Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Die Kündigung

Die Rangen von Nedderdorf hatten ihre Keile bald vergessen und Dornröschen ihre Dankbarkeit. Die neue Zentrifugalmaschine, die in der Molkerei eingeführt werden sollte, gab Anlaß zu neuer Feindseligkeit,

Jürgens hatte vom Verwalter den Befehl erhalten, die Maschine mit dem Lastwagen von der Eisenbahnstation abzuholen. Aber Leni fand es notwendiger, gerade an diesem Tage das Obst von den Bäumen zu nehmen, wobei sie Jürgens' Hilfe nicht entbehren konnte. So gab sie dem Alten, dem diese Gegenweisung durchaus nach dem Herzen war, einfach den Auftrag, die Zentrifuge ein andermal zu holen. Da all ihre Widerrede gegen die Neuerung nichts genützt hatte, wollte sie wenigstens die Sache so lange wie möglich hinausschieben.

Jürgens lachte sich ins Fäustchen. Er stand auf der Leiter und nahm die großen grüngelben Edelbirnen ab. Leni, mit einer langen Stange bewaffnet, deren oberes Ende eine Art Schmetterlingsnetz bildete, pflückte die Grafensteiner, Goldparmänen, Borsdorfer Äpfel, und wie sie alle hießen. Sie bemühte sich gerade, mit ihrem Obstbrecher einen roten Rostocker Apfel, der besonders hartnäckig war, hoch oben aus dem Blätterwerk zu lösen, da trat der Verwalter vom Wirtschaftshof her in den Garten.

»Ei, gnädiges Fräulein, schon so fleißig bei der Obsternte?«

Damit ging er an ihr vorüber, Leni aber hatte plötzlich den Wunsch, daß er den ollen Jürgens in seinem Birnbaum gar nicht erst entdecken möchte; das gab bloß wieder unliebsame Erörterungen.

Doch ein richtiger, tüchtiger Verwalter muß seine Augen überall haben. Die Leiter mit dem auswärts zwischen die Sprossen geklemmten merkwürdigen Stiefelpaar, das in eine unbeschreibliche Hosenfarbe überging, machte ihn stutzig. Er trat näher hinzu. Dieser graugrüne Farbenton des Wamses und die sardellenartig darüber fallenden Haarsträhnen von der gleichen Farbe – das Gesicht hatte Jürgens wohlweislich der Blätterwildnis zugewendet – waren unverkennbar.

Eine unheilvolle Falte grub sich zwischen die weißblonden Augenwimpern.

»Heda – ich denke, Sie sind nach der Bahn, Jürgens?«

»De Hahn? Ih, de steit (steht) jo up 'n Meßhaufen,« kam die Antwort von oben herab.

Onkel Hans war gerade in der Stimmung, der Schwerhörigkeit des Alten Zugeständnisse zu machen.

»Potzschack noch mal – Sie sollten doch nach der Bahnstation fahren,« schrie er.

»Nee, ick bün hier mang 'n Birnboom,« klang es verdrossen zurück.

Die Stirnfalte des jungen Staberow vertiefte sich.

»Warum haben Sie meinen Befehl nicht befolgt?«

Der Alte brummte etwas Unverständliches, Dornröschen aber, ihre lange Netzstange kühn wie ein Fahnenträger zum Angriff schwenkend, trat jetzt hervor.

»Weil ich ihm andere Weisung gegeben habe! Es ist heute Notwendigeres zu tun, als wieder solch unnützes Möbel herzuschaffen!«

Der graugrüne Vogel da oben in seinem Blätterhaus frohlockte. So war's recht! Tüchtig mußte das Frölen dem Musjeh Neunmalklug eins »up dat Mul gewen«!

Hans von Staberow hatte Mühe, sich zu beherrschen. Man sah es deutlich am Zittern seiner Schnurrbartspitzen, an dem Zucken seiner Gesichtsmuskeln. Endlich hatte er sich soweit gefaßt, daß er sprechen konnte, ohne grob zu werden.

