gleiche vernommen hätte wie Dornröschen.

Leni schwieg, Silvia aber schlang ungestüm den Arm um ihren Hals.

»Geh nicht von mir, Leni« – sie hatten in ihrer Weihnachtsabgeschiedenheit das trauliche Du für einander gefunden – »laß mich nicht allein hier! Seitdem du mich lieb hast, bin ich viel besser geworden! Fräulein Doktor ist zufrieden mit mir, und auch die Mädel sind jetzt alle netter gegen mich.«

»Weil du nicht mehr hochnäsig tust – darum, mein Dirn!« Leni lachte.

»Nein, dir zuliebe, weil sie dich gern mögen und dir alles zu Gefallen tun! Bleibe wenigstens noch bis zum ersten Juli, Leni!« So bettelte die einst so stolze Baroneß zärtlich.

»Ich habe selbst schon daran gedacht. Was meinst du, Mieting, ob ich Fräulein Doktor bitte, mich bis Johanni zu behalten? Es wäre doch eigentlich richtig, daß ich mich noch während der wichtigsten Monate für die Landwirtschaft – April, Mai und Juni – gründlich hier im Außenbetrieb betätige.«

»Das kannst du auf Nedderdorf grad' so gut, mein Dirn; mein Schwager Hans unterweist dich sicher gern in allem.« Mieting fand, daß sie ältere Rechte an ihrem Dornröschen hatte als Silvia.

»Nee – nee,« wehrte Leni schnell ab.

Sie mochte es sich nicht eingestehen, aber sie fürchtete sich ein wenig vor dem Heimkommen. Sie, die dreiste Nedderdorfer Dirn! Ihr war bange, daß die unerquicklichen Reibereien mit dem Verwalter wieder von vorn beginnen könnten. Zu Michaeli wollte sie die Wirtschaft allein übernehmen; dann durfte sie es sich wohl zutrauen. Aber es gab ihr jedesmal einen Stich durch das Herz, wenn sie an die Kündigung dachte. Sie kam sich grenzenlos undankbar vor.

Silvia frohlockte. Auch Fräulein Doktor war aufrichtig erfreut.

»Kind, am liebsten ließe ich Sie überhaupt nicht mehr von Klugenhof fort und bildete Sie allmählich zu meiner Stellvertreterin und Nachfolgerin aus. Man wird doch nicht jünger! Überlegen Sie es sich mal,« sagte sie herzlich.

Diese Worte stimmten das sonst so lustige Dornröschen ernst und nachdenklich. Es stand an einem Kreuzweg auf der Lebenswanderung! das fühlte es deutlich. Der eine Weg führte zurück in die Heimat, zur alten Pflicht, zu Mutting und all dem, was ihm bisher lieb und teuer gewesen war. Der andere Wegweiser aber wies in ein Zukunftsland, in dem es gleichfalls hieß, in emsiger Pflichterfüllung die Hände zu regen. Aber ein reiches Feld war es, das Leni zu segensreichem Schaffen auf sich warten sah. Wo war sie notwendiger – wo war ihr Platz? Welchen Weg sollte sie einschlagen – welcher war der richtige?

Das seit einigen Tagen zwanzigjährige junge Mädchen mochte sich nicht leichtsinnig mit geschlossenen Augen vom Schicksal gängeln lassen. Bewußt wollte es sein Lebenswerk zimmern . . .

Ei, Leni, man zimmert und hämmert, man klopft, pocht und formt; das Schicksal aber führt unsere Hand, ohne daß wir es ahnen. Ist man dann fertig mit seinem Bauwerk, so geht es einem selbst im Alter noch wie dem spielenden Kinde: der Bau ist ganz anders ausgefallen, als wie die Vorlage war.

Mieting, die einfache, praktische, stimmte natürlich dafür, im Vaterhaus einen Wirkungskreis zu suchen.

