Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Zwei Nordpolsucher

Dornröschen hatte der kurze Besuch des Bruders besonders wohl getan. Nach seiner Abreise fand sie keine Minute überflüssige Zeit. Sie tummelte sich im Geflügelhof und in den Milchkammern, sie griff auf dem Trockenplatz beim Wäscheaufhängen mit an und freute sich, wie lustig das Linnen im Winde flatterte. Sie half der Mutter bei der Durchsicht der Kleider für die Gören und war froh, wieder mit ihr gemeinsam schaffen zu können.

»Dirn, fang' bei dir mit der Eitelkeit an,« scherzte Mutting, denn nichts war Dornröschen auf einmal für Suschen hübsch genug. Sie kramte in dem Bandkasten herum und ergatterte allerlei Restchen, um die einfachen Kleider der Kleinen ein wenig herauszuputzen. Dabei hatte sie dasselbe fröhliche Gefühl wie vor vielen Jahren, als sie für ihre Puppen schneiderte.

Aber gerade, wenn Dornröschen einmal wieder so von Herzen vergnügt war, kam irgendetwas von ungefähr und duckte sie, damit sie nur ja nicht übermütig wurde . . .

Die Zwillinge fehlten eines Tages bei Tisch. Seit dem Tage, da sie Dornröschens gerechten Zorn wegen der schlauersonnenen Flugmaschine für Suschen zu fürchten hatten, war das nicht mehr vorgekommen.

Mutting, Dornröschen und Onkel Hans sahen einander erschrocken an. Was mochten die Rangen wieder ausgeheckt haben?

Der Verwalter erbot sich sogleich, nach dem Essen selbst ins Dorf zu gehen und in der Schule Nachfrage zu halten. Als er zurückkam, brachte er nur die Meldung, daß die Schlingel auch die Schule geschwänzt hatten. Gleichzeitig aber beruhigte er die besorgten Frauen.

»Sie haben sicherlich dem älteren Bruder das Geleit bis zur nächsten Eisenbahnstation gegeben, und weil sie wissen, daß Dörthe heute mit Butter und Eiern in die Stadt kommt, warten sie, um mit ihr zurückzufahren.«

Das war einleuchtend. Aber Mutting sowohl wie Lening konnten ein gewisses beklemmendes Gefühl nicht unterdrücken. Oder war daran die für einen Augusttag merkwürdige Schwüle schuld? Trotzdem gegen Abend von allen Seiten her schwarzes, unheilvolles Gewölk heranzog, machte sich Leni doch auf, um Dörthe ein Endchen entgegenzugehen.

Der Butterkarren mit dem davorgespannten Schimmel schunkelte langsam heran, aber nur Jürgens und Dörthe, die sich von »gaude olle Tiden vertellten« (guten alten Zeiten erzählten), saßen auf dem Vorderbrett. Die Jungen waren ihnen nicht vor Augen gekommen.

Jetzt konnte auch Onkel Hans nicht länger mit seinen Befürchtungen zurückhalten. Er hatte inzwischen eine schwerwiegende Entdeckung gemacht: der Kompaß in seiner Westentasche fehlte!

»Diese Racker – die haben sicher 'ne kleine Polarreise unternommen! Solch eine Räuberbande! Aber regen Sie sich nicht auf, gnädige Frau! Weit können sie noch nicht sein; ich will Ihnen die jungen Nordpolfahrer schon wieder einliefern. Jürgens, die Laterne! In einer Stunde haben wir Nacht, also auch die Hunde losgemacht!«

So erteilte der Verwalter mit ruhiger Stimme seine Befehle. Aber er war nicht so ruhig, wie er sich den Anschein gab; die vertrackten Rangen hatten immerhin schon einen gehörigen Vorsprung!

Als er, mit dem Gummimantel und einem Fläschchen Kognak ausgerüstet, auf den Hof hinaustrat, wo Jürgens und die Köter ihn bereits erwarteten, fielen die ersten schweren Tropfen.

»Also keine Angst, gnädige Frau, wenn es auch spät wird,« rief er noch einmal grüßend zu dem Fenster hinauf, aus dem angstvolle Mutteraugen ihm folgten.

Wo die Kirschenallee auf die Landstraße mündete, am Gartentor, stand Dornröschen. Die Kragenkappe des braunen Überwurfs über den Kopf gestreift, tauchte sie plötzlich wie ein Erdgeist auf.

»Ich gehe mit,« erklärte sie bestimmt.

»Nein, gnädiges Fräulein, das darf ich nicht zugeben! Gleich werden wir den schönsten Pladderregen haben; außerdem müssen wir darauf gefaßt sein, die Nacht irgendwo im Freien zuzubringen. Das ist nichts für Damen.«

»Ich bin keine Dame; ich bin ein –« sie verschluckte aber das Wort Landpomeränzchen; es kam ihr in diesem Augenblick doch zu kindisch vor.

