Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Der neue junge Herr

Der olle Jürgens hatte recht behalten. Es war »ein sweres Stück«, jetzt Arbeitskräfte aufzutreiben, selbst für einen Gewandteren und Umsichtigeren, als es der brave Alte nun mal war. Wenn er nach des Tages Irrfahrten seiner jungen Herrin Bericht erstattete, hörte Leni stets dieselben trostreichen Worte: »Je, Frölen Lening, noch ümmer nix nich! Dat Rackertüg (Rackerzeug) is ja allens nach Arndsee, Warnemünde und Heiligendamm, in de nimodschen Badeorten; dat will eben nich mihr arbeiten. Äwerst täuwen Sei man (aber warten Sie nur); ick wer' sei all utfinnig (ausfindig) maken!«

Ja, wenn man die Heuernte auf Weihnachten hätte verlegen können, würde Jürgens sicherlich bis dahin neue Tagelöhner »utfinnig« gemacht haben. So lange konnte Leni aber doch nicht gut »täuwen«. Die Maikäfer waren längst ins Jenseits gesurrt; die Junisonne, die jetzt vom weißlichen Hitzehimmel matt und schlaff herniederblinzelte, verwunderte sich schon, daß die auf Nedderdorf noch so weit im Rückstand waren. Kaum ein halbes Dutzend Sensen blinkte auf den Wiesen in ihrem fahlen Licht. Was dachte sich denn das Fräulein Inspektor eigentlich, wie lange sie hier noch stehen und scheinen sollte? – – – – – – – – – – – – – – – –

Dornröschen warf den Kopf mit dem schweren braunen Haar ruhelos in den Kissen umher. Selbst bei Nacht wagte sich diese zudringliche Gesellschaft, die schemenhaften grauen Sorgen, in den Frieden des alten Turmes! Sie huschten lautlos die Wendeltreppe hinauf, drangen in das zierliche Turmstübchen, schlichen sich mitleidslos an Dornröschens Lager und wuchsen ins Riesengroße. Dornröschen aber lag schlaflos, mit schreckhaft geöffneten Augen, und starrte den Schattengestalten, die sich nicht scheuchen lassen wollten, ins mahnende Angesicht.

»Morgen werd' ich mich selbst aufmachen!« Mit dieser Zauberformel versuchte sie, die Lästigen wenigstens auf ein paar Stunden zu zerstreuen. Aber am nächsten Morgen, wenn Dornröschen in aller Frühe die Kornblumenaugen aufschlug, da standen sie schon wieder um sie herum, grinsten sie überlegen an und summten: »Du Arbeiter dingen? Du, ein Mädel, ein junges, unerfahrenes Ding? Damit sie gleich die Lust verlieren und sehen, daß auf Nedderdorf kein ordentlicher Herr das Zepter führt, und was da für eine Lotterwirtschaft herrscht?« Sie hängten sich an den Saum von Dornröschens Kattunkleid, an die wehenden Schürzenbänder, und an ihre jungen, kräftigen Arme, die grauen, unsichtbaren Sorgengeister. Sie ließen sich mitschleifen ins Haus und in die Ställe, durch den Hof und auf die Felder. Überall gaben sie Dornröschen das Geleit und zogen jede aufkommende junge Freudigkeit gleich wieder schwer und tückisch zu Boden.

So sah es auf Nedderdorf aus, als Herrn Dürenfurts Schimmel, den Kopf tief auf den Boden gesenkt, das Nedderdorfer Gelände in Augenschein nahm. Er schien mit dem Stand der Dinge ebensowenig einverstanden zu sein wie sein Herr, denn er schüttelte ab und zu unzufrieden seine weiße Mähne. Herr Dürenfurt aber kam aus dem Kopfschütteln gar nicht heraus.

Alle Wetter, das sah bös aus! Sein Mieting hatte ihm nicht umsonst in den Ohren gelegen, doch so schnell wie möglich hinüberzureiten und nach dem Rechten zu sehen. Hier war es höchste Zeit, daß er eingriff.