»Bis der bewußte Prinz kommt, Dornröschen,« setzte sie noch mit lustigem Augenzwinkern hinzu.

»Herrjeh, die Dirn hat doch nix als Heiratsgedanken im Kopf,« schalt Leni.

Da wurde Mieting plötzlich ernst.

»Jawoll, Heiratsgedanken! Fritzing und ich, wir haben zu Weihnachten ausgerechnet, daß wir noch an die zehn Jahre warten können, wenn nicht ein Wunder geschieht. Eher denkt sein Vating ganz sicher nicht dran, ihn ans Ruder zu lassen. Da kann ich ja gleich meine grüne und meine silberne Hochzeit in eins feiern,« setzte sie mit drollig-betrübtem Ausdruck hinzu.

»Ihr müßt doch nicht gleich Gutsbesitzer spielen; fangt erst bescheiden an,« riet die Freundin.

»Ih, ich kann doch nicht als Frau Inspektorin mit ihm von Gut zu Gut ziehen! Wer nimmt denn überhaupt einen verheirateten Inspektor? Jeder will einen ledigen!«

Nun wußte auch Leni nichts mehr dagegen zu sagen.

Aber wozu wurde es denn Frühling? Doch bloß, um hübschen jungen Mädeln all die unnützen Sorgen aus dem Kopf zu treiben, um sie das Lachen und Singen wieder zu lehren, wenn sie es wirklich einmal vergessen haben sollten!

Der Berliner Frühling, der viel schüchterner ist als der auf dem Lande, war sich seiner Aufgabe voll bewußt. Er jagte nächtlich an der Potsdamer Bahn entlang nach Klugenhof zu, daß die bläulichen Mondfunken nur so um ihn herumsprühten. In seinem Schurzfell trug er allerlei Blumenzeug, Krokus, Anemonen, Veilchen, Schneeglöckchen und Primeln. Aber bei dem hastigen Laufen hatte er ihrer nicht acht; da verlor er ab und zu einmal ein Bündelchen, und als Dornröschen und Mieting am frühen Morgen durch den Garten schritten, jubelten sie laut auf.

Hurra, der Lenz war über Nacht hier gewesen! Die Blumenspuren verrieten ihn. Den Pfirsichbäumen hatte er ein rosenrot schimmerndes Kleidchen übergestreift und in den Wiesenteppich Dotter- und Gänseblümchen zierlich hineingestickt. Aus der schwärzlichen Ackerscholle hatte er zaghaftes Grün hervorgelockt und Baum- und Buschwerk über und über mit dicken goldbraunen Knospen behängt. Dann aber hatte er seine Windharfe genommen und den Vöglein eins aufgespielt, bis sie es so gut konnten wie er selbst.

Nun zwitscherte und jubilierte das durcheinander, piepste und tirilierte beim Nesterbauen, daß Mieting nicht mehr ihrer Sorge wegen des eigenen Nestes dachte. Der Frühling lachte ihr aus den braunen Augen und spiegelte sich in den klaren Blauaugen von Dornröschen wider. Sie faßten sich um die Hüfte, die beiden großen Mädel, und zwischen Anemonen und Märzveilchen tanzten und tollten sie ausgelassen wie die Gören.

Die Arbeit in der weichen, kosenden Lenzluft flog jetzt nur so von der Hand. Da wurde gegraben und gehackt, gesät und gepflanzt, geharkt und gejätet. Man stach die Frühgemüse aus den schützenden Mistbeeten und setzte sie in freies Land. Die Obstbäume wurden bepinselt und beschnitten, Rosenbäumchen mit dem Okuliermesser bearbeitet, die Vorbauten, Gartenkunstanlagen und Lauben für den Sommer geschmackvoll hergerichtet. Große weiße Tücher über den Haaren, so tummelten sich die jungen Damen in der ausgedehnten Geflügelfarm zwischen dem glucksenden Federvieh. Oft schnatterten die roten Mäulchen mit den Enten und Gänsen lustig um die Wette.