In schweren, schnellen Tropfen begann der Regen zu fallen; zugleich lief der erste grelle Zickzack über den schwarzen Himmel.

»Ihre Frau Mutter wird sich um Sie sorgen; sie bedarf vielleicht Ihres tröstenden Zuspruchs,« stellte Onkel Hans aufs neue eindringlich vor.

»Sie weiß davon; ich kann unmöglich zu Hause im Trocknen hocken, wenn sich Fremde nicht um das Wetter scheren.«

Onkel Hans schwieg verstimmt. Es war ihm gar nicht recht, daß er das Mädel in Nacht und Wetter mit hinausnehmen mußte.

Man hörte nur das Trappen der Stiefel, das Prasseln des Regens und den vorläufig noch in der Ferne grollenden Donner. Bloß einmal unterbrach Dornröschen die Stille durch die Frage: »Wohin gehen wir?«

»Nach Norden zu!«

Dann zogen sie wieder schweigend weiter. Der Sturmwind raste heulend über das offene Feld. Er riß und zerrte an Lenis Kappe; er warf ihr eine Handvoll Hagelschloßen um die andere ins Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen und schritt kräftig aus.

»Ih, dat is jo ein Wedder –!« Jürgens zog sein grünes, gestricktes Wolltuch fester um den Hals.

Eine bläulichgelbe Feuerschlange zuckte vor ihnen auf, so dicht, so unmittelbar, daß Leni unwillkürlich, wie hilfesuchend, die Hand weit ausstreckte.

Eine bläulichgelbe Feuerschlange zuckte vor ihnen auf.

»Sie hätten zurückbleiben sollen!« sagte Onkel Hans und stampfte mit schweren Tritten das Erdreich.

»Nee!« Dornröschen hielt tapfer mit ihm Schritt.

Cäsar knurrte, Bubi winselte, und der Wind heulte.

»Im Walde haben wir Schutz,« unterbrach Leni den stummen Marsch.

»Im Walde ist es stockduster und außerdem beim Gewitter der Aufenthalt dort nicht ratsam; wir müssen am Saum entlang gehen, wenn uns auch der Regen noch so sehr zusetzt,« entschied der Verwalter,

Wolkenbruchartig rauschte jetzt der Regen hernieder; er drang sogar durch Lenis Loden und machte sie erschauern. Im Walde, an dem es jetzt dahinging, krachte und knackte es; Blitz und Sturm trieben darin ihr Unwesen.

»Rackertüg, konnt dat sich nich 'n anner Wedder utsäuken (aussuchen)?« zankte der olle Jürgens vor sich hin; aus seinen grisigen Haarsträhnen flossen kleine Bächlein.

»Vater im Himmel – wenn sie nur nicht im Walde Unterschlupf gesucht haben!« Ein gewaltiger Donnerschlag legte Leni diese angstvollen Worte auf die Lippen.

»Das hat eingeschlagen!« Onkel Hans lauschte dem Splittern und Krachen; dann legte er die Hände hohl gegen den Mund.

»Hans – Franz!« schrie er mit gewaltiger Stimme, und »Hänschen – Fränzchen!« rief auch Dornröschen aus zitterndem Schwesterherzen heraus.

Keine Antwort ertönte. Nur der Sturm hohnlachte.

Leni wußte nicht, wie lange sie schon gegangen waren. Sie hatte die unsichere Vorstellung, daß sie jedenfalls bald an der Waterkant sein mußten. In ihren Stiefeln schwappte das Wasser bei jedem Schritt; man konnte nicht mehr die Hand vor den Augen sehen.

»Hans – Franz – Hänschen – Fränzchen –« und »Hansing – Franzing« fiel auch der alte Knecht mit heiserer Stimme ein.

»Hopsa!« Hans Staberows Rechte griff stützend nach seiner Begleiterin, die plötzlich einen Luftsprung vollführte, denn sie war in der Finsternis über Wurzelgeäst gestolpert.

»Haben Sie sich verletzt? Nicht? Sind Sie aber naß! Ich denke, wir kehren um.«

»Nein – ach nein – noch 'ne Stunde oder zwei! Wir müssen sie ja finden,« flehte Dornröschen in ihrer Herzensangst.

»Bei Tage sind die Nachforschungen leichter; aber wie Sie wollen! Wenn es Ihnen nicht zuviel wird?« Der Verwalter band seinen Gummimantel ab und legte ihn ihr ohne weiteres um.

Leni wehrte sich. Aber ihrem Sträuben setzte Onkel Hans ein entschiedenes: »Dann kehren wir um!« entgegen. Er nahm Jürgens die Laterne aus der Hand und schritt, damit den Weg beleuchtend, voran.

»Man kann ja all gor nix mihr kieken (sehen),« brummte der alte Jürgens.