»Von heute an verbitte ich mir jede Einmischung Ihrerseits in Dinge, die Sie einfach nicht verstehen! Ihre Tätigkeit in den Milchkammern, bei Geflügelzucht und Gartenbau will ich meinetwegen gelten lassen; aber in meine Anordnungen bitte ich künftig nicht hineinzureden.«

Einen so bestimmten, ja scharfen Ton hatte der Verwalter bisher noch nie anzuschlagen gewagt. Leni stand geradezu versteinert.

Hans von Staberow wandte sich jetzt zu dem sich möglichst verkriechenden Jürgens.

»Und Sie merken sich: wenn Sie sich noch ein einziges Mal meinen Befehlen widersetzlich zeigen, so sind Sie in demselben Augenblick entlassen!«

Jürgens schüttelte die Faust in seiner Verborgenheit, Wat (was) – er, der mehr als sößtig Johr tru (sechzig Jahre treu) auf dem Hofe gedient, davongejagt wie ein Hund . . .?

Da aber kam wieder Leben in die erstarrte Gestalt Lenis. Das in seinem Kreislauf für Sekunden stockende Blut stieg ihr in die Wangen zurück. Mit vor Empörung blitzenden Augen vertrat sie dem weitergehenden Verwalter den Weg. Sie war röter als der Rostocker Apfel in ihrer Hand.

»Das wird nicht geschehen – niemals,« rief sie so laut, daß man es bis in den Wirtschaftshof hören konnte. »Eher geh' ich selbst aus meinem Vaterhaus, als daß der alte Mann entlassen wird, der uns sein Lebtag treu und redlich gedient hat!«

»Nun, es wird nicht nötig sein, denn ich selbst werde gehen!« Hans von Staberow zwang sich mit Gewalt zur Ruhe. »Ich werde heute noch mit Ihrer Frau Mutter sprechen und Herrn Dürenfurt davon in Kenntnis setzen, daß ich nicht länger als bis Ende des Monats hier bleibe!«

Der Verwalter schritt davon. Dornröschen stand erstarrt.

Eine Kündigung? Onkel Hans setzte ihnen klipp und klar den Stuhl vor die Tür? Was würde das arme Mutting sagen – ach, und Herr Dürenfurt! Nun war das halbe Dutzend Inspektoren doch voll geworden!

Was sollte sie bloß tun? Den Verwalter um Entschuldigung bitten? Nein, das brachte sie nicht über sich! Aber wenn er ging, dann begann wieder dasselbe Sodom und Gomorra auf Nedderdorf! Sie war ja inzwischen in landwirtschaftlichen Dingen nicht klüger geworden.

Herr Dürenfurt mußte helfen – vermitteln! Er würde ihr ja eine tüchtige Standrede halten, aber er war der einzige, der die Sache wieder in Ordnung bringen konnte.

Ohne Mutting erst noch vor die Augen zu kommen – denn das wagte sie nach dem Vorgefallenen nicht – ließ sie sich den Schimmel vor das kleine Korbwägelchen spannen und kutschierte gen Staveneck los.

Sie hatte Glück. Eine halbe Stunde vor dem Stavenecker Gutshaus erblickte sie den Vormund auf einem Wiesengelände.

»Das ist recht, mein Dirn, daß du mal nach Mieting sehen kommst.«

»Nee, Herr Dürenfurt, ich will zu Ihnen,« gestand Leni zögernd, und das böse Gewissen schaute ihr deutlich aus den Augen.

»Wetter auch, es ist doch nichts Böses vorgefallen auf Nedderdorf?« – Jetzt half es nichts, Dornröschen mußte beichten. Sie tat es in ihrer ehrlichen Art; ohne etwas zu beschönigen, erzählte sie dem Vormund den Hergang.