Auf die Weideplätze ging es, hinter den buntscheckigen Kühen her, die mit wohlgefälligem Gebrumm wie verwöhnte Großstädter ihre Sommerfrische begutachteten. Am liebsten war Leni auf dem Kälberspielplatz, wo das Jungvieh in sorgloser, ungebundener Freiheit seine Flegeljahre austoben durfte. Aber soviel es ging, arbeitete sie jetzt draußen auf den Feldern, denn täglich lernte sie Neues. All die Eisenungetüme, deren Konstruktionen ihr in den Winterlehrstunden den armen Kopf beschwert hatten, wurden ihr jetzt gute Gesellen, welche die anstrengende Arbeit erleichterten. Wie war sie im vorigen Sommer gegen die paar landwirtschaftlichen Maschinen zu Felde gezogen, die der Verwalter auf Nedderdorf einzuführen als notwendig erachtete! Jetzt bat sie in Gedanken dem Onkel Hans all die widerhaarigen Worte ab; jeder Tag lehrte sie, daß sie damals unrecht hatte.

Die Märzsonne gleißte und glitzerte vom zartblauen Frühlingshimmel. Sie spann den Mädchenkopf, der sich in emsiger Arbeit über die aufgelockerte Scholle neigte, in ein güldenes Strahlennetz. Lenis Braunhaar lag nicht mehr so fest und glatt um den schlanken Kopf wie ehedem. Die Freundschaft mit Baroneß Silvia war für das so wenig aufs Äußere gebende Dornröschen nicht ohne Einfluß geblieben; das feine Baroneßchen hatte ein wenig abgefärbt. Aber nicht im schlechten Sinne, nur so weit, daß in den letzten Monaten aus dem einstigen Landpomeränzchen ein liebreizendes Mädchen geworden war. Das Haar umschmiegte ihm weich und locker die Schläfen; die noch vor kurzem straff und fest geflochtenen Zöpfe waren zu einem weichen Nest am Hinterkopf leicht aufgesteckt. Bis zur Brennschere und zu Lockenwicklern jedoch hatte Silvia die Freundin nicht bereden können, wohl aber dazu, ihre gutgeformten Hände mehr zu pflegen, auch im Hause durch einen weißen Kragen nett und zierlich auszusehen und die selbstgeschneiderten Kleidungsstücke möglichst geschmackvoll anzufertigen. Die Sommergewandung war bereits vor dem Frühjahr instand gesetzt worden, denn jetzt gab es anderes zu schaffen. Zeit und Kraft gehörten ausschließlich der Scholle.

Mit dem Setzholz bewaffnet, war Dornröschen eifrig am Werk, junge Wirsingkohlpflänzchen in das vereggte Land zu setzen. Behutsam, ja fast mütterlich, gab sie den zarten, bisher in Kastenbeeten gehegten Setzlingen eine neue Heimat im fremden Boden. Bald würden sie hier Wurzel schlagen und ihre Blätter kraftvoll entfalten. Nur die schwachen, wertlosen verkümmerten.

Leni richtete sich aus ihrer gebückten Stellung auf und schaute tiefatmend um sich. War sie nicht auch solch ein Gottespflänzchen, das der himmlische Gärtner in fremdes Erdreich verpflanzen wollte? War sie nicht stark und in sich gefestigt genug, um es ihm dankbar mit segensreichen Früchten zu lohnen? Warum zögerte sie denn noch, den Vorschlag, für immer auf Klugenhof zu bleiben, endlich anzunehmen? Hatte Karl Heinz, der selbstlose Bruder, ihr nicht zugeredet, solch ein günstiges Anerbieten nicht leichtsinnig von der Hand zu weisen?