Und das tat der Vormund denn auch gründlich. Zuerst allerdings setzte es ein mächtiges Donnerwetter für die eigenmächtige Leni, die einmal wieder das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hatte. Aber nachdem Herr Dürenfurt dem ziemlich zerknirschten Dornröschen den Standpunkt gehörig klargemacht hatte, war sein Ärger verflogen. Er schritt mit ihr, die glücklich war, den erfahrenen Landwirt zur Seite zu haben, durch Äcker und Ställe. Er zeigte ihr, wo es hier fehlte, und wo es dort haperte. Er fuhr mit einem Hallo dazwischen, daß das Heu noch nicht herein war, und versprach ihr sofort für ein paar Tage einige von seinen eigenen Leuten, die er gerade entbehren konnte. Auch Frau Lisabeth polterte er in seiner gutmütigen Weise an, sich selbst wieder mehr um das Gutswesen zu kümmern und nicht dem »Grünschnabel«, der Leni, alles allein zu überlassen.

»Werd' mal mit dem jungen Staberow reden, ob er nicht Lust hat, als Verwalter nach Nedderdorf zu gehen; dann könnt' man wenigstens ruhig sein, daß dieser Kiekindiewelt« – damit kniff er Leni ins Ohr »nicht auf eigene Faust hier Dummheiten macht.«

»Ach, Herr Dürenfurt, versuchen Sie es doch noch mal mit mir allein,« bettelte Dornröschen, trotzdem sie doch schon reichlich Lehrgeld gezahlt hatte; ihr kindischer Stolz wollte es nicht zugeben, daß sie der Sache nicht gewachsen war,

»Hm – na, das wird sich alles finden!«

Leni wußte nicht recht, was sie aus dieser Antwort des Vormundes machen sollte.

Als das letzte helle Pünktchen des Schimmelschwanzes längst mit der weißen Ferne verschwommen war, stand Leni noch immer unbeweglich und schaute Roß und Reiter nach. War es doch, als ob plötzlich wieder ein Hauch freudiger Lebenskraft über den Nedderdorfer Hof geweht habe! Unwillkürlich öffnete Dornröschen die kirschroten Lippen, als könne sie diese Freudigkeit in sich hineintrinken und festhalten.

Auch für neue Tagelöhner sorgte Herr Dürenfurt. Wozu Jürgens fast eine Woche gebraucht hatte, ohne etwas zu erreichen, das brachte der tatkräftige Mann in knapp drei Stunden zu Werke. Bald marschierte ein Trupp handfester Arbeiter die weiße Pappelstraße auf Nedderdorf zu.

Nun konnten sich eigentlich Dornröschens getreue Begleiter, die quälenden Sorgengeister, verflüchtigen. Aber das taten sie nicht; nur ein anderes Gesicht zeigten sie dem Mädchen. Leni hatte wieder neue Sorgen.

Arbeiter kamen ja jetzt, aber der nötige Respekt, der dazu gehörte, sie in Ordnung zu halten, den hatte der Vormund ihr nicht mitwerben können. Woher sollte der wohl kommen? Mußten die neuen Leute nicht auch gleich wieder über die Stränge schlagen, wenn sie erst sahen, daß nur ein Mädel hier Gutsherrn und Inspektor in einer Person vertrat?

Dornröschen seufzte tief auf. Sie sah nicht, wie golden die Nachmittagsonne die blitzende Kaffeemaschine auf dem Anrichttisch aufleuchten ließ, wie sie auf Vatings und Muttings Brautbild einen freundlichen Schimmer warf und selbst über Fränzchens zerlöcherte Strümpfe ein flimmerndes Lichtgitter zog.

Leni hielt den lilablauen Strumpf mit dem faustgroßen Loch in der Hand. Nachdenklich zog sie mit der Sonne um die Wette Fäden hin und her – hin, her – jetzt hüben – jetzt drüben. Hin und her wie die blaue Wolle gingen auch Lenis Gedankenfäden.

Halt! Ein Einfall hatte das junge Mädchen plötzlich durchzuckt, so jäh und ungestüm, daß die lange Stopfnadel statt in Fränzchens Strumpf in Lenis Daumen rutschte. Sie preßte den blutenden Finger an die Lippen und saugte die roten Tröpfchen auf.