»So – hm – das ist ja recht nüdlich! Na, denn iß die Suppe auch aus, die du dir selbst eingebrockt hast, min Dochter,« sagte der Vormund und nichts weiter.

Was – keine Schelte – keine Hilfe? Leni stürzten plötzlich die Tränen aus den Augen.

»Ach, lieber Herr Dürenfurt, helfen Sie mir doch, die Sache wieder gut zu machen – sprechen Sie doch mit dem Verwalter! Ja – bitte, tun Sie es doch!« bettelte sie von ihrem Kutschersitz herunter.

»Nee, fällt mir nicht im Traume ein! Erst 'n großen Mund und dann sich hinter einen anderen verschanzen? Hab' ich dich nicht vorher gewarnt?«

Und nun ging's los. Ach, was mußte Dornröschen alles mit anhören! Was für ein kindisches Mädel sie sei, daß sie dem Verwalter seine mühevolle Arbeit noch erschwerte – daß sie viel zu unreif sei, um den tüchtigen jungen Mann richtig zu würdigen und ihm für seine Tätigkeit dankbar zu sein! Wie ein Sturzbad ging es über die arme Leni hinweg. Aber als Herr Dürenfurt sich seinen Ärger von der Seele geredet hatte, schwang er sich neben sie auf den Bock und nahm ihr die Zügel aus der Hand.

»So, nun wird klein beigegeben!« Damit wandte er das Gefährt nach Nedderdorf zurück.

Leni blickte erlöst zu dem wohlwollenden Gesicht des Vormundes auf. Wenn nur das Abbitten nicht gewesen wäre! Sie brachte sicher keine Entschuldigung heraus; das wußte sie vorher.

Aber sie hatte heute zum zweitenmal Glück. Der Verwalter war nicht auf dem Hof, sondern draußen auf dem Vorwerk. Leni hatte im Hause Pflichten; so suchte Herr Dürenfurt den jungen Staberow allein auf.

Es war schwerer, als er geglaubt hatte, den Verwalter zum Bleiben zu bewegen. Der hatte die Sache und das Gegensteuern des eigenmächtigen Mädchens jetzt gründlich satt.

»Sie wird von nun an verständig sein,« wiederholte der Vormund wohl zum zehnten Male. »Sie hat es mir versprochen. Die Dirn ist aus anderem Holz als die meisten Mädel; das biegt sich nicht so leicht, aber es ist auch Verlaß drauf.«

Der Verwalter blieb also. Dornröschen ging ihm aber nach Möglichkeit aus dem Wege. Sie konnte sich nicht überwinden, ihm eine Entschuldigung zu sagen.

Das war zu Beginn der Woche gewesen. Inzwischen hatte Jürgens, ob er wollte oder nicht, doch die neue Zentrifuge von der Bahn holen müssen. Sie wurde in der Milchkammer aufgestellt, und der Verwalter winkte Dörthe herzu.

Die kam gutmütig herangewackelt. In möglichst klaren, anschaulichen Worten setzte ihr der junge Herr von Staberow auseinander, daß die neue Maschine Zeit- und Butterersparnis bedeute, und wie man sie handhaben müsse. Nachdem er seinen Vortrag geschlossen hatte, sah er sie erwartungsvoll an.

»Je, dat is jo allens ganz schöning, äwerst dortau möt eins noch jung sein (aber dazu muß man noch jung sein). Wat so 'n oll ingeschrumpelter Minsch is als ick, der is nich mihr vor so niemodsche Sak (neumodische Sachen). Ick botter, wie ick dat noch bi min Großmodder selig lernt hew!«

Dabei blieb Dörthe, soviel auch der junge Herr mit seiner Überredungskunst Dörthes Großmutter selig aus dem Sattel zu heben versuchte.

Verzweifelt begab sich der arme Onkel Hans zu Frau Lisabeth. War denn nicht eine einzige verständige Frauensperson auf dem ganzen Hof?