»Du hast mir grad' genug geopfert, Lening, einen Teil deiner Jugendtage! Das ist Vergangenes, aber die Zukunft gehört dir; die darfst du mir nicht auch noch zum Opfer bringen, mein Dirn. Vorläufig kann ja der Onkel Hans auf Nedderdorf wirtschaften. Mutting ist doch auch jetzt wieder wie früher, und ewig dauert mein Studium ja nicht. Nee, Lening, ich leid's nicht, daß du dich wieder in Nedderdorf für mich abrackerst!« So hatte Karl Heinz gesprochen.

Lizzie allerdings hatte nichts von Lenis Zukunftsplänen auf Klugenhof hören wollen.

»Nein, Dornröschen, du paßt nicht zur Vorsteherin. Willst du dir am Ende eine große blaue Brille auf die Nase setzen? Viel besser ist es, du setzt dir Myrtenkranz und Schleier aufs Haar. Ich will zu deiner Hochzeit mit Karl Heinz unsere Walzerkünste aus der Tanzstunde versuchen,« rief das Backfischchen übermütig aus.

»Kiekindiewelt, du redst eben, wie du's verstehst: erst die Nase, dann die Brille! Im übrigen – trägt mein liebes Fräulein Doktor vielleicht eine blaue Brille? Ist sie etwa alt oder gar häßlich?«

Trotzdem Leni so entschieden widersprach, konnte sie ganz im geheimen Lizzie doch nicht unrecht geben. Sie fühlte sich wirklich noch ein wenig zu jung zur würdigen Anstaltslehrerin, und das Myrtenbäumchen daheim an ihrem Turmfenster blühte nun zum dritten Male. »Das hat was zu bedeuten,« pflegte die alte Dörthe zu prophezeien.

»Quatsch,« sagte Leni laut aus ihrem Gedankengang heraus vor sich hin und machte sich wieder an die Arbeit.

Da kam es wie der Frühlingswind über das Feld gejagt.

»Dornröschen – Dornröschen!« Schon von weitem schwenkte die atemlos näherkommende Mieting einen Brief in der Luft.

Leni war nicht allzu neugierig. Sicherlich ein Schreiben von Fritzing! Jeden zweiten Tag geriet Mieting in solche Begeisterung. Aber daß sie heute das Glanzplätten im Stich ließ, war doch immerhin verwundernswert.

»Na, Dirn, was schreibt er denn?« Leni rieb sich lächelnd ihren schmerzenden Rücken.

»Je, Lening« – Mietings Gesicht glich einem Apriltag; es wußte nicht recht, ob es weinen oder lachen sollte – »denk doch bloß, Dornröschen, der alte Großonkel auf Gusserow-Neustritz ist gestern morgen plötzlich gestorben – Herzschlag!« Jetzt rollten wirklich große Tränen aus Mietings Braunaugen.

»Ih, hat sich der alte Herr davongemacht!« Leni kannte den Verstorbenen wohl; sie waren ja Gutsnachbarn, denn Gusserow schnitt mit einem Waldzipfel in Nedderdorfer Gebiet ein.

»Mieting – Dirn« – es ging mit einem Male wie eine Erleuchtung über Dornröschens Gesicht – »da sind doch die Staberow die nächsten Erben zu den beiden Gütern! Nu könnt ihr ja heiraten!«

»Ja, Lening – mein Fritzing schreibt eben, er soll Neustritz übernehmen, und nach der Ernte ist Hochzeit« – nun brach die Aprilsonne bei Mieting aus den Regenwolken heraus – »aber es ist so unrecht, daß ich mich freue,« setzte sie gleich wieder mit einem Anlauf zum Betrübtsein hinzu.

Leni faßte sie ohne Umstände mit ihren erdigen Händen und umarmte sie.