»Nein – nein – es geht nicht! Ich müßt' mich ja halbtot schämen,« stieß sie dabei heraus und schüttelte errötend den hübschen Kopf.

Aber der Gedanke gab sie nicht frei. Droben in der Bodenkammer hing ein ausgewachsener Anzug von ihrem Bruder Karl Heinz. Er war noch gut erhalten; von Hänschen oder Fränzchen hoffte man, daß sie mit der Zeit hineinwachsen würden. Der paßte ihr – unbedingt! Wenn sie so vor die neuen Arbeiter trat – potztausend noch mal, da würden sie schon den Herrn in ihr sehen!

»Nein – nein!« Leni wehrte sich aufs neue dagegen; ihr Zartgefühl lehnte sich gegen solch eine unweibliche Handlung auf. Wieder griff sie mit dem verletzten Finger nach dem Strumpf.

Aber die neuen Leute – Jürgens sollte sie in Empfang nehmen, weil das Fräulein Inspektor sich nicht hervorwagte – die erfuhren ja noch früh genug, wer hier das Regiment führte!

Hin und her flog die Nadel, hin und her die Gedanken. Wo gab es einen anderen Ausweg? Sie brauchte sich ja nur für die ersten Tage in Männerkleidung zu werfen, bis die Leute eingewöhnt waren und erkannt hatten, daß auch ein Mädel die Gutsleitung fest in Händen halten könne . . .

Aber »nee, nee, laß die Poten (Hände) von! Laß man sining (sein), Dirn,« versuchte Leni sich selbst ihre Absicht auszureden.

Ja, weiß man denn, wie weit man einer Sache, gegen die man sich noch scheinbar sträubt, im Herzen bereits verfallen ist, wenn sie sich einem erst einmal verlockend gezeigt hat?

»Nur zur Probe will ich ihn mal anziehen.« So schloß Leni ihre Betrachtungen und beschwichtigte damit ihre Scheu und die durch ihr weibliches Empfinden hervorgerufenen Bedenken.

Leise huschte sie die Treppe zum Bodengeschoß empor.

Tadellos war der Anzug von dem Jungen. Der trug seine Sachen besser als die Reißdeibelchen, Hänschen und Fränzchen, Wenn die was ablegten, sah es so aus, daß Leni sich schämte, es den Tagelöhnerkindern anzubieten.

Ein flotter Jackettanzug, schwarzgrau, Pfeffer- und Salzmuster, war es. Schon hatte Leni den Rock abgeworfen und kletterte in Karl Heinz' Beinkleider. Sie saßen wie angegossen. Die Weste war etwas weit, aber was schadete das! Man steckte sie hinten einfach mit einer Sicherheitsnadel zusammen. Wenn nur der Junge nicht so lange Arme hätte! Sonst paßte das Jackett großartig; aber die Ärmel rutschten ihr fast bis auf die Fingernägel. Pah – wozu gab es denn Nähnadel und Zwirn! Es war ja eine Kleinigkeit, sie umzusäumen, Steifkragen und Binde fand sie noch von ihrem Aufenthalt in England her, und – hurra – da lag ja auch noch ein weißer Strohhut von dem Bruder in der Schrankecke! Eigentlich war er mehr schwarz als weiß, aber darauf kam es nicht so genau an.

Nun ein Spiegel! Leni trug solch nützliches Gerät nicht bei sich; auch in Karl Heinzens sämtlichen Taschen stöberte sie vergeblich danach herum. Sie fand nur einige Bleistiftstummel und Krümel. Die winzige Scheibe des niedrigen Bodenfensters mußte herhalten. Leni drehte sich nach rechts und links, aber sie sah nicht mehr als ein Hosenbein und auch das nur sehr ungenügend. Die Scheibe war grau und blind; dafür mußte sie Gusting mal wieder den Marsch blasen.

Ob sie schnell ins Empfangszimmer hinunterlief? Da hing ein großer Pfeilerspiegel. Aber wenn ihr jemand begegnete? Nun, dann war es eben ein Spaß, denn im Ernst – nein, im Ernst dachte sie doch ganz und gar nicht an solche Verwandlung!