Bei Mutting hatte der pflichttreue junge Mann einen Stein im Brett. Hier fand er auch endlich Gehör. Frau Lisabeth versprach ihm, selbst einen Versuch mit der neuen Zentrifuge zu machen. Schon nach wenigen Tagen war sie so begeistert von dem Erfolge, daß sie die Leitung der Molkerei nicht mehr aus den Händen ließ.

»Süh, Dirn, hatten wir je solch wohlschmeckende Butter? Ordentlich süß ist sie! Das kommt woll von der Grasfütterung. Und beinahe anderthalbmal soviel wie sonst, in knapp einem Viertel der Zeit!« Stolz wies sie Leni die auf den grünen Blättern goldig glänzenden Stücke.

Leni konnte der schlagenden Tatsache gegenüber nicht auf ihren Einwendungen bestehen, aber sie setzte keinen Fuß mehr in den Milchkeller.

Auch draußen auf den Stoppelfeldern, den Kartoffel- und Rübenäckern, wohin sie sonst ihre Spaziergänge mit Suschen zu richten pflegte, ließ sie sich nicht mehr blicken seit jenem harten Zusammenstoß mit dem Verwalter. Sie durchstreifte entweder mit den Gören die Wälder, oder sie saß auf der Bank unter den großen Sonnenblumen am Lehrerhäuschen neben dem greisen Mann mit dem schwarzen Samtkäppchen auf dem schlohweißen Haar. In der abgeklärten Ruhe des alten Herrn Kantors suchte der junge Brausekopf selbst ruhiger und friedfertiger zu werden. Sie gingen miteinander zu dem kleinen Gottesacker hinter dem Kirchlein, wo die gute Frau Kantor schon seit vielen Jahren in Frieden lag mit all ihren Lieblingsblumen, die sie einst gehegt und gepflegt hatte. Sprach dann der alte Herr voll stiller Wehmut: »So lange warte ich nun schon in Geduld, und noch immer holst du mich nicht,« so griff die junge Hand angstvoll nach der welken und klagte: »Herr Kantor, was sollt' denn wohl aus mir werden?«

Wenn aber aus den jungen Augen Tränen auf Vatings Efeu tauten – »Vating, ach, warum bist du von uns gegangen! Dann wär' alles anders« so glitt die alte, blaugeäderte Rechte beruhigend über den braunen Scheitel und tröstete: »Kind, versündige dich nicht! Denke an dein Mutting und die Geschwister; dir ist noch viel geblieben.« Dann kehrte Leni wohl getröstet und voll guter Vorsätze heim, aber sehr bald war's wieder damit vorbei.

Hans von Staberow blieb, seit er die Kündigung ausgesprochen hatte, keinen Abend mehr zu Haus, und auch bei den Mahlzeiten tat er, als ob Dornröschen nicht da sei. Er unterhielt sich mit Mutting, lachte und scherzte mit den Jungen, neckte Suschen und blickte voll Gemütsruhe über den braunen Mädchenkopf mit den trotzigen blauen Augen hinweg.

Er radelte, ritt, kutschierte und fuhr nach Staberow oder auf befreundete Güter. Jetzt, da die heiße Erntezeit vorüber war, lebte er wieder mehr seinen Neigungen und der Geselligkeit. Manchmal fuhr er schon gleich nach Tisch nach Rostock in den Landwirtschaftlichen Verein. Nie aber versäumte er es dabei, Karl Heinz Grüße von den Seinen zu bringen und wieder welche mit zurückzunehmen.

Was war aus den gemütlichen, anregenden Abenden geworden! Mutting saß wieder einsilbig bei der Arbeit oder Zeitung, und ihr Lening war meist noch einsilbiger. Die hatte weder Lust, den Goethe, noch den Shakespeare vorzunehmen, so oft Mutting auch die Tochter anzuregen suchte.