»Freu dich man, min olle lütte Dirn, das is nix Unrechtes! Der alte Herr war ja bald an die neunzig; der hat sein Leben ausgekostet.«

»Je, Lening, aber da ist noch ein Haken bei« – Mieting wurde aufs neue kleinlaut – »dich geht die Geschichte auch an, denn mein Schwager Hans soll Gusserow übernehmen, will sein Vating. Da wirst du wohl wieder die Inspektorstiebel auf Nedderdorf antrecken (anziehen) müssen, mein Dirn, und hast doch ganz andere Absichten und Ziele! Ach, daß man sich doch auch nie ganz rein freuen kann!«

Leni blieb still; sie sagte keinen Ton.

Nun war es entschieden! Ihr Lebensschifflein, das bereits ausgerüstet war, um sich hinaus in den Ozean des Lebens zu wagen und dort den Kampf mit Wind und Wellen aufzunehmen, mußte die Segel wieder einstreichen und seinen Bug still zum Heimathafen richten. Das Schicksal, das sie in jugendlicher Unerfahrenheit als festes Steuer in den Händen zu haben glaubte, es hatte ihr jede Entscheidung vorweggenommen. Jetzt saß es am Steuer ihres Lebensschiffleins und schaute das fassungslose Dornröschen mitleidig lächelnd an.

»Wohin wir segeln, das ist ja ganz gleich, du junges Kind! Das Glück ist hier wie dort. Es ist allenthalben; man muß es nur herauszufinden wissen!« So sprach und tröstete das Schicksal oder war es der Frühlingswind, der in kosendem Flüstern ihr über das Haar fuhr?

Leni schwankte keinen Augenblick länger. Sie wußte jetzt, wo ihre nächste Pflicht lag. Sie ging mit Mieting ins Haus, um Fräulein Doktor davon in Kenntnis zu setzen, daß sie Klugenhof wohl bald würde verlassen müssen.

Da lag in ihrem Brieffach drunten ein Schreiben mit Muttings lieben Schriftzügen. Es war so, wie die Freundin sagte.

»Bis Johanni will der Onkel Hans noch auf Nedderdorf bleiben,« schrieb Mutting, »damit Du Deine Studien in Ruhe vollenden kannst, Kind. Vielleicht kommst Du dann ein paar Tage früher heim, um Dich noch in alles einführen zu lassen. Nun mußt Du die Erntearbeit wieder allein auf Dich nehmen; aber ich bin ja jetzt auch wieder so weit, um Dir die Last ein wenig mit tragen zu helfen. Der junge Staberow wollte zuerst gar nichts von der Veränderung hören und sprach davon, Gusserow dem dritten Bruder zu überlassen. Aber das habe ich natürlich nicht gelitten, daß ein Mensch seine Zukunft, und wäre es auch aus selbstlosestem Herzen heraus, uns zum Opfer bringt.«

»Und meine Zukunft? Ist die nicht auch etwas wert? Wer fragt denn nach der?«

Welcher böse Geist war es, der Leni mit einem Male diesen häßlichen Gedanken zuflüsterte? Aber er war plötzlich da und wollte nicht weichen.

Schnell schob sie das Schreiben der Mutter in ihre Briefmappe; da flog ihr ein vergilbtes Papier vor die Füße.

»Weiches Herz,
Harte Hand,
Solches ziemt
Landmannsstand.«

Ihres Vatings Wahlspruch! War ihr Herz, das freudig die nächste Pflicht erfüllen sollte, nicht soeben häßlich und hart gewesen? Still drückte sie die Lippen auf die Worte des Vaters. Jener selbstsüchtige Gedanke hatte seine Macht über sie verloren.

Der erste April machte seinem Namen alle Ehre. Graues, zerrissenes Gewölk jagte am Himmel; hier ein Fetzen Himmelsblau, dort flatternde schwarze Regentücher. Jetzt pladderte es in Strömen gegen das Fensterblech; im nächsten Augenblick steckte die Sonne schon wieder voll übermütiger Neckerei ihren Kopf aus dem düsteren Wolkenvorhang. Geschwind eine Handvoll Eisschloßen auf die neuen Frühjahrshüte geschleudert und sie dann lustig wieder im Sonnenschein getrocknet! So ging das von morgens bis abends.