Wie der Wind war Leni die Treppe hinabgeeilt und stand im Empfangszimmer. Alle Achtung – was wär' sie für ein hübscher Junge geworden! Schlank und rank, die braunen Zöpfe unter dem flotten Herrenhut verborgen, mit rotem, flatterndem Schlips und mit den lachenden, jugendfrohen Augen der heiteren Leni!

Wie unternehmungslustig ihre Blauaugen das schneidige Spiegelbild anblitzten! Wie das in den Adern wieder übermütig brauste und sauste! Keck drehte sie ein unsichtbares Bärtchen, und die jungen Arme reckte sie, als wäre es ihr jetzt ein leichtes, es mit der ganzen Welt aufzunehmen. Da war nichts mehr von Zagen und Sorgen, von Kleingläubigkeit und Zweifeln an der eigenen Kraft! Es schien, als ob sie mit den Kleidern des Bruders auch seinen frischen, fröhlichen Jungenmut mit angezogen hätte. Ihre alte Ausgelassenheit und ihr Selbstvertrauen waren wieder zurückgekehrt.

Die winzige Scheibe des niedrigen Bodenfensters diente als Spiegel.

So – nur so – mußte sie den Arbeitern morgen gegenübertreten! Da wollte sie ihnen schon den Meister weisen!

Traurig schlich sich Lenis mädchenhaftes Empfinden beiseite; es hatte den kürzeren gezogen. Leni war entschlossen, sich den Leuten als »junger Herr« zu zeigen.

Ei, Dornröschen, so leicht und einfach, wie du denkst, ist das denn doch nicht, seine Persönlichkeit auszuwechseln! Da gibt es unvorhergesehene Klippen, plötzlich auftauchende Riffe, an denen man nur zu leicht scheitert!

Gerade als Leni aus ihrer Hosenrolle für heute wieder herausschlüpfen wollte, ertönte Dörthes krächzende Stimme.

»Frölen Lening ach, man bloß vor 'nen Momang! Frölen Leni, kannst nich mal kummen?« Die Alte hatte es nicht vermocht, sich von dem vertraulichen »Du« der Kinderjahre zu trennen; nur bis zum »Frölen« hatte sie sich aufgeschwungen.

Leni stand da und zauderte. Sie konnte doch unmöglich in diesem Aufzug in die Küche hinuntergehen! Ja – aber sie gedachte doch von morgen ab fürs erste überhaupt in der Hosenrolle zu bleiben! Na also!

»Frölen Lening, ick geh mit de Dirns up 'n Trockenplatz; kiek ooch eins nach (sieh doch mal nach), dat de Supp' for de Lüd (Leute) nich brennt,« erschallte es wieder aus dem Untergeschoß.

»Mut – Mut, junger Mann!« Damit sprang Dornröschen leichtfüßig die Steintreppen hinab. Aber sie atmete doch auf, als sie die Küche bereits leer fand.

Die Linke in der Hosentasche vergraben, in der Rechten den großen Holzlöffel, so stand Dornröschen am Herd und rührte in dem Riesensuppenbottich. Fröhlich pfiff sie! »Als unser Mops ein Möpschen war,« Karl Heinzens Lieblingslied. Wie lange war das her, daß sie nicht mehr gepfiffen und gesungen hatte!

Sie überhörte Dörthes schleichende Filzschuhe, die diese selbst im heißesten Sommer trug. Erst als eine empörte Stimme rief: »Na, wat sall dat woll heißen? Wat hewwen (haben) Se denn hier tau dauhn (zu tun), Sie, junger Mann? Scheren Se sich ut mine Küche rut (raus),« biß sie sich auf die Lippen, rührte sich aber nicht vom Platz.

Da packte die alte Dörthe den dreisten Burschen kurz entschlossen am Rockkragen.

»Rut,« schrie sie noch einmal, daß ihr fast die Stimme überschnappte, »rut! Du büst ja ein ganz utverschämter Slingel,« und sie zerrte aufgeregt den um anderthalb Kopf größeren jungen Mann vom Herd fort.

Da aber drehte sich der kecke Jüngling zu ihrem sprachlosen Entsetzen plötzlich um und schlang seine beiden Arme um den Hals der Alten.