Am Sonntag durften die Gören stets eine Stunde länger aufbleiben. Sonst pflegten sie sich schon die ganze Woche über darauf zu freuen. Onkel Hans wußte allerlei Pfänderspiele; er ließ die Laterna-magika-Bilder auf einem Laken vorüberziehen und kannte die feinsten Kasperletheaterstücke. Aber jetzt war kein Onkel Hans mehr da. Dornröschen spielte wohl mit den Gören Lotto und Domino, aber das kannte man schon seit ewigen Zeiten, und dann war sie ja überhaupt auch gar nicht richtig vergnügt dabei.

»Is das tranig ohne Onkel Hans,« hatte Hänschen gähnend am ersten Sonntag geäußert. Am zweiten aber, als es noch »traniger« wurde, als Dornröschen sich nicht einmal herbeiließ, mitzuspielen und den ausgesetzten Hustenbonbon, den Fränzchen nur einmal ein klein bißchen ablutschen wollte, mit Argusaugen bewachte, fanden es die Gören noch viel »mopsiger«. Sie zogen es sogar vor, schlafen zu gehen.

»Ja, ja, der muntere Gesellschafter fehlt uns allen – was, mein Dirn?« sagte Mutting fragend zu Leni.

»Mir nicht die Spur!« Leni stieß auch nur die Möglichkeit dieses Gedankens weit von sich.

»Na, es ist ja dem fleißigen jungen Mann zu gönnen, daß er mal 'n büschen rauskommt. Du solltest auch nicht so einsitzen, mein Mädel. Bei Mieting warst du schon wer weiß wie lang' nicht.«

»Ach, die denkt jetzt doch woll nur an ihren Fritzing!«

»Morgen fährt der junge Staberow wieder nach Rostock; ich könnt' Karl Heinz die angestrickten Strümpfe mitschicken – was meinst du?« überlegte Mutting.

»Die Botenfrau macht das gerade so gut, und man braucht nicht erst ›Danke schön!‹ zu sagen. Überhaupt – ich finde es ungehörig, daß er morgen schon wieder den ganzen Nachmittag fort ist. Dazu brauchen wir schließlich doch keinen Verwalter, daß er überall wo anders, nur nicht auf Nedderdorf ist,« ereiferte sich Leni.

»Kind, ich glaube, wir können das ruhig dem Onkel Hans selbst überlassen. Der ist der letzte, der fortbleibt, wenn irgend was Wichtiges vorliegt.«

»Onkel Hans – es is nicht mein Onkel,« rief Dornröschen, gereizt, daß Mutting ihr Unrecht gab und dem Verwalter recht.

»Na, dann deine Tante! Geh schlafen, Kind! Schlechte Laune schläft man am besten aus.«

Lange saß Mutting noch beim Lampenschein über ihre Zeitung gebeugt. Aber sie las nicht. Sie dachte über ihre Leni nach, deren Seele sonst wie ein offenes Buch vor ihr gelegen hatte.

Was war mit dem Mädchen? So ungleich war es noch nie gewesen, selbst in der Zeit der ärgsten Überbürdung nicht. Bald mißmutig und unfreundlich, bald weich und zärtlich, als wolle es alles wieder gut machen. Was war aus der sonnigen, frischen Leni geworden?

Frau Sürsen war jetzt nicht mehr so rührig und tatkräftig wie unmittelbar nach der Besserung. Sie konnte wie ehedem stundenlang vor sich hinbrüten. Es jährte sich wieder der Tag jenes Jagdunglücks; da hatte sie besonders mit seelischem Niedergedrücktsein zu kämpfen.

Einige Tage danach saß sie mit Leni in der Geißblattlaube hinten im Garten, wo sie Preißelbeeren zum Einkochen verlasen. Suschen mit ihrem Strickzeug – aus dem schmutzig-grauen Seiflappen war inzwischen ein nicht viel andersfarbenes Strümpfchen geworden – hockte daneben.