Auf Klugenhof machte der erste April sein Regiment ebenfalls fühlbar. Sonnenschein und Regen: mit feuchten Augen und lachendem Munde nahmen die Zöglinge Abschied. Über die Hälfte der jungen Damen hatte die Lehrzeit beendet und zog nun aus dem traulichen Kreis hinaus, um das Erworbene nutzbar zu machen. Die meisten hatten ihren Neigungen und ihrem Können entsprechende Stellungen angenommen. Fräulein Doktor, die viel gute Beziehungen besaß, war ihnen dabei mit Rat und Tat zur Hand gegangen. Es wurde den jungen Mädchen nicht leicht, die vertraute Stätte zu verlassen, die ihnen längere Zeit eine Heimat bedeutete. In warmer Dankbarkeit neigten sich die hellen und dunklen Köpfe über die Hand der getreuen Hüterin von Klugenhof.

Auch Mieting flog von dannen. Ihr Betrübtsein galt vor allem der Tatsache, daß sie ihre Leni zurücklassen mußte, mit der sie jetzt monatelang früh und spät zusammen gewesen war. Nicht einmal bis nach Berlin konnte Leni die Freundin bringen! Sie mußte die Beförderung Mietings Karl Heinz und Lizzie überlassen, denn mittags schon rückten die neuen Rekruten auf Klugenhof ein; Fräulein Doktor bedurfte ihrer bewährten Stütze.

Zaghaft, mit ängstlichen Augen kamen die Neuen. Leni gab sich aus mitfühlendem Herzen heraus alle erdenkliche Mühe, es den Fremden bald heimisch zu machen. Aber Klugenhof hatte doch ein anderes Aussehen bekommen, obwohl das auf den ersten Blick nicht so schien. Die braunen Maikäferkleider zwar waren ähnlich geblieben, aber Mietings blonder Scheitel, Gustels lustige Augen, die Borsdorfer Apfelwangen der frischen Kläre und manch anderes liebgewordene Gesicht fehlte. Leni schloß sich nun noch enger an Silvia an, und diese lohnte ihr die Zuneigung durch schier abgöttische Liebe. Die verhaßtesten Arbeiten vollführte das vornehme Baroneßchen jetzt freudig, wenn Leni es wünschte. Silvia wurde dabei einfach und liebenswürdig, und Leni war glücklich, Gutes zu wirken.

Sonnendurchleuchtete Tage reihten sich aneinander zur goldenen Kette. Leni war wie durchtränkt von Sonnenglanz. Ihr Lachen klang hell und jung; sie war frisch bei der Arbeit, ganz von Herzenswärme auch gegen das kleinste Lebewesen erfüllt. Wenn sie des Sonnabends in die Millionenstadt hineinfuhr, um noch die letzten Monate Kunst und Theater auf Vorrat einzuheimsen, dann schwenkte Karl Heinz übermütig seinen Hut. »Hurra, der leibhaftige Frühling hält seinen Einzug in Berlin!« Er war von geradezu rührender Dankbarkeit gegen Dornröschen, trotzdem diese immer wieder versicherte, daß es für sie kein Opfer bedeute, nach Nedderdorf zurückzukehren.

Saatzeit kam und ging. Grüne Halme füllten sich mit schwerer Frucht und reiften nach ewig sich wiederholenden Gesetzen dem Ernteschnitt entgegen.

Auch Lenis Saatzeit auf Klugenhof ging ihrem Ende zu. Erfüllt von Wissen und Können, von Jugendfrische und Tätigkeitsdrang kehrte sie zur Waterkant zurück. Dem teuren Heimatboden sollte der Erntelohn ihrer mühereichen Werdezeit zugute kommen. Glückauf zum gedeihlichen Werk!


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