»Himmel,« kreischte die Alte, »wat hab' ick mir verfiert (erschreckt)! Frölen Lening, büst du et oder büst du't nich?« Sie starrte immer noch unsicher in Lenis lachendes Gesicht.

An der Tür aber standen, quiekend vor Vergnügen, Gusting und Miening mit ihrem Stärkebeutel und mit dem großen Spülzuber und hielten sich mit ihren bloßen roten Wascharmen die Seiten vor Lachen.

»Wat hewt ihr denn tau kieken (gucken)? Gaht an de Arbeit,« brummte die Alte unwirsch, denn sie war ärgerlich, daß sie vor den Mädchen angeführt worden war.

Dornröschen vergrub auch noch die Rechte in die Hosentasche, stellte sich breitspurig vor die alte treue Seele hin und schaute ihr in das finstere Gesicht.

»Na, Dörthe, wie gefällt dir dein neuer junger Herr?«

»Du sallst di wat schämen, Frölen Leni,« legte da plötzlich die Alte los und stemmte die Arme in die Hüften. »Jo, wat schämen sallst du di! Solche Fastnachtspossen hier vor de Lüd tau treiben! Wo sull denn da der schüllige (schuldige) Respekt bliwen?«

Dörthe drehte ihr den Rücken und hantierte geräuschvoll am Herde. Sie war nicht gewöhnt, hier auf Nedderdorf, wo sie schon als Tagelöhnermädel herumgesprungen war und seit ihrem sechzehnten Lebensjahr treu gedient hatte, irgend ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Leni stand wie verdonnert. Was, den Respekt sollten die Leute vor ihr verlieren? Den wollte sie sich ja gerade durch ihr »männliches Auftreten« erzwingen! Ach, dummes Zeug! Die Alte redete, wie sie's eben verstand.

»Das sind durchaus keine Fastnachtspossen, Dörthe, sondern aus ernster Überlegung heraus habe ich mich zu dieser Umwandlung entschlossen. Ich will doch sehen, ob ich de Lüd morgen nicht den Herrn zeigen kann!« Sie ging mit großen Schritten auf den Steinfliesen auf und nieder.

»Nee, Frölen Lening, man jo nich! Dat dauht (tut) nich gut. Der Natur soll kein Mensch nich in't Handwerk pfuschen; wat einer is, dat sall er ok bliwen (soll er auch bleiben). Nee, min Döchting, nee, da büst du hellschen up'n Holzweg, wenn du glöwst, dat sowat de Lüd in Räson hält!« So las die Dörthe der großen Leni den Text, wie sie es einst bei der kleinen getan.

Aber ebensowenig wie damals die lütte (kleine) Leni gehört hatte, tat es jetzt die große, denn ihren halsstarrigen Nacken hatte die Leni heute noch. Der kam es nicht darauf an, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen.

Schweigend griff sie zu dem Tellerchen mit Ananaserdbeeren, die sie heute für ihr Mutting als Erfrischung von den in die Stadt zum Verkauf wandernden Erdbeerkörben zurückbehalten hatte. Stumm machte sie kehrt, ohne sich in weitere Erörterungen einzulassen, während die alte Dörthe, immer noch vor sich hinbrummelnd, unzufrieden mit ihren Töpfen rumorte.

»Ach was! Wie kann denn Dörthe das übersehen! Was versteht denn die davon,« versuchte sich Leni vor sich selbst herauszureden. Daß die schlichte alte Dienerin mit ihrem geraden, einfachen Empfinden das Rechte getroffen hatte, wollte ihr durchaus nicht in den Sinn. Aber sie lief nicht mehr so ungestüm die Stufen hinauf, wie sie dieselben herabgeeilt war, und sie pfiff auch nicht mehr. Sie war nachdenklich geworden.

Sie trat in das Jagdzimmer. Die Mutter wandte ihr den Rücken; sie kramte gerade in dem Schränkchen, in dem sie die Gegenstände, die ihr Gatte täglich gebraucht hatte, wie Reliquien verwahrte: seine kurze Pfeife, sein Notizbuch, die Schirmmütze, seinen Bleistift und so manches andere noch. Ihr Kopf war der eben eintretenden Tochter nur halb zugewandt.