Mutting sprach nicht. Nur ab und zu starrte sie minutenlang auf die roten Beeren in ihrer Hand und warf sie dann wie geistesabwesend wieder in den Korb zurück, aus dem sie sie eben genommen hatte.

Leni fing von diesem an und von jenem. Sie gab sich redlich alle Mühe, ihre Mutter zu zerstreuen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Da schwieg denn auch sie.

»Meine Däume tun so dölling weh; ich kann sie gar nicht mehr bewegen,« murrte die Kleine.

Leni, Suschens Lehrerin für deutschen Unterricht, vergaß völlig, sie zu verbessern. Sie war mit ihren Gedanken Muttings in vergangene Zeiten gerichtetem Blick gefolgt.

Ja, jener Tag – jener furchtbare Tag . . .

»Und meine Arme sind auch schon ganz steif von dem ollen Stricken; darf ich aufhören, Dornröschen?« Die kleine Schmeichelkatze schmiegte den Blondkopf an der Schwester Schulter.

Leni war in weicher Stimmung. Sie zog die vaterlose Lütte näher zu sich heran und küßte sie.

Da aber gellte ein Schrei durch die Luft.

»Waldemar!«

Der braune und der blonde Kopf fuhren jäh auseinander. Der Schrei war von Muttings Lippen gekommen. Mit schreckhaft weit geöffneten Augen saß diese da, die Hände, denen die Beeren entrollten, abwehrend ins Weite gestreckt.

Leni war bereits an ihrer Seite, um sie zu stützen.

»Um Himmels willen, Mutting, was is denn?«

»Dort« – Frau Lisabeth wies in der Richtung des Wohnhauses und verbarg schaudernd das erblaßte Gesicht in den Händen.

Über den Kiesplatz, der zu der Ahornallee ins Wäldchen führte, schritt ein blonder Mann im grünen Jägerwams, den Jagdhut keck in die Stirn gedrückt, die Flinte über der Schulter.

»Das ist ja der Onkel Hans,« jubelte Suschen und sprang hinter dem Jägersmann her.

»Sag ihm, er soll nicht gehen – bitt ihn zu bleiben – ich kann's nicht ertragen!« Frau Lisabeth brach in einen Weinkrampf aus.

Leni zögerte, die Mutter in dieser Aufregung allein zu lassen.

»So geh doch – ist es an einem Unglück noch nicht genug?« drängte Mutting heftig.

Jetzt lief Leni, leichtfüßig wie ein Reh, den Gartenpfad hinab. Sie dachte nicht daran, daß der Verwalter seit Tagen nicht mit ihr gesprochen hatte; sie war ganz beseelt von dem Wunsch, ihr Mutting zu beruhigen.

Onkel Hans hatte die Kleine an die Hand genommen. Da legte es sich leicht auf seinen Arm. Als er sich umwandte, blickte er in das verstörte Mädchenangesicht.

»Gehen Sie nicht – ach bitte, bleiben Sie hier! Mutting regt sich so furchtbar auf – in dieser Woche werden es gerade zwei Jahre, daß Vating nicht wieder kam von der Jagd . . .« die Stimme versagte ihr.

»Gehen Sie nicht – ach, bitte, bleiben Sie hier!«

»Aber Onkel Hans will uns doch Rebhühner mitbringen,« rief Suschen eifrig.

»Onkel Hans geht nicht – es tut mir sehr leid, daß ich bei Ihrer Frau Mutter und Ihnen traurige Erinnerungen heraufbeschworen habe,« sagte er ernst.

Dornröschen zauderte noch einen Augenblick. Dann reichte sie ihm so plötzlich, wie sie ihm einst die häßlichen Worte entgegengeschleudert hatte, die Hand zur Versöhnung.

»Bitte, seien Sie nicht mehr böse,« und – da war sie auch schon davongelaufen, ohne sich umzusehen.


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