Auch Cäsar murrte. Das war ja ein Wetter, an dem man nicht einmal einen Hund hinausjagen mochte. Bubi dagegen fühlte sich begeistert in diesem Hundewetter. Er lief mit der Leichtfüßigkeit der Jugend voraus und wieder zurück und machte den Weg der anderen mindestens dreimal. Nur wenn eine zu arge Wassertraufe heimtückisch aus den Kiefern auf seine breite Teckelnase herniederbrauste, heulte er verärgert auf.

Der Regen hatte ein Einsehen. Als man endlich aus den Waldungen wieder auf Wiesen hinaustrat, ging er in ein gemütlicheres Plätschern über.

Hans Staberow wies auf winzige Lichter, die jenseits des Geländes aufzuckten.

»Das nächste Dorf! Weiter als bis dorthin gehen wir keinesfalls. Gleich zehn Uhr – wir werden den Dorfschulzen herausklopfen; vielleicht kann er uns auf die Spur bringen.«

Zagenden Herzens folgte Leni den beiden Männern über die Wiesen, auf denen große Heuschober sich zeltartig erhoben. Sie hatte alle Hoffnung aufgegeben, die Jungen noch zu finden. In ihrer verängstigten Phantasie sah sie die beiden bereits mitten in der nördlichen Gletscherwildnis den Polarwölfen zum Opfer fallen.

»Au!« Onkel Hans rieb sein Knie. Er war, als er einen Heuschober umgehen wollte, gegen ein feindliches Etwas gestoßen und hing noch mit dem Beinkleid an jenem tückischen Ding fest. War es eine Heugabel oder eine Karre? Der Verwalter machte sich los und leuchtete mit der Laterne.

»Ein Schlitten«, rief Dornröschen erregt.

»Je, uns' Kinnerslidden,« pflichtete Jürgens bei; den kannte er, den hatte er selbst gezimmert und mit schöner blauer Ölfarbe angestrichen.

Cäsar schlug plötzlich an, oder war es Bubi?

»Muttings Radmantel – mein Muff,« schrie Dornröschen da wieder, im Dunkeln mit den Händen in der Nässe herumtappend.

»Dann können unsere kühnen Polarforscher nicht weit sein!«

Der Verwalter leuchtete mit der Laterne bereits den einem Eskimozelt gleichenden Schober ab.

»Hier kiekt 'n Been rut (schaut ein Bein raus),« stellte Jürgens voll Gemütsruhe fest.

Der gelbliche Zitterschein der Laterne bestrahlte ein merkwürdiges Bild.

Da lagen in dem Eskimozelt die beiden mutigen Nordpolforscher, ihre Pelzmützen mit Ohrenklappen bis auf die Nase gezogen, warm hineingewühlt in das Heu, das sich wie ein schützendes Dach über sie wölbte. Sanft schliefen sie trotz Sturm und Wetter und träumten mit heißen Wangen von den zu bestehenden Gefahren und Heldentaten. Sämtliche Pelzsachen des Gutes waren über sie gebreitet. Links von ihnen lag die rote Badehose, rechts die zylinderlose Küchenlampe und ein halb vertilgtes Schweinerippenstück, das sie aus der Vorratskammer, an Stelle des nicht aufzutreibenden Walfischfleisches, entwendet hatten.

Onkel Hans mußte hell auflachen.

»Entdeckt,« rief er dem jungen Mädchen zu, das herzklopfend auf ein Wort wartete.

»Gott sei Dank,« flüsterte Dornröschen erregt, während Cäsar und Bubi nicht weniger aufgeregt den Heuschober umkläfften.

Die beiden Polarforscher rieben sich, unruhig geworden, die Augen.

»Entdeckt – was ist entdeckt?« stammelte Hänschen noch halb im Schlafe.

»Der Nordpol – Jung' – ihr könnt ruhig mit nach Hause kommen und dort eure Wichse in Empfang nehmen!«

So ermunterte ihn Onkel Hans völlig. Dann schleppte er die beiden verschlafenen Schlingel, die nicht wußten, wie ihnen geschah, am Schlafittchen zur Schwester.

»Tausend tausend Dank!« Dornröschen streckte Onkel Hans voll herzlicher Dankbarkeit beide Hände entgegen.

»Hoffentlich fällt für mich nicht auch noch was von der Wichse ab,« sagte er lachend, »denn ich bin doch die schuldige Ursache zu der Nordpolfahrt. Den ganzen Weg über habe ich mir schon Vorwürfe gemacht.«

Die Forschungsausrüstung wurde auf den Schlitten geladen, und Bubi und Cäsar spannte man als Polarhunde davor. So ging die seltsame Fuhre im rieselnden Regen nach Nedderdorf zurück. Höchst geknickt kehrten die beiden Polarforscher, die man der Sicherheit halber in die Mitte nahm, wieder heim und lebten noch jahrelang in dem festen Bewußtsein, daß der Nordpol viel früher entdeckt worden wäre, wenn man sie damals nicht zurückgeholt hätte.


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