»Karl Heinz, Junge, wo kommst denn du her?« entfuhr es ihr, und sie schrak zusammen; mit einem Ruck drehte sie sich herum. Da blickte sie in Lenis verlegenes Gesicht. Befremdet musterte Frau Lisabeth den seltsamen Anzug der Tochter. Dann schloß sie still ihre Erinnerungen in das Nußbaumschränkchen. Sie fand sich noch nicht wieder in die fröhlichen Scherze der Jugend zurück.

»Mutting, es geht nicht anders,« begann Leni jetzt doch ein wenig kleinlaut. »Sollst mal sehen, die Leute werden ganz anders arbeiten, wenn sie denken, daß ein Herr hier die Wirtschaft unter sich hat.« Sie setzte die Erdbeeren vor die Mutter nieder.

»Dirn, büst du unklug?« Über Frau Lisabeths bleiches Gesicht flog eine leichte Röte. »Du willst doch nicht im Ernst dich so vor den Tagelöhnern blicken lassen? Mir tun solche Späße weh!« Sie fuhr mit dem Tuch über die Augen.

»Es ist der einzige Ausweg, Mutting! Vor mir als Mädel haben sie keinen Respekt, da muß ich das eben einmal anders versuchen.« Leni zupfte aufgeregt an ihrem Kragen. Sie war es nicht mehr gewohnt, solch ein steifes, unbequemes Ding zu tragen.

»Lening, du bist doch sonst solch verständige Dirn, wie kannst dir da nur denken, das die Lüd vor einem Anzug Respekt haben werden? Da könntest du ja ebensogut eine Vogelscheuche mit Karl Heinzens Kleidern behängen und sie als Gutsherrn in den Kartoffelacker stellen. Nein, Kind, nicht auf die Kleider kommt es an, sondern allemal, daß ein tüchtiger Mensch drin steckt! Ob das nun ein Frauenzimmer oder ein Mann ist, ich sollt' doch meinen, das wär' ganz gleichgültig.«

Es war, als ob wieder ein Funken von Muttings früherer Energie durch den eigenartigen Anblick der Tochter geweckt worden wäre. Aber Dornröschen war weit davon entfernt, sich darüber zu freuen. Denn wie gesagt, die Leni hatte noch immer ihren eigensinnigen Kopf, den sie schon als Kind besessen. Ja, er war mit dem selbständigen Walten vielleicht noch eigensinniger geworden. Sogar das liebe Mutterwort prallte an ihrem harten Schädel ab.

»Gleichgültig, ob ein Mann oder ein Mädel hier die Oberaufsicht führt? Na, Mutting, ich hab' es doch jetzt zur Genüge erfahren! Es ist nicht gerade pläsierlich, Lehrgeld zu zahlen, wie ich es mußte.« Leni knöpfte abwechselnd Karl Heinzens Jacke auf und wieder zu.

»Du wirst noch mehr Lehrgeld zahlen müssen, mein Dirn, wenn du's jetzt nicht einsehen willst, daß man durch solche Unweiblichkeit sich nirgendwo Achtung und Ansehen verschafft, auch nicht bei den einfachen Leuten! Bei denen am allerwenigsten!«

Ach, Leni empfand ja selbst die Unweiblichkeit am meisten; aber sie wollte sich nicht eingestehen, daß sie sich hier auf falschem Wege befand. Nein, sie hatte sich das nun mal in den Kopf gesetzt: folglich mußte es auch gut sein.

»Ih, Mutting« – Dornröschen hockte sich auf die Lehne des Armstuhls und schlang die Linke herzlich um der Mutter Hals – »Fehler sind dazu da, daß sie gemacht werden, und ein jeder muß sie für sich selbst machen. Aber ich glaube noch gar nicht, daß ich was Falsches tue! Mutting, paß Achtung, so halt' ich die Arbeiter in Zucht!« Damit eilte sie aus dem Zimmer. Sie wollte sich ihre frohe, zuversichtliche Stimmung nicht rauben lassen.

Mutting aber blickte ihr lange nach. Ja, die liebe Jugend! Die nahm nicht eher Vernunft an, als bis sie selbst wieder so weit war, den eigenen Kindern Vernunft predigen zu müssen! So war's stets – so wird's immer sein